Die drei Vorgaben "Drop, Cover, Hold On" kennt in Kalifornien jedes Kind. Erdbebenalarmübungen sind fester Bestandteil des Stundenplans. Rufen Lehrerin oder Lehrer diese Worte, wissen alle Schüler, was zu tun ist: auf die Knie und Hände stützen, unter einem Tisch Schutz suchen und warten, bis Entwarnung gegeben wird. Doch häufig werden sie zu schnell von den Erdstößen überrascht. Ein wenig Zeit verschaffen will ihnen Richard Allen - mithilfe von ShakeAlert.
"ShakeAlert is earthquake early warning", erklärt er.
ShakeAlert ist ein Erdbebenfrühwarnsystem für die Westküste der USA. Die Idee ist, dass seismische Stationen die ersten Erdstöße wahrnehmen und dann Menschen schnell und zeitnah warnen, hoffentlich noch, bevor das Beben bei ihnen angelangt ist.
Wertvolle Sekunden gewinnen
Die Idee ist simpel, sagt der Direktor des UC Berkeley Seismology Lab. Hat man ein engmaschiges Netz an Sensoren in den betreffenden Gebieten, können diese bei einem Beben die Erdstöße registrieren und Warnungen senden. Da die Warnungen mit Lichtgeschwindigkeit durch die Glaserfasernetze oder als Funkwellen gesendet werden, sind sie schneller als die Erdstöße - und verschaffen den Gewarnten wertvolle Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen. Das betrifft auch Richard Allens Labor, denn mitten durch den Campus zieht sich die Hayward-Verwerfungszone - ein Risikogebiet, in dem das nächste schwere Erdbeben in nicht allzu ferner Zukunft erwartet wird.
"Wir reden hier über ein paar Sekunden, im Idealfall bleibt eine Minute, aber eigentlich sind es nur ein paar, vielleicht zehn Sekunden - von der ersten Warnung bis zum Erdstoß."
Die meisten Sensoren sind im Boden oder auf der Erdoberfläche angebracht. Die Universität von Kalifornien in Berkeley kümmert sich um rund 100 Messstationen. Das ist aber nur ein Teil der seismischen Infrastruktur, so Richard Allen. Zusammen mit den Stationen des Amerikanischen Geologischen Dienstes USGS und denen anderer Forschungseinrichtungen rufen die Wissenschaftler permanent Daten von rund 800 Stationen ab. Binnen Sekunden laufen die Informationen zusammen, werden ausgewertet und können Warnungen rausgeben.
"Das Projekt ShakeAlert ist schon angelaufen, wir messen regelmäßig Erdbeben und geben Warnungen raus - aber nur an Testnutzer, dazu gehört auch das Bahnsystem BART, die Allgemeinheit ist noch nicht eingebunden. Unser Ziel ist, dass wir 2018 den ersten Schritt in die Öffentlichkeit wagen und etwa Lehrer die ganze Westküste lang diese Warnungen erhalten.
Smartphone als "tragbares Seismometer"
Somit werden nicht nur Züge rechtzeitig abgebremst, sondern auch Lehrer informiert, um ihre Schüler zu warnen. ShakeAlert ist jedoch noch nicht als App zum Download verfügbar, zudem funktioniert das System nur in Gegenden, in denen es viele und gut vernetzte Messstationen gibt. Das ist global betrachtet jedoch nicht überall der Fall. Als 2015 in Nepal die Erde gewaltig zu beben begann, hatten dies lediglich eine Handvoll Messstationen registriert, gewarnt werden konnten nur wenige Menschen - für mehr als 7.900 kam jede Hilfe zu spät. Das seismologische Labor in Berkeley verfolgt daher einen zweiten Ansatz, sagt Qingkai Kong. Er hat die App MyShake entwickelt.
"Die Idee dieser App ist, dass wir jedes Smartphone in ein tragbares Seismometer verwandeln, mit dem wir einerseits Erdbeben messen, später dann auch an diese Geräte Warnungen verschicken."
Smartphones sollen nicht nur Empfänger von Warnungen sein, sondern auch Beben frühzeitig messen und melden. Die Forscher nutzen die Beschleunigungsmesser der Smartphones, die etwa die Ausrichtung des Gerätes erkennen. In Nepal hätten auf diese Weise viele Menschen gewarnt werden können, denn dort leben hunderttausende Smartphonebesitzer.
Effektiv, weil einfach und billig
"Der große Vorteil ist, dass es einfach und billig ist, ein großes und engmaschiges Netz an seismischen Sensoren aufzubauen, weil ja fast jeder ein Smartphone besitzt. Und daraus können wir ein globales Netz aufbauen.
Anfangs sei es noch eine große Herausforderung gewesen, exakt zu registrieren, wann eine Bewegung des mobilen Endgeräts vom Nutzer stammt und wann von einem Erdbeben. Mittlerweile seien die Algorithmen aber ausgereift, versichert Qingkai Kong. Erdstöße mit einer Stärke von mindestens 4,5 werden zuverlässig gemeldet, dazu bedarf es 300 Smartphones auf einer Fläche von circa 12.000 Quadratkilometern, um den Ort, die Stärke und den Zeitpunkt eines Erdbebens exakt zu bestimmen. An zentralen Knotenpunkten werden die Daten tausender Smartphones erfasst, das Beben in Stärke, Ausmaß und Bewegung lokalisiert.
Mehr als 270.000 Mal wurde die kostenfreie App MyShake bisher runtergeladen. Bisher ist sie nur für Android verfügbar, ab Januar 2018 sollen auch iOS-Nutzer die Applikation verwenden können. Großes Ziel der Berkeley-Forscher ist, im kommenden Jahr dann auch Warnungen rauszugeben - egal ob in Kalifornien, Nepal oder in anderen Risikogebieten.
Dann bleiben den Betroffenen noch ein paar Sekunden, das Haus, den Fahrstuhl oder den Bus zu verlassen und Schutz zu suchen.