Arndt Reuning: Die erste Genmanipulation am Menschen hat viele überrascht. Auch Wissenschaftler hatten nicht damit gerechnet, als im November letzten Jahres die Nachricht um die Welt ging. Ein chinesischer Genforscher hatte das Erbgut zweier Mädchen verändert mit der Genschere Crispr/Cas. Was folgte, war ein Aufschrei der Empörung, aber dann wurde es wieder ruhig. Nun gibt es anscheinend einen zweiten Fall. Ein russischer Forscher will ebenfalls Embryonen genetisch manipulieren. Nach einigen Spekulationen hat der Genforscher Denis Rebrikov nun gegenüber der Zeitschrift New Scientist genaue Pläne vorgelegt. Er will verhindern, dass Kinder gehörlos werden und hat bereits fünf Elternpaare ausgewählt, die in die Manipulation eingewilligt haben. Mein Kollege Michael Lange hat sich die Pläne angeschaut. Michael, diesmal bleibt der Aufschrei aus. Ist die Genmanipulation am Menschen schon normal?
Michael Lange: Nein, Genmanipulation ist nicht normal geworden, diesmal ist sie aber nicht im Geheimen und nicht überraschend. Denis Rebrikov arbeitet am führenden Zentrum für Geburtshilfe und Reproduktionsmedizin in Moskau. Er hat seine Pläne öffentlich gemacht und will seinen Versuch offiziell genehmigen lassen.
Reuning: Was genau hat der russische Genforscher vor?
Lange: Rebrikov will verhindern, dass Kinder gehörlos auf die Welt kommen. Dafür hat er fünf Paare aus West-Sibirien ausgewählt, bei denen beide Partner absolut gehörlos sind. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent wären alle ihre Kinder ebenfalls gehörlos. Denn diese würden zwei defekte Gene besitzen, die gehörlos machen: eines von der Mutter und eines vom Vater. Denis Rebrikov will die verantwortliche Mutation im Embryo nach einer künstlichen Befruchtung genetisch "reparieren". Dazu reicht es, einen genetischen Buchstaben in einem Gen auszutauschen. Doch diese Reparatur muss äußerst exakt sein.
Reparatur anspruchsvoller als Zerstörung
Reuning: Was unterscheidet diesen Versuch von dem umstrittenen Experiment in China, das voriges Jahr bekannt wurde?
Lange: In China wurde Schutz vor dem Aids-Erreger HIV ins Erbgut von Embryonen eingebaut. Hier war ein Elternteil mit HIV infiziert, weshalb die betreffenden Kinder ein erhöhtes Risiko einer HIV-Infektion hatten. Doch war es nicht notwendig, denn es gibt alternative Methoden zum Schutz vor HIV. Im aktuellen Fall ist das anders: Die Genmanipulation bietet Schutz vor Gehörlosigkeit und es gibt keine Alternative für diese fünf Paare, um hörende Kinder zu bekommen. Allerdings ist der Ansatz in Russland komplizierter, in China wurde eine Funktion bei Embryonen zerstört, in Russland hingegen soll ein defektes Gen repariert werden. Die Reparatur einer einzelnen Base ist anspruchsvoller als die Zerstörung eines Gens.
Reuning: Wie reagieren andere Genforscher auf den Vorstoß ihres russischen Kollegen?
Lange: Selbst Befürworter der Methode warnen vor Risiken, denn die Genschere schneidet manchmal zusätzlich an falscher Stelle. Außerdem weisen Experimente an Tieren und Zellkulturen auf ein mögliches Krebsrisiko hin. Deshalb sollte die Genschere nur bei schweren Krankheiten, Lebensgefahr oder schwerer Behinderung eingesetzt werden. In einem guten Umfeld und mit guter Versorgung ist Gehörlosigkeit keine "schwere" Behinderung und viele Gehörlose finden einen aktiven Platz in der Gesellschaft. Daher halten Kritiker das Risiko einer Genmanipulation in diesem Fall nicht gerechtfertigt.
Reuning: Der russische Forscher hat ja seine Absichten öffentlich dargelegt und will offiziell eine Genehmigung beantragen. Gibt es eine Form der Kontrolle?
Lange: Viele Wissenschaftler fordern einen internationalen "Forschungsstopp". Bisher gibt es jedoch keine Einigung. Eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellt gerade Richtlinien für Gen-Manipulation, diese sind noch in Arbeit. Für eine mögliche Zulassung Rebrikovs Vorhabens sind derzeit allein russische Behörden zuständig. Die Entscheidung ist noch offen.