Dieser Wochenmarkt am Landwehrkanal zwischen Neukölln und Kreuzberg wird im Volksmund "Türkenmarkt" genannt. Seit Jahrzehnten preisen hier Marktschreier ihre Waren auf Deutsch und Türkisch an. Es gibt keinen anderen Ort in Berlin, wo so viele türkeistämmige Familien einkaufen. Für politische Gespräche bleibt im Gewühl zwischen den Obst- und Gemüseständen keine Zeit. Einige Frauen und Männer bleiben aber kurz stehen und antworten auf Reporterfragen, was sie von dem anstehenden Besuch des türkischen Präsidenten in Deutschland erwarten.
"Ach, was soll ich erwarten? Er lebt ja nicht hier. Ich weiß gar nicht, warum er herkommt. Was will er denn eigentlich machen, was will er denn sagen? Ich hoffe, etwas Gutes. Aber ich glaube nicht daran."
Die Marktverkäuferin spricht ihre Meinung nicht offen aus. Doch in dem, was sie nicht sagt, erkennt man ihre Haltung. Sie ist eine Gegnerin des türkischen Staatschefs. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 und dem anschließenden harten Durchgreifen Erdogans herrscht unter seinen Kritikern große Angst. Öffentlich wagt es kaum jemand, seine Meinung zu sagen. Erdogans Anhänger hingegen sind selbstbewusst. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, wie diese Frau an einem Stand für türkische Teigwaren:
"Man redet von Menschenrechten, aber wenn es um Erdogan und Türken geht, gibt es weniger Menschenrechte hier in Deutschland. So habe ich das Gefühl in letzter Zeit. Fake News über Erdogan, es wird übertrieben, es wird ein bisschen anders dargestellt."
Erdogan spaltet die Menschen in und außerhalb der Türkei. Und er polarisiert auch auf internationaler politischer Bühne. Noch vor nicht allzu langer Zeit beschimpfte er deutsche Politiker als "Nazis", nachdem er in Deutschland keinen Wahlkampf führen durfte. Jetzt kommt er - erstmals in seiner Funktion als Staats- und Regierungschef - auf Einladung des Bundespräsidenten nach Deutschland, auffallend zurückhaltend in seiner Rhetorik. Nichtsdestotrotz sind Erdogans Gegner und Kritiker alarmiert und organisieren seit Bekanntwerden des Besuchs verschiedene Protestveranstaltungen - allen voran Kurden und Aleviten.
Breite Kritik an der Bundesregierung
Im alevitischen Gemeindehaus in Berlin trafen sich vor drei Wochen Vertreter verschiedener linker türkischer und kurdischer Vereine und diskutierten über eine mögliche gemeinsame Kundgebung gegen Erdogans Besuch. Doch es konnte keine Einigung erzielt werden. Der PKK-nahe Verband Nav-Dem wird an diesem Freitag mit vielen linken Vereinen aus dem kurdischen und deutschen Spektrum in Berlin demonstrieren. Die Kurdische Gemeinde in Deutschland, ein politisch unabhängiger Verband deutscher Kurden, will sich den Aleviten anschließen, sagt dessen Vorsitzender Ali Ertan Toprak.
Toprak hält einen Dialog zwischen Deutschland und der Türkei für richtig. Aber er fordert die deutsche Seite auf, mit dem autoritär regierenden Erdogan Klartext zu reden. Erdogan habe die Türkei in eine wirtschaftliche Krise gestürzt und brauche Finanzspritzen. Deswegen trete er gemäßigter als vor einem Jahr auf. Aber ein Empfang mit militärischen Ehren und ein roter Teppich seien zu viel der Ehre, meint Toprak:
"Das verdient so ein Despot nicht - ein Despot, den wir zwar auf dem Papier Partner nennen, aber der die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit abgeschafft hat, die Medien gleichgeschaltet hat, hunderttausende von Menschen politisch verfolgt und auch Blut an den Händen kleben hat. Und da sind wir der Auffassung, dass unsere Bundesregierung auch unsere Werte, unsere freiheitlich-demokratischen Werte verrät und damit auch gleichzeitig die demokratische Zivilgesellschaft in der Türkei. Und dagegen stellen wir uns."
