Die Geschäfte gehen schlecht heute für Karen Darbinyan. Der Gemüsehändler hat sich an einer Landstraße nördlich der Hauptstadt Jerewan postiert und wartet auf Kundschaft für Kohl, Rüben und Kartoffeln. In Karens Rücken erhebt sich jenseits der armenisch-türkischen Grenze majestätisch der über 5000 Meter hohe Ararat. In der gleichnamigen Ebene und noch auf armenischem Staatsgebiet ragen die vier Kühltürme des Atomkraftwerks Metsamor in den klaren Morgenhimmel des Südkaukasus. Dass der Meiler aus Sowjetzeiten in die Jahre gekommen ist, beunruhigt Gemüsehändler Karen nicht weiter - obwohl er mit seiner Familie in unmittelbarer Nähe des AKW, im gleichnamigen Städtchen Metsamor lebt.
"Nein, Metsamor ist sicher, denke ich, die Anlage ist ja erst vor wenigen Jahren abgeschaltet und völlig überholt worden. Jetzt arbeitet alles zuverlässig. Und wir verkaufen den Strom ja sogar an Georgien, Iran und andere Länder. Das ist auf jeden Fall eine sichere Anlage"
Allerdings: Metsamor ist bereits im Jahr 1976 ans Netz gegangen und gilt inzwischen bei unabhängigen Experten längst als technisch völlig veraltet. So fehle den beiden Druckwasser-Reaktoren beispielsweise ein primärer Sicherheitsbehälter, eine Art Schutzmantel gegen austretende Radioaktivität, kritisiert Hakob Sanassaryan. Der Chemiker und Umweltaktivist ist Vorsitzender der Grünen Union Armeniens, die schon seit vielen Jahren fordert, Metsamor abzuschalten.
"Als Metsamor geplant und gebaut worden ist, in den 70er Jahren, gab es in der Sowjetunion überhaupt keine bindenden Vorgaben für den Bau von Atomkraftwerken, das änderte sich erst nach ‚Tschernobyl‘. Spätestens da war klar, dass Metsamor nie an diesem Standort hätte gebaut werden dürfen: erstens in einem dicht besiedelten Gebiet, nur wenige Kilometer von Jerewan entfernt, und vor allem: in einem der weltweit aktivsten Erdbebengebiete. In unmittelbarer Nähe des Kernkraftwerks haben wir fünf tektonische Bruchlinien, eine liegt nur fünfhundert Meter von der Anlage entfernt. All das war wissenschaftlich hinreichend erforscht damals, aber Beamte folgen da offenbar einer anderen Logik."
Und diese Logik lautet auch heute noch: Das verarmte Armenien produziert vierzig Prozent seines Strombedarfs in Metsamor, Sicherheitsbedenken sind da zweitrangig.
Immerhin: Eigentlich sollte die Anlage 2016 endgültig abgschaltet werden, doch Ende September teilte das armenische Energieministerium mit: Metsamor werde bis 2026 am Netz bleiben, mit technischer und finanzieller Unterstützung Moskaus. Ein entsprechender Vertrag mit der russischen Atombehörde Rosatom zementiert auf diese Weise einmal mehr die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Armeniens von Russland. Dessen staatlich kontrollierter Konzern Gasprom etwa ist der einzige Gaslieferant in Armenien, das sich jetzt - nach Weißrussland und Kasachstan - ebenfalls bereit erklärt hat einer von Russland geführten Zollunion beizutreten - als Gegengewicht zur EU.
Hinsichtlich der Sicherheit des Kernkraftwerks Metsamor darf sich die armenische Regierung unter Staatspräsident Sersch Sargsyan auch über die Rückendeckung seitens der IAEO, der Internationalen Atomenergiebehörde, freuen. Denn die bezeichnete noch vor zwei Jahren die Gefahr eines ernsten Zwischenfalls in Metsamor als - Zitat: - "akzeptables Risiko" - kein Wunder, ärgert sich Umweltaktivist Hakob Sanassaryan:
"Die Internationale Atomenergiebehörde – das ist doch eher eine internationale Atom-Mafia. Das Ziel dieser Organisation ist doch die Förderung der Kernenergie, wenn auch zu friedlichen Zwecken – genauso so steht es in ihren Statuten. Dabei hätten wir in Armenien ja Alternativen zur Kernkraft, Erdwärme oder Solarenergie zum Beispiel. Und dass beim Erdbeben von 1988 in Metsamor nicht mehr passiert ist, ist wohl ein glücklicher Zufall. Was geschieht, wenn man dieses Glück nicht hat, das haben wir ja sehr deutlich in Fukushima gesehen."
Und, fügt Sanassaryan hinzu, in Japan gebe es ja immerhin auf dem Papier Katastrophenpläne für den Fall eines Atomunfalls. Ob dagegen die Behörden in Jerewan vergleichbare Pläne in der Schublade haben - da hat er ganz erhebliche Zweifel.