Erdöl hat der Welt Wachstum beschert, es ist der Treibstoff der Mobilität und der Moderne. Öl steckt in Kosmetik, Kleidung und Plastik. Es sorgte für Wohlstand, aber auch Kriege. Eigentlich dürfte der fossile Rohstoff als Energiequelle angesichts der Erderwärmung nicht mehr genutzt werden. Doch mehr als internationale Absichtserklärungen gibt es bisher kaum. Wie wurde Erdöl zur „psychoaktiven Substanz“, wie der Kulturwissenschaftler Benjamin Steininger es nennt? Und wieso kommt die Menschheit so schlecht davon los?
Wann und wo beginnt das „Ölzeitalter“?
Die entscheidende Erfindung macht ein Amerikaner im 19. Jahrhundert. Edwin Drake entwickelt eine Bohrtechnik, mit der der fossile Rohstoff ohne Verunreinigung aus der Erde gepumpt werden kann. 1859 gelingt ihm das erstmals. Es ist der Beginn der massenhaften Förderung von Öl.
Erdöl dient nicht nur als Energiequelle, es lässt sich vielfältig in der Chemieindustrie einsetzen, zum Beispiel als Rohstoff für Plastik, Pharmazeutika und Kunstdünger. Es wird der Treibstoff der Moderne und natürlich für die Autoindustrie.
Ölbohrungen gibt es im 19. Jahrhundert nicht nur in den USA. Die erste erfolgt 1846 in Baku, der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans, das damals schon lange für seinen Ölquellen bekannt ist. Um 1900 wird das zaristische Russland weltweit Erdölproduzent Nummer eins.
In die Region am Schwarzen Meer zieht es Spezialisten aus aller Welt; viele Innovationen prägen die Zeit. Baku wird „eine Art Dubai“, wie der Technikhistoriker Benjamin Steininger sagt. Eine „Global City“ ist es heute nicht mehr. Nach der Sowjetzeit herrscht dort eine „reine Oligarchenwirtschaft“, so Steininger.
Welche Rolle spielt Erdöl im Ersten und Zweiten Weltkrieg?
Wer kein Erdöl hat, kann keinen Krieg gewinnen. Diese Formel gilt seit dem Ersten Weltkrieg. Nach dem langen Stellungskrieg brechen Panzer und Flugzeuge die Fronten auf. „Es ist der erste Krieg, in dem man sieht, dass Erdöl ein strategischer Faktor ist“, sagt Benjamin Steininger. Die „Geschichtsmächtigkeit“ von Öl in einem Krieg liege nicht nur im Treibstoff, sondern vielen weiteren daraus entwickelten Produkten - von Munition über Fallschirmen bis hin zum Skiwachs für Soldaten.
Auch im Zweiten Weltkrieg ist Erdöl entscheidend. Deutschlands gigantische Chemieindustrie fußt auf Kohle. Erdölquellen in Rumänien und in Baku werden „strategisches Kriegsziel“, wie Kulturwissenschaftler Steininger erklärt.
Adolf Hitler will zudem seine Feinde von Ölquellen abschneiden, dafür soll Stalingrad erobert werden. Die Schlacht geht für die Deutschen verloren, ein wichtiger Wendepunkt des Kriegs. Die Ölquellen in Baku werden nicht erreicht. Damit sei klar, so Steininger, dass Deutschland gegenüber den „wirklich großen Erdölmächten“ Sowjetunion und USA „auf einer rein energietechnischen Ebene absolut keine Chance haben“ wird.
Wie wird Öl zur „Droge“?
Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützt der nach dem damaligen US-Außenminister benannte Marshallplan den Wiederaufbau Europas und Westdeutschlands. Wichtig dabei: Ölimporte sichern die Energieversorgung in Europa und stabilisieren die Nachfrage auf den US-Ölmärkten.
Die US-Wirtschaft profitiert, die Bundesrepublik erlebt in den 1950er-Jahren ihr sogenanntes Wirtschaftswunder. Es ist „die erste Zeit, in der es mehr Energie zu verbrauchen gibt, als die Menschheit mit bisherigen Mitteln loswerden kann“, betont Technikhistoriker Benjamin Steininger.
Ermöglicht wird die Entwicklung durch die gigantischen Erdölbestände auf der Arabischen Halbinsel. Die USA haben sich Zugang vor allem zu den Ölquellen in Saudi-Arabien gesichert, sodass sie ihre eigenen Bestände schonen können.
Wohin mit all dem Öl? In größere Motoren, in mehr Kunststoffe. Erdöl dringt in Form von Plastiktüten oder Spielzeug in alle Lebensbereiche ein und als Mikroplastik auch in den menschlichen Körper.
Öl als „psychoaktive Substanz“
Die Bundesrepublik ist besonders gierig nach Benzin. Der Autonation geht es Steininger zufolge nicht nur um „harte materielle Faktoren“. Der „Stoff“ sei auch bedeutsam für das Selbstbild, die Psyche, für Machtfantasien und den Erwartungshorizont. Steininger spricht von einer „psychoaktiven Substanz“.
„Fossile Energie ist vermutlich die stärkste Droge, die die Moderne kennt“, sagt er. Sie vermittle eine Potenz, die nicht nachhaltig sei, sondern von der Erdgeschichte nur geliehen. An den ökologischen Folgen sehe man, dass sie uns die Zukunft kaputtmachen werde.
