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Kommentar zu Syrien und Türkei
Es braucht eine Erdbeben-Diplomatie

Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien wirft ein Schlaglicht auf ein geopolitisches Fadenkreuz: Die Region ist Schauplatz zahlreicher Konflikte. Die Machthaber müssen ihre Interessen zurückstellen - damit die Hilfe im Katastrophengebiet ankommt.

Ein Kommentar von Thilo Kößler |
Rettungskräfte besteigen ein Flugzeug
Schweizer Rettungskräfte auf dem Weg ins türkische Katastrophengebiet. Deren Arbeit muss in der von zahlreichen Konflikten gezeichneten Region absolute Priorität haben, findet Thilo Kößler. (picture alliance / Keystone / Michael Buholzer)
Im Angesicht dieses verheerenden Erdbebens sind alle gleich: die Opfer, die Hinterbliebenen, die Überlebenden, die Hoffenden. Auf beiden Seiten gibt es Angst vor weiteren Beben. Und überall ist der Ruf nach schneller Hilfe zu hören.
Und doch sind in der Not nicht alle gleich. Das Katastrophengebiet verläuft entlang der Grenze zwischen Krieg und Frieden, es ist eine Hunger- und Armutsgrenze zwischen dem Süden der Türkei und dem Norden Syriens. Syrien ist seit fast zwölf Jahren Schauplatz eines blutigen Bürgerkrieges, der für sich allein schon unermessliches Leid gebracht hat.
Die Unterschiede sind evident: In der Türkei konnten die Rettungsmaßnahmen umgehend anlaufen und koordiniert werden. Viele Opfer wurden bereits geborgen, viele Verletzte versorgt. Im Norden Syriens fehlt es hingegen am Nötigsten: an professionellen Helfern, an Gerät, an Krankenhäusern, an Ärzten.

Eine geopolitische Herausforderung

Das Erdbeben schlug zudem wie ein Blitz im Epizentrum eines internationalen Krisenherdes ein – es wirft ein Schlaglicht auf ein geopolitisches Fadenkreuz, in dem nicht nur die Türkei und Syrien die Fäden ziehen. Der jahrzehntealte Krisenbogen reicht vom Mittelmeer bis in den Irak und den Iran.
Die Region ist Schauplatz eines vielfachen Stellvertreterkrieges: zu viele Mächte, zu viele Akteure, zu viele Interessen, zu viele Widersprüche. Deshalb stellt dieses Erdbeben Hilfsorganisationen und die internationale Politik gleichermaßen vor unfassbare Herausforderungen.
Da ist die Türkei: Erdogan rief die Nato um Hilfe – und strapaziert seit Monaten deren Geduld, weil er sich gegen den Beitritt Schwedens sperrt. Der türkische Staatschef droht mitten im Wahlkampf immer wieder mit dem Einmarsch in die jetzt besonders betroffenen Kurdengebiete im Norden Syriens, die für ihn nur ein Sammelbecken des Terrors sind.
Da ist Syriens Diktator Assad, der im Verbund mit Russland die Rebellen im Norden des Bürgerkriegslandes bekämpft. Wladimir Putin hat dort sein Testgelände für den Krieg in der Ukraine gefunden. Und auch Israel hat dort seine ureigenen Interessen – es bekämpft die Stellungen der Hisbollah. Denn auch der Iran führt seinen eigenen Stellvertreterkrieg in Syrien.

Ein Hexenkessel aus Krieg und Gewalt

Die Helfer aus aller Welt sehen sich also nicht nur mit einer humanitären Katastrophe konfrontiert. Sie begeben sich auch in einen Hexenkessel aus Krieg und Gewalt. Entscheidend wird sein, ob die Türkei auch Rettungskräfte in den Kurdengebieten unterstützt. Und ob Assad den Weg für die Hilfe in den Rebellengebieten freimacht.
Die Flughäfen und Grenzen müssen geöffnet werden, damit die Helfer, das Rettungsgerät, die Hilfsgüter dorthin kommen, wo sie gebraucht werden. Die Hilfe für die Menschen hat jetzt absolute Priorität.
Doch gleichzeitig muss verhindert werden, dass die Despoten und Autokraten der Region dieses Desaster für sich und ihre Machtinteressen nutzen. Das wäre eine weitere politische Katastrophe inmitten dieser humanitären Katastrophe.