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Erdbebenwarnung nach L'Aquila

Sechs Jahre Haft für jeden der sieben angeklagten Geowissenschaftler und Ingenieure: So lautete im vergangenen Herbst das Urteil im Prozess um das L'Aquila-Erdbeben 2009 gegen die Verantwortlichen des italienischen Katastrophenschutzes. Die Wissenschaftler hätten das Erdbebenrisiko unzureichend analysiert und kommuniziert. So kommt es, dass das Thema Risikokommunikation mehr und mehr in das Blickfeld der Seismologen rückt. Es geht um neue Strategien beim Umgang mit Wahrscheinlichkeiten.

Von Dagmar Röhrlich | 29.05.2013
    Situationen wie die vor dem L'Aquila-Beben gleichen für Seismologen einem Drahtseilakt: Sie sollen die Gefahr einschätzen, obwohl sich Erdbeben nicht vorhersagen lassen. Um trotzdem Empfehlungen geben zu können, entwickele man derzeit eine operationelle Erdbebenvorhersage, erklärt Tom Jordan, Direktor des Erdbebenzentrums der Universität von Südkalifornien in Los Angeles:

    "Dieser Begriff ist noch recht neu. Wir wollen dabei aufgrund von Prognosen Techniken entwickeln, die in Zeiten eines erhöhten seismischen Risikos die Folgen eines potenziellen Bebens durch kurzfristige Vorbereitungen mindern. Wir wollen sagen können: Hi, in der kommenden Woche ist hier die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens sehr hoch. Deshalb solltet ihr die entsprechenden Schritte zur Vorbereitung einleiten."
    Für diese operationelle Erdbebenvorhersage wird zunächst aus allen verfügbaren Daten das gerade herrschende Risiko abgeschätzt. Schwärme kleiner Erdbeben, wie sie 2009 die Einwohner von L'Aquila in Unruhe versetzt hatten, würden Alarm auslösen. Der Grund:

    "Erdbeben bilden oft zeitliche Cluster: Große Beben ziehen kleinere nach sich, kleinere können Vorläufer eines großen sein, und manchmal gibt es mehrere starke hintereinander. Wir möchten unter anderem diese gerade herrschende seismische Aktivität dafür nutzen, die Wahrscheinlichkeit eines großen Bebens abschätzen, denn dabei hat es wichtige wissenschaftliche Fortschritte gegeben."
    Derzeit testen Seismologen anhand historischer Beben mehr als 350 Rechenmodelle zur kurzfristigen Vorhersage. Die für ein Gebiet besten Programme sollen zur Risikoabschätzung herangezogen werden. In Kalifornien läuft das System bereits, erzählt Thomas Jordan:

    "Wenn in der Nähe der San Andreas Verwerfung kleine Erdbeben auftreten, werden wir nervös, weil damit die Wahrscheinlichkeit eines großen Bebens um den Faktor 1000 steigen kann. Allerdings beträgt selbst dann die Wahrscheinlichkeit, dass die Erde an einem bestimmten Tag bebt, vielleicht nur ein Prozent."

    Die Wahrscheinlichkeit sei also erhöht, aber immer noch niedrig. Sinn der operationellen Erdbebenvorhersage sei dann - je nach Grad der Gefährdung - verschiedene Protokolle mit festgelegten Gegenmaßnahmen anlaufen zu lassen. Wichtig bei diesen Protokollen sind Kosten-Nutzen-Rechnungen:

    "Denn ein Fehlalarm ist wahrscheinlich. Deshalb müssen die Pläne das Risiko mindern, ohne dass die Leute protestieren. Lösen wir Alarm aus, könnten die Behörden das Notfallpersonal in Bereitschaft versetzen und die Bevölkerung über die Lage informieren. Weil die Wahrscheinlichkeit immer noch gering ist, sollten die Menschen selbst entscheiden, was sie tun, ob sie etwa lieber eine Weile zu Verwandten ziehen, weil ihr Haus schlecht gebaut ist."

    Warner Marzocchi, Chefwissenschaftler am italienischen Nationalinstitut für Geophysik und Vulkanologie in Rom. Dort arbeitet als Konsequenz aus dem Beben von L'Aquila seit Januar ein neues Forschungszentrum für operationelle Erdbebenwarnung:

    "Abhängig von der gerade herrschenden seismischen Aktivität wollen wir für ganz Italien wöchentlich eine Risikokarte für große Erdbeben erstellen."
    Steht das System, wird das Training aller Beteiligten entscheidend, erklärt Thomas Jordan:

    "Zwei Wochen vor dem Erdbeben von L'Aquila gab es am Südende der San Andreas Verwerfung ein Beben der Stärke 4,8. Dort erhöhte sich dadurch drei Tage lang die Wahrscheinlichkeit eines größeren Bebens auf ein bis fünf Prozent. Wir lösten die Alarmketten aus. In der zuständigen Behörde saßen neue Mitarbeiter, die nichts mit unserer Wahrscheinlichkeitsaussage anfangen konnten. Sie ließen die Nachricht also erst einmal liegen, anstatt die lokalen Behörden und Bewohner zu informieren."

    Auf eine Warnung verlassen dürfe man sich ohnehin nicht: Erdbeben ereignen sich auch ohne vorherige Beben. Die beste Vorsorge ist und bleibt damit sicheres Bauen.