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Erasmus+ und Jugendarbeit
"Diese Projekte tragen dazu bei, dass sich Menschen verändern"

Die Jugendbildungsstätte Berchum in Hagen organisiert regelmäßig Projekte, in denen junge Menschen aus ganz Europa zusammen kommen, um über Demokratie zu diskutieren - gefördert von Erasmus+. Die Initiatoren sind sich sicher: Die Projekte können nicht nur Sichtweisen verändern - sondern auch Lebenswege.

Von Dirk Groß-Langenhoff |
    Scharze Schrift auf weißen Untergrund: Dort steht in englischer Sprache. Es schwer Rassismus zu sehen, wenn man weiß ist.
    Jugendarbeit im "East West East"-Projekt: Ergebnis eines Streetart-Workshops gegen "Hate Speech" (Paul Gaffron)
    Etwa 15 Jugendliche gestalten verschiedene Flip-Chart-Bögen. Auf den Postern geht es darum, wie sich Demokratie und Meinungsfreiheit in ihren Heimatländern in den vergangenen fünf Jahren verändert haben. Das Ergebnis ist teilweise ernüchternd. Direkt neben einem jungen Mann aus der Ukraine sitzt eine junge Frau aus Russland.
    Sie diskutieren friedlich darüber, was in ihren Ländern besser laufen könnte: Während er die Korruption als Hauptproblem in der Ukraine ausgemacht hat, sieht sie in Russland auch Defizite bei den Menschenrechten.
    "Nach der Verfassung Russlands haben wir viele Möglichkeiten und Menschenrechte natürlich, aber in Wirklichkeit ist die Situation eine andere. In Russland hatten wir Nawalny-Protest. Und das war nicht so gut. Die Regierung sagt, dass dieses Protest war illegal. Und ja, Nawalny jetzt ist im Gefängnis."
    Neue Sichtweisen kennenlernen, eigene Standpunkte vertreten
    Viele russische Jugendliche würden Nawalny bei seinem Kampf gegen die Korruption unterstützen, da ist sich sie sicher. Doch viele hätten Angst, ebenfalls verhaftet zu werden. Die junge Russin nimmt an dem Erasmus+-Projekt teil, weil sie über den Tellerrand hinausschauen möchte. Sie hat das Gefühl, sich in ihrem Heimatland nicht objektiv informieren zu können. Und sie will sich mit Jugendlichen aus anderen Ländern austauschen. Und genau das sei auch der Zweck des Projektes, sagt Paul Gaffron. Er begleitet und organisiert pro Jahr zahlreiche solcher Austausch-Programme im Rahmen von Erasmus+.
    "Es finden keine Vorlesungen statt, sondern Workshops: beispielsweise Theaterworkshops, die entwickeln Songs. Die machen gewaltfreie Kommunikation und ähnliche Sachen, lernen sie im Prozess dieser einen Woche, die wir dann Ende Juli hier haben werden."
    "Stand Your Ground" – so lautet der Titel des Treffens. Denn Arbeitssprache ist Englisch. "Stand Your Ground" – das heißt so viel wie: Bleib bei deiner eigenen Meinung, mache deinen Standpunkt klar. Gerade in Zeiten, in denen in Europa nationalistische Populisten an die Macht kommen wollen oder bereits an der Macht sind, ist das nicht immer so einfach. Einige Staaten schauen genau hin, was ihre Jugendlichen im Ausland machen.
    "Das ist etwas ganz anderes, als wenn man sich das im Fernsehen anguckt"
    "Also, bei einem Projekt vor zwei Wochen hat die türkische Gruppe die Ausreise erst einen Tag vorher bewilligt bekommen und musste dann noch Tickets kaufen. Das sind natürlich alles so Dinge, die Sachen erschweren. Aber es gibt auch in allen Ländern demokratisch eingestellte Jugendliche und vor allem junge Leute, die sich nicht von den alten bestimmen lassen wollen."
    Die Brexit-Entscheidung in Großbritannien habe gezeigt, was fehlende politische Bildung unter Jugendlichen anrichten kann, sagt Paul Gaffron. Auch für die deutschen Teilnehmer ist der Austausch in Hagen spannend. Anna Beisheim aus Iserlohn war überrascht, wie sehr die Meinungs- und Pressefreiheit in einigen europäischen Ländern eingeschränkt ist.
    "Zum Beispiel: Wikipedia ist in der Türkei verboten. Das wusste ich überhaupt nicht. Und über Rumänien, damit hatte ich mich bisher auch nicht so richtig auseinandergesetzt. Das ist wirklich interessant sich das von den Leuten die aus dem Land kommen, das noch mal anzuhören. Das ist was ganz anderes, als wenn man sich das im Fernsehen anguckt. Dann hat man so eine Distanz dazu. Da kann man wirklich was von lernen, wenn Leute einem das direkt erzählen."
    Fördermittel-Antrag bedeutet Aufwand – aber es lohnt sich
    Ohne Erasmus+ wäre dieser Austausch von Erfahrungen und Meinungen wohl kaum möglich. Der Jugendbildungsstätte in Berchum würde ohne die Fördermittel der Europäischen Union das Geld für ein so internationales Projekt fehlen. Paul Gaffron muss zwar Anträge schreiben, die teilweise 40 DIN-A4-Seiten umfassen, aber er findet, dass sich diese Arbeit lohnt.
    "Der Aufwand ist relativ groß, um so ein Projekt bewilligt zu bekommen. Aber das sind auch Größenordnungen, die man an Zuschüssen bekommt, dass muss auch schon sauber laufen und man muss an der Stelle auch schon einen sehr qualifizierten Antrag schreiben."
    Internationale Projekte verändern Einstellungen – und Lebenswege
    Paul Gaffron würde sich wünschen, dass noch mehr Jugendbildungsträger Projekte im Rahmen von Erasmus+ anbieten würden – nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Denn die Jugendlichen seien großartige Multiplikatoren, die ihren Familien und Freunden davon erzählten, was sie in den Workshops gelernt haben.
    "Ich weiß von vielen jungen Menschen für die waren diese Projekte ein totaler Bruch mit ihrem Leben vorher. Es gibt viele Leute, die sagen: Ich bin ein anderer Mensch geworden dadurch, dass ich mehr erkannt habe, was in meiner Gesellschaft los ist und was ich eigentlich tun müsste. Das ist das Entscheidende, dass diese internationalen Projekte dazu beitragen, dass Menschen sich verändern."
    Wer als deutscher Jugendlicher auch mal gerne einem Erasmus+-Projekt teilnehmen möchte, kann sich allerdings nirgendwo dafür zentral bewerben. Die meisten Teilnehmer sind dabei, weil sie schon bei bestimmten Organisationen engagieren. Auf der Internetseite rausvonzuhaus.de, auf der möglichen Wege ins Ausland beschrieben sind, tauchen allerdings auch immer mal wieder Last-Minute-Plätze in Erasmus+-Projekten auf.