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"Er will die russische Vorherrschaft"

Aus den Präsidentenwahlen in Russland im März 2012 könnte Wladimir Putin als Sieger hervorgehen. Schon jetzt hat er angekündigt, dann eine "Eurasische Union" gründen zu wollen. In vielen Nachbarländern lässt diese Nachricht die Alarmglocken schrillen - auch in Weißrussland.

Von Gesine Dornblüth |
    Abends in der Bahnhofshalle von Orscha im Osten Weißrusslands. Es ist der letzte Bahnhof vor der russischen Grenze. Über der Bar im Wartesaal hängt ein Schild: "Weißrussische Waren sind die besten." Es wirkt wie Hohn. Weißrussland steckt tief in der Wirtschaftskrise, und immer mehr Menschen sind gezwungen, ihr Geld in Russland zu verdienen. Auf der Anzeigetafel stehen gleich vier Züge nach St. Petersburg und Moskau. Sie fahren über Nacht. Die Reisenden werden morgens pünktlich zum Arbeitsbeginn am Ziel sein.

    Wiktor Iwaschkewitsch lebt in Minsk. Seine Frau arbeitet in Tschechien, sorgt für ihr gemeinsames Auskommen. Das verschafft ihm die Möglichkeit, sich zuhause politisch zu betätigen. Er organisiert Volksversammlungen in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Im Vorfeld hat Iwaschkewitsch mit Hunderten Mitbürgern diskutiert: über ihre Nöte, über die Wirtschaftslage, über eine mögliche Anbindung an Russland.

    "Die Leute fahren zum Arbeiten nach Russland, weil sie keinen anderen Weg sehen, ihre Familie zu versorgen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie dafür wären, Weißrussland Russland anzugliedern oder das Bündnis zwischen beiden Staaten auf andere Art und Weise auszubauen. Im Gegenteil: Die meisten Menschen wollen eine engere Anbindung an die EU. Sie wollen aber gleichzeitig gute Beziehungen zu Russland erhalten. Denn Russland ist unser Nachbar, und ein diplomatischer oder ein Wirtschaftskrieg würde unserem Land großen Schaden zufügen."

    Umfragen zufolge sind die meisten Weißrussen für die nationale Souveränität ihres Staates, berichtet auch Vladimir Matzkiewitsch. Der Philosoph ist einer der Gründer von Eurobelarus, einem unabhängigen Thinktank, in Minsk.

    "Putin wird ein drittes Mal an die Staatsspitze kommen. Und während seiner dritten Präsidentschaft wird er seine, wie er es sieht, 'historische Mission' verwirklichen: Er will die russische Vorherrschaft im postsowjetischen Raum wiederherstellen und die ehemaligen Sowjetrepubliken wieder integrieren. Der Kreml verbreitet dazu, dass die weißrussische Nation nach einer Vereinigung mit Russland dürstet. Das stimmt aber nicht. Wir haben uns in den letzten Jahren von Russland emanzipiert."

    Tatsächlich ist es so, dass Präsident Lukaschenko, seit er Weißrussland regiert, also seit 17 Jahren, immer einen Schlingerkurs gegenüber Russland gefahren ist. 1996 gründeten beide Staaten eine Staatenunion. Es war der Höhepunkt der weißrussisch-russischen Freundschaft. In Russland regierte damals Boris Jelzin. Beide Präsidenten konnten gut miteinander. Lukaschenko, der jüngere von beiden, hoffte damals offenbar auf persönliche Vorteile, erläutert Matzkiewitsch von Eurobelarus.

    "Lukaschenko hat lange davon geträumt, als Oberhaupt einer neuen Staatenunion in den Kreml einzuziehen. Er hat das als seine Mission gesehen: eine Art Sowjetunion wiederherzustellen. Jetzt hat Putin diese Mission für sich entdeckt. Für Lukaschenko ist da kein Platz mehr. Deshalb hat er kein Interesse mehr an einer politischen Union."

    Putin seinerseits hat Lukaschenko schon mehrfach spüren lassen, wer der Stärkere ist. Er ließ die Energiepreise für Weißrussland erhöhen – ein beliebtes Machtmittel der russischen Politik. Vor knapp zwei Jahren zwang er Lukaschenko so dazu, nach der Staatenunion mit Russland auch noch einer Zollunion mit Russland und Kasachstan beizutreten – einer Vorstufe zu der von Putin angestrebten Eurasischen Union.

    Wladimir Skworzow leitet die Analyseabteilung im weißrussischen Außenministerium. Er beteuert, Weißrussland werde auch künftig seine Souveränität wahren. Wieder eine Art Sowjetunion zu schaffen, sei unmöglich, so Skworzow.

    "Natürlich ist Putin für engere Integration mit anderen Ländern, die auf dem postsowjetischen Raum liegen. Aber in der Form ist ... Keiner denkt ernsthaft, dass das möglich ist, sowohl in Russland als auch außerhalb. Die Länder haben sich schon selbstständig entwickelt, sie haben ihre Souveränität, und sie legen auch viel Wert darauf."

    Doch die Verhandlungsposition Moskaus wird immer stärker. Die Wirtschaftskrise in Weißrussland spitzt sich weiter zu, dem Land droht der Staatsbankrott. Lukaschenko steht mit dem Rücken zur Wand. Um dem Druck aus Moskau zu widerstehen, benötigt er die Unterstützung der EU. Um die zu erhalten, müsste er sein Regime lockern – und darauf deutet zurzeit nichts hin.

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