Doch es sind keineswegs nur türkeistämmige Erdogan-Gegner, die den Staatsbesuch kritisieren. Auch Amnesty International und deutsche Journalistenverbände rufen zu Protesten auf. Bei so viel Gegenwind liest sich die Presseerklärung der Lobby-Organisation von Erdogan in Deutschland wie der Versuch einer Verteidigung. Die UID, Union Internationaler Demokraten, ehemals Union europäisch-türkischer Demokraten, UETD, begrüßt den Besuch und hofft auf eine Annäherung beider Länder. Darauf folgen diese Sätze: "Staatspräsident Erdogan wurde von der Mehrheit der türkischen Wähler zum Staatspräsidenten der Türkei demokratisch gewählt und ist somit der oberste Repräsentant der Bürger der Türkei. Er besucht Deutschland im Namen der Türkei und ihrer Menschen. Wir weisen auf diese Tatsache ausdrücklich hin."
Mitte August, auf der Baustelle des neuen Istanbuler Flughafens. Hunderte Arbeiter protestieren gegen ihre Arbeitsbedingungen. Sie fordern die Auszahlung ihrer Löhne, besseres Essen, saubere Sanitäranlagen und - immer wieder - mehr Arbeitssicherheit. Türkische Gewerkschaften schätzen, dass mindestens 400 Arbeiter in den vergangenen drei Jahren auf der Baustelle des Flughafens ums Leben gekommen sind. Viele Todesfälle würden vertuscht, heißt es. Ein Arbeiter drängt sich nach vorn und ergreift das Wort: "Ich habe bei meiner Leiharbeiterfirma angerufen und ihnen gesagt, dass ich sie vor Gericht bringen werde, wenn sie meinen Lohn nicht zahlen. Geh doch zum Staatspräsidenten, haben sie geantwortet.
Tatsächlich gehört der Bau des gigantischen neuen Istanbuler Flughafens zu den Mega-Projekten mit denen Staatspräsident Erdogan die vermeintliche neue Größe und Stärke seines Landes zur Schau stellen will. Doch wenige Monate vor der Eröffnung ist von einer solchen neuen Größe des Landes wenig übrig geblieben - weder geopolitisch noch wirtschaftlich.
Tatsächlich gehört der Bau des gigantischen neuen Istanbuler Flughafens zu den Mega-Projekten mit denen Staatspräsident Erdogan die vermeintliche neue Größe und Stärke seines Landes zur Schau stellen will. Doch wenige Monate vor der Eröffnung ist von einer solchen neuen Größe des Landes wenig übrig geblieben - weder geopolitisch noch wirtschaftlich.
Wirtschaftsfachmann: Türkei erst am Anfang der Krise
Die Türkei wird von einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise erschüttert. Seit Jahresanfang verlor die türkische Lira gegenüber Euro und Dollar mehr als 40 Prozent an Wert. Gleichzeitig stieg die Inflation auf 18 Prozent. Jetzt zeigt sich: Das phänomenale Wachstum der frühen Erdogan-Jahre wurde mit einer hohen Verschuldung erkauft. Besonders fatal: Zu einem großen Teil nahmen die Privatunternehmen und Banken ihre Kredite in fremder Währung auf, was die Türkei extrem anfällig für Währungsschwankungen machte. Allein die Auslandsverschuldung der Privatwirtschaft beträgt gegenwärtig 162 Milliarden Dollar.
Der Istanbuler Wirtschaftsfachmann Mustafa Sönmez sieht sein Land erst am Anfang der Krise: "In den nächsten 12 Monaten muss das Land insgesamt 230 Milliarden Dollar auftreiben, davon allein 180 Milliarden zur Schuldentilgung. So viel Geld holt die Türkei nicht mal so eben ins Land - wenn überhaupt jemand derzeit in ein so fragiles System investieren möchte. Ob sie will oder nicht: Am Ende muss die Türkei Hilfe beim Internationalen Währungsfonds suchen."
Doch Erdogan hatte immer wieder ausgeschlossen, dass er - wie seine Vorgänger - zum Bittsteller beim IWF würde. Er fürchtet insbesondere die strengen Auflagen des IWF, die seine Handlungsfreiheiten einschränken würden. Schließlich hat er sich durch die Einführung des Präsidialsystems faktisch die alleinige Kontrolle über die staatlichen Ausgaben gesichert. So steht Erdogan auch dem staatlichen Vermögensfonds vor, in dem alle staatlichen Unternehmensanteile gebündelt sind. Stellvertreter ist sein Schwiegersohn Berat Albayrak, der zugleich Finanzminister ist.
Erdogan sucht Finanzhilfen
Statt beim IWF vorzusprechen, sucht Erdogan nach anderen Wegen, um frisches Geld ins Land zu holen. Das Emirat Katar konnte er Anfang September zu 15 Milliarden Dollar Investitionen überreden. Und auch in die Europäer setzt der Autokrat auf einmal wieder Hoffnung. Der EU-Beitrittsprozess solle wieder intensiviert werden, heißt es plötzlich in Ankara. Dabei ruhen die Verhandlungen schon seit Jahren. Und das Amt eines türkischen Europa-Ministers wurde erst nach den Wahlen im Sommer gestrichen.