Der „Stoff“ verändere das „komplette Koordinatensystem“ und schaffe neue „Möglichkeitsräume“ für Individuen, Staaten und die gesamte Kultur. Die Menschen deuten dieses „total unnatürliche und in der gesamten Geschichte niemals da gewesene Wachstum“ um, so der Kulturwissenschaftler - zu einer Konstante und Selbstverständlichkeit.
Wie kommt es zur Ölkrise?
Anfang der 1970er-Jahren wird klar, dass das bisherige Wachstum nicht ewig so weitergehen kann. Die Ölkrise konfrontiert die westlichen Industriestaaten mit ihrer Abhängigkeit. Wirtschaft und Alltag kommen zum Erliegen, wenn kein Öl mehr fließt.
Auslöser der Krise ist 1973 der Jom-Kippur-Krieg. Ägypten und Syrien greifen Israel an, um besetzte Gebiete zurückzuerobern. Westliche Staaten, vor allem die USA, unterstützen Israel mit Waffen. Die arabischen Staaten verhängen daraufhin ein Ölembargo gegen die Unterstützer Israels.
Gleichzeitig hebt die OPEC, die Organisation Erdöl exportierender Länder, den Ölpreis am Markt an. Beides zusammen führt zum „Ölpreisschock“, wie der Politikwissenschaftler Andreas Goldthau erklärt. Westdeutschland führt autofreie Sonntage und Geschwindigkeitsbegrenzungen ein, um Energie zu sparen.
Bewusstsein, dass etwas passieren muss
Die autofreien Sonntage hätten wenig dazu beigetragen, die Nachfrage nach Öl zu verringern, betont Goldthau. Wichtiger sei die Symbolik. Die Fahrverbote schärfen in der westlichen wohlhabenden Gesellschaft das Bewusstsein dafür, dass „etwas passieren muss und passieren kann, wenn man den politischen Willen aufbringt“.
Das Energiesystem soll in der Folge resilienter werden. Gefragt ist mehr Effizienz. Es wird mehr mit Gas geheizt, Atomkraft wird wichtig. Ölquellen in anderen Regionen werden erschlossen, zum Beispiel in der Nordsee.
Es werden auch Programme für erneuerbare Energien gestartet. Doch in den 1980er-Jahren sinken die Ölpreise wieder und damit auch das Interesse an den Erneuerbaren. Die Abhängigkeit vom Öl bleibt, obwohl längst klar ist, wie klimaschädlich fossile Energieträger sind.
Ölindustrie weiß längst um Folgen für das Klima
Der Öl- und Gaskonzern Exxon Mobil weiß das bereits seit den 1970er-Jahren. Er lässt Wissenschaftler Simulationen berechnen, die besagen, dass die Temperatur pro Jahrzehnt um 0,2 Grad Celsius ansteigen würde. Nicht nur Exxon, sondern die gesamte fossile Energiewirtschaft hätten die Menschen „absichtlich“ getäuscht, sagt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
„Diese Klimaskeptikerthesen, die bei uns auch kursiert haben – auch zum Teil in den Medien leider –, haben die sehr gezielt lanciert als Strategie, um so lange wie möglich noch an ihrem fossilen Geschäftsmodell festhalten zu können.“
Wachstum auch heute noch mit Öl?
„Drill, Baby, drill“: Während die Erderwärmung voranschreitet, kündigt der wiedergewählte US-Präsident Donald Trump an, so viel wie möglich nach Öl bohren zu lassen.
In Deutschland werden jährlich rund 90 Millionen Tonnen Erdöl verbraucht. Tendenz fallend. Gründe sind der gestoppte Import aus Russland infolge des Kriegs gegen die Ukraine und der Ausbau der erneuerbaren Energien. 1973 verbrauchte die Bundesrepublik noch mehr als 160 Millionen Tonnen.
Weltweit steigen indes die CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen 2024 auf ein Rekordhoch: 0,8 Prozent mehr als 2023. Das geht aus einem Bericht der Initiative Global Carbon Project hervor, der auf der Weltklimakonferenz in Baku vorgestellt wurde. Öl dürfte laut der Projektion einen Anteil von 32 Prozent am weltweiten CO2-Ausstoß erreichen. In Baku gelingt es nicht, die Beschlüsse der Vorgängerkonferenz von Dubai zur Abkehr von fossilen Brennstoffen zu bekräftigen.
Puppenhaus der Petromoderne
Ein Abschied von der „Sonderphase“ der Menschheitsgeschichte mit ihrer kapitalistischen Wachstumsideologie ist schwierig, sagt der Kulturwissenschaftler Benjamin Steininger. Soll man weg vom Wachstum und auf zentrale Errungenschaften verzichten?
Dazu zählt er auch den liberalen Staat, die reichhaltige Kulturlandschaft und das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensstile, die nur dank dieser Art von Energie „zu uns gekommen“ seien. Oder muss man neue technische Mittel finden, um das „Puppenhaus der Petromoderne“ weiterzubetreiben? Diese zwei Entwicklungspfade sieht Steininger in Konkurrenz.
Der Politologe Andreas Goldthau verweist auf einen Grundpfeiler des Kapitalismus: Gewinne. Für ein nachhaltiges Energie- und Produktionssystem sei es entscheidend, Sektoren zu schaffen, die ein Interesse an Dekarbonisierung haben.
Die Sektoren müssten „damit Geld verdienen, dass sie grüne Produkte und saubere Technologien nutzen oder herstellen". Deshalb sei es wichtig, den industriellen Umbau „so schnell wie möglich“ hinzubekommen. Dann könnte auch der Ausstieg aus der „Droge“ Öl gelingen.
bth, Anh Tran