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"Er war überzeugter Genosse"

Sie hat sich seit Januar glatt verdoppelt - die Zahl derjenigen, die einen Antrag auf Einblick in Stasiunterlagen eingereicht haben. Oft sind es Kinder oder Angehörige von Verstorbenen, die wissen wollen: Was geschah damals wirklich? Wo stand meine Familie? Und dabei, manchmal schmerzlich, ihre eigene DDR-Vergangenheit neu begreifen lernen.

Von Susanne Arlt |
    Schadeleben. Ein 700-Seelen-Dorf. Idyllisch gelegen an einem See. In der Dorfmitte betreibt Holger Reinäcker eine Metallbaufirma. Nach der Wiedervereinigung verlor der Ingenieur seinen Job. Doch aus Schadeleben wegzuziehen, kam für ihn nicht infrage. Schließlich stammen schon sein Vater und Großvater aus dem Dorf. Der heute 53-Jährige machte sich stattdessen selbstständig. Und engagiert sich seitdem im Gemeinderat.

    Nach der Wiedervereinigung haben wir nach vorn geschaut, nicht zurück, erinnert sich Holger Reinäcker. Die DDR, das System, die Stasi - "wir waren alle froh, das hinter uns lassen zu können." Schon vor dem Mauerfall trat er in die sozialdemokratische SDP ein. Sein Vater war schon immer offen ein Gegner der SED-Diktatur gewesen. Lange wollte der Sohn aber nichts davon wissen, ob womöglich Nachbarn den Vater bespitzelten:

    "Zum einen hatte man genügend zu tun in der Nachwendezeit. Und zum anderen muss ich ehrlich sagen, war mir bewusst, dass man mit diesem Thema höllisch was lostreten kann. Das haben wir damals vermieden. Weil man jeden kennt. In diesem Ort lebt man sein Leben lang zusammen. Man möchte mit seinen Nachbarn Frieden halten."

    Holger Reinäcker aber hat sich in den vergangenen 22 Jahren verändert. Härter sei er geworden, ein Erbe der Ellenbogengesellschaft, sagt der 53-Jährige achselzuckend. Bei der Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde in Halle hat er jetzt Einsicht in die Unterlagen seines verstorbenen Vaters beantragt.

    Der sei ein aktiver Gegner des politischen Systems gewesen, sagt Reinäcker. Sei nie zur Wahl gegangen. Auch nicht, wenn man Druck auf ihn ausübte und Bezirksvertreter mit der Wahlurne vor seiner Haustür standen. Am Tag des Volksaufstands am 17. Juni 1953 versuchte er, befreundete Bauern aus dem Dorf zum Mitmachen zu bewegen.

    "Ich weiß von meinem Vater, dass er Stimmung im Dorf machen wollte. Und ich weiß, wer hier diese, na ja, ich sage mal in Anführungsstrichen, diese 'DDR-Freunde' gewesen sind. Und das würde ich ganz einfach schriftlich bestätigt kriegen, ob da was dran ist oder ob da nichts dran ist."

    Ihm gegenüber am Wohnzimmertisch sitzt seine Ehefrau, hört still zu. Auch sie stammt aus Schadeleben, so wie ihre Eltern und Großeltern. Fast jeder im Dorf kennt die ehemalige Lehrerin. Über den Entschluss ihres Mannes ist sie nicht glücklich, hat ihm sogar davon abgeraten:

    "Also ich habe zu ihm gesagt: Was nun gewesen ist, ist ja nun vorbei. Und ich bin eigentlich der Meinung, wenn man solche Dinge nun noch mehr erfährt - vielleicht auch über Menschen, denen man vertraut hat - dann ist das auch schmerzhaft."

    Halle an der Saale. Die Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde in der Blücherstraße residiert an einem geschichtsträchtigen Ort: dem Sitz der ehemaligen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit. Uta Leichsenring leitet die Außenstelle. Sie hat festgestellt, dass vor allem Kinder, aber auch Enkelkinder, zunehmend wissen wollen, ob ihre verstorbenen Angehörigen in die Aktivitäten des DDR-Geheimdienstes verstrickt oder davon betroffen waren.

    Seit die Bedingungen dafür Anfang Januar erleichtert wurden, hat sich die Anzahl der Anträge verdoppelt. Über das Thema Staatssicherheit sei in den Familien nur selten geredet worden, sagt Uta Leichsenring. Doch oft spielten die Brüche im Leben der Eltern auch eine nachhaltige Rolle im Leben der Kinder.

    "Dass sie dann irgendwann doch sagen, also ich möchte die Klarheit schon lieber haben. Teils für den eigenen Seelenfrieden, teils, weil doch für viele die Klarheit und die Wahrheit, auch wenn sie vielleicht schmerzlich ist, wichtiger ist, als dieses nicht wissen wollen und das Verdrängen."

    Martin Brandt sitzt in seinem Wohnzimmer in Krumpa. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Aktenordner, dünn bestückt. In einer Klarsichtfolie steckt der Antrag auf Akteneinsicht in die Stasiunterlagen seines verstorbenen Vaters.

    "Er war überzeugter Genosse","

    sagt Martin Brand über seinen Vater Walter. Allerdings eröffnete die SED Anfang der 60er-Jahre ein Parteiverfahren gegen ihn. Das sei damals kein Pappenstil gewesen. Darüber gesprochen habe sein Vater aber nie. Erst Ende der 70er-Jahre erfuhr der Sohn davon aus dem Nachlass. Als er dann von der Novelle des Stasiunterlagengesetzes hörte, hat er sofort den Antrag auf Akteneinsicht gestellt. In seiner Familie habe er dafür viel Rückhalt bekommen, manche Freunde und Nachbarn aber sähen das anders:

    ""Da gibt es viel geteilte Meinungen. Die einen sagen, ich will das gar nicht wissen, und manche sind total dagegen. Lass doch die alten Geschichten. Oder was erwartest du dir davon. Ja, also ich erwarte eben nur Aufklärung, dass ich das selber dann verarbeiten kann. Es ist ja meine Vergangenheit und die meiner Familie. Da möchte man doch schon wissen, was war."

    Martin Brandt sagt über sich, dass auch er lange Zeit überzeugter Genosse und Mitglied der SED gewesen sei. Erst in den 80er-Jahren habe er angefangen, die DDR klammheimlich zu hinterfragen. Heute sagt er auch in der Öffentlichkeit: Jede Diktatur bringt nur Unheil. Doch erst wer seine eigene Geschichte kennt und die seiner Familie versteht, der kann die Wahrheit auch glaubwürdig vertreten.

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