Vor seinem an diesem Freitag offiziell beginnenden Staatsbesuch in Berlin bemüht sich Erdogan um eine Wiederannäherung beider Staaten - obgleich immer noch sieben deutsche Staatsangehörige unter dubiosen Vorwürfen in türkischen Gefängnissen einsitzen und Erdogan noch im vergangenen Jahr die Deutschen pauschal als Nazis gescholten hatte. Doch das soll nun vergessen sein, betont er in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung":
"Dass die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei in den bilateralen Beziehungen eine neue Seite aufschlagen, um ihre Unstimmigkeiten beiseite zu lassen und sich auf ihre gemeinsamen Interessen zu konzentrieren, ist im Hinblick auf die globalen dramatischen Ereignisse der letzten Zeit für beide Seiten unabdingbar."
Gleichzeitig preist er "ein weites Feld für Kooperationen" in den Wirtschaftsbeziehungen beider Länder und lädt deutsche Unternehmen ein in der Türkei wieder mehr zu investieren. Doch, im Gegenteil: Viele der rund 7000 deutschen Unternehmen, die derzeit in der Türkei aktiv sind, überdenken ihr Engagement. Das war einmal anders. Zwischen 2004 und 2014 gab es rund 4000 Firmengründungen in der Türkei, an denen deutsches Kapital beteiligt war, meldet die Außenhandelskammer in Istanbul. Doch nun fehle den Unternehmern die Rechtssicherheit für ihre Investitionen und Mitarbeiter. Daraufhin hat Bundesaußenminister Maas kürzlich hingewiesen.
Dass Bundeskanzlerin Merkel äußerte, eine stabile Türkei sei im deutschen Interesse, hat auf türkischer Seite dennoch Hoffnung auf wirtschaftliche Hilfe geweckt. In Ankara weiß man genau: Deutschland und die EU sind die mit Abstand größten Handelspartner der Türkei. Die kleine Niederlande hat mehr in der Türkei investiert als alle arabischen Länder zusammen. Die Drohung Erdogans, er werde sich nach Alternativen zum Westen umsehen, wenn dieser ihn nicht haben wolle, wurde darum von Diplomaten noch nie besonders ernst genommen.
Dass Bundeskanzlerin Merkel äußerte, eine stabile Türkei sei im deutschen Interesse, hat auf türkischer Seite dennoch Hoffnung auf wirtschaftliche Hilfe geweckt. In Ankara weiß man genau: Deutschland und die EU sind die mit Abstand größten Handelspartner der Türkei. Die kleine Niederlande hat mehr in der Türkei investiert als alle arabischen Länder zusammen. Die Drohung Erdogans, er werde sich nach Alternativen zum Westen umsehen, wenn dieser ihn nicht haben wolle, wurde darum von Diplomaten noch nie besonders ernst genommen.
Erdogan in Europa in Ungnade gefallen
Gleichzeitig wächst im Westen der Unwille Erdogan entgegenzukommen. Sein autokratischer Regierungsstil, sein unerbittliches Vorgehen gegen die Opposition mit hunderttausenden Verhaftungen, die Unterdrückung der Presse, die Gleichschaltung der Justiz und sein harter Kurs gegen die Kurden haben ihn in Europa unbeliebt gemacht. Eine Erweiterung der bestehenden Zollunion mit der EU, für die Erdogan wirbt, scheint derzeit ausgeschlossen. EU-Erweiterungskommissar Hahn steht auch sonstigen Finanzhilfen für die Türkei ablehnend gegenüber. Die Probleme der Türkei seien schließlich "hausgemacht".
Das sieht Erdogan anders. Mal betont er, es gebe keine Krise in seinem Land, mal macht er für den Währungsverfall ausländische Mächte verantwortlich: "Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, wer hinter den derzeitigen Wechselkursen in der Türkei steckt. Das ist allen offensichtlich. Ich sage noch einmal: Die Kursschwankungen sind eine Operation gegen unser Land." Gemeint sind die USA, die einen regelrechten Wirtschaftskrieg gegen sein Land führten. Im August hatte Washington Sanktionen gegen die Türkei verkündet, unter anderem wurden Zölle auf türkische Stahlexporte verhängt. Der Grund: Präsident Trump beschuldigt die Türkei einen amerikanischen Missionar zu Unrecht in Haft zu halten. Erdogan will ihn gegen den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen tauschen.
Doch die US-Sanktionen haben die Krise bloß verschärft. Der Krieg im Nachbarland Syrien, wegen dessen die Türkei drei Millionen Flüchtlinge aufnehmen musste, der Putschversuch vom Sommer 2016 und nicht zuletzt Erdogans politische Unberechenbarkeit haben zum Niedergang der Wirtschaft beigetragen. Hinzu kam ein ausuferndes öffentliches Investitionsprogramm, das vor allem auf Beton setzte: Der Bausektor wurde zum Motor der türkischen Wirtschaft, gefördert durch öffentliche Aufträge für Brücken, Straßen und Tunnel und dem Versprechen auf schnelles Geld für Investoren vor allem aus arabischen Ländern, beklagt der Ökonom Mustafa Sönmez:
"Das Wachstum der vergangenen Jahre war ein erzwungenes Wachstum, keines, das auf der Dynamik der hiesigen Wirtschaft basierte. Stattdessen wurde es befeuert durch staatliche Kredite, Steuererleichterungen und eine verordnete Niedrigzinspolitik. Nur durch dieses Doping kamen zuletzt noch Wachstumsraten von über sieben Prozent zustande."
Das sieht Erdogan anders. Mal betont er, es gebe keine Krise in seinem Land, mal macht er für den Währungsverfall ausländische Mächte verantwortlich: "Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, wer hinter den derzeitigen Wechselkursen in der Türkei steckt. Das ist allen offensichtlich. Ich sage noch einmal: Die Kursschwankungen sind eine Operation gegen unser Land." Gemeint sind die USA, die einen regelrechten Wirtschaftskrieg gegen sein Land führten. Im August hatte Washington Sanktionen gegen die Türkei verkündet, unter anderem wurden Zölle auf türkische Stahlexporte verhängt. Der Grund: Präsident Trump beschuldigt die Türkei einen amerikanischen Missionar zu Unrecht in Haft zu halten. Erdogan will ihn gegen den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen tauschen.
Doch die US-Sanktionen haben die Krise bloß verschärft. Der Krieg im Nachbarland Syrien, wegen dessen die Türkei drei Millionen Flüchtlinge aufnehmen musste, der Putschversuch vom Sommer 2016 und nicht zuletzt Erdogans politische Unberechenbarkeit haben zum Niedergang der Wirtschaft beigetragen. Hinzu kam ein ausuferndes öffentliches Investitionsprogramm, das vor allem auf Beton setzte: Der Bausektor wurde zum Motor der türkischen Wirtschaft, gefördert durch öffentliche Aufträge für Brücken, Straßen und Tunnel und dem Versprechen auf schnelles Geld für Investoren vor allem aus arabischen Ländern, beklagt der Ökonom Mustafa Sönmez:
"Das Wachstum der vergangenen Jahre war ein erzwungenes Wachstum, keines, das auf der Dynamik der hiesigen Wirtschaft basierte. Stattdessen wurde es befeuert durch staatliche Kredite, Steuererleichterungen und eine verordnete Niedrigzinspolitik. Nur durch dieses Doping kamen zuletzt noch Wachstumsraten von über sieben Prozent zustande."
Auch viele einfache Bürger hatten den Versprechungen der Baubranche auf eine sichere Anlage geglaubt und ihr Erspartes in eine Zweitwohnung angelegt. Nun müssen sie zusehen, wie die Immobilienpreise purzeln. Der Bau von Wohnungen in der Türkei ging im August im Vergleich zum Vorjahresmonat um über 12 Prozent zurück. Der Verkauf von Neuwagen ist eingebrochen. Mehrere bekannte Einzelhandelsunternehmen haben Gläubigerschutz beantragt. Und viele fürchten, dass es als nächstes die türkischen Banken treffen könnte. Ende August stufte die Ratingagentur Moody's die Kreditwürdigkeit von 18 türkischen Banken wegen der bestehenden finanziellen Risiken herab.
Erdogans langer Arm reicht bis in den Bundestag
Doch so sehr Erdogan sich um Entspannung im deutsch-türkischen Verhältnis bemüht, sein autoritäres Vorgehen gegen Kritiker und Oppositionelle geht unvermindert weiter. Erdogans langer Arm reicht bisweilen sogar bis in den Bundestag hinein. So stehen die Abgeordneten Sevim Dagdelen von der Linken und Cem Özdemir von den Grünen seit der Verabschiedung der Armenienresolution im Juni 2016 unter Polizeischutz.
Dagdelen macht Erdogan für ihre Gefährdung verantwortlich: "Dazu gehörten nicht nur Beschimpfungen und Beleidigungen, sondern auch tätliche Angriffe, Drohungen, