Die Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion haben Zerstörungen katastrophalen Ausmaßes verursacht und bisher zehntausende Opfer gefordert. Während in Trümmern die Suche nach Überlebenden immer aussichtsloser wird, mehrt sich in der Türkei Kritik am Krisenmanagement.
Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte bei einem Besuch in betroffenen Gebieten "Defizite" eingeräumt, aber auch betont, es sei nicht möglich, "auf so ein Erdbeben vorbereitet zu sein". Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu zog hingegen auch die Politik in Mithaftung. "Dieser Zusammenbruch ist genau das Ergebnis einer systematischen Profitpolitik“, sagte er nach Angaben der ARD. Betroffene klagen indes weiter über schleppende Hilfe.
Mutmaßliche Twitter-Sperre
Kritik gibt es auch am medialen Umgang mit der Katastrophe. Nach Angaben des Internet-Beobachtungsdiensts Netblocks war der Zugang zu Twitter zum Zeitpunkt von Erdogans Besuchs in den Erdbebenregionen eingeschränkt. Mittlerweile sei der Kurznachrichtendienst in der Türkei aber wieder uneingeschränkt erreichbar, so Netblocks. Von offizieller Seite gab es für die Sperrung zunächst keine Bestätigung.
Viele Nutzerinnen hatten Twitter für die Suche nach Hilfe genutzt, aber auch ihren Unmut über das Katastrophenmanagement geäußert und eine Untätigkeit der Regierung bemängelt. Die Plattform spiele neben Instagram eine wichtige Rolle als Kommunikationsmedium in der Türkei, meint Erkan Arikan, der Leiter der Türkei-Redaktion bei der Deutschen Welle. Zu den Twitter-Ausfällen gebe es noch keine gesicherten Informationen, aber es sei durchaus möglich, dass es seitens der Regierung eine Drosselung oder Sperrung gegeben habe.
Kritik an „Desinformations-App“
Als besonders problematisch bewertet der Journalist auch eine vom Kommunikationsdirektor der türkischen Regierung, Fahrettin Altun, vorgestellte Applikation, mit der Nutzerinnen Desinformation melden sollen. Hier sollen „verdächtige/gefälschten Nachrichten, die über die Erdbebenkatastrophe produziert und verbreitet werden“ eingereicht werden, wie Altun bei Twitter mitgeteilt hatte.
Arikan spricht hier von einer „Denunzierungs-App“: „Jeder, der nach seinem Empfinden eine Falschinformation sieht, soll diese Person über diese Applikation denunzieren.“
Hintergrund der App ist ein im vergangenen Jahr verabschiedetes Gesetz zur „Bekämpfung von Desinformation“, das von der türkischen Opposition und vielen Medien scharf kritisiert worden war. Sie hatten der Türkei diesbezüglich vorgeworfen, den Kampf gegen Desinformation für eigene Zwecke zu missbrauchen. Die „Washington Post“ etwa wertete das Gesetz als „Freibrief für die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung“.
Kampf um die Deutungshoheit
Tatsächlich hatte Erdogan schon kurz nach den Erdbeben vor Fake News gewarnt: Man verfolge aufmerksam „diejenigen, die unser Volk mit falschen Nachrichten und Verzerrungen gegeneinander ausspielen wollen.“ Über 200 Internetuser sollen laut Innenministerium "provokante Beiträge" im Zusammenhang mit dem Erdbeben gepostet haben, heißt es auf der Website des Ministeriums.
Erdbeben in der Türkei: der Kampf um die Nachrichtenhoheit
Tatsächlich kursieren nach dem Erdbeben in den Sozialen Netzwerken auch Falschmeldungen, wie der ARD-Faktenfinder recherchiert hat. So stamme etwa das Video einer angeblichen Explosion eines türkischen Kernkraftwerks in Wahrheit aus dem Libanon. Auch andere Mythen seien im Umlauf.
Vieles, was die türkische Regierung als Falschinformation bewerte, sei aber gar keine, nach Ansicht von Erkan Arikan. „Die Menschen vor Ort sind ja vor Ort, machen Videos und zeigen mit ihren Kameras die Situation. Und das soll natürlich nicht in den sozialen Medien publik gemacht werden.“
Arikan: Ausländischen Medien als "Korrektiv"
Daneben wolle Erdogan den Fokus weg von den steigenden Todeszahlen und hin zu einem positiven Narrativ lenken, indem sich türkische Medien auf Rettungsaktionen konzentrieren sollten. 95 Prozent der Medien in der Türkei seien mittlerweile gleichgeschaltet, schätzt Arikan.
Daher sind ausländische Medien wie die Deutsche Welle aus Sicht des Türkei-Redaktionsleiters besonders wichtig: Ohne sie sei eine objektive Berichterstattung nahezu ausgeschlossen, die ausländischen Journalistinnen seien eine Art Korrektiv: „Wir zeigen wirklich das, was man hier auch sieht und das, was man hier auch zeigen muss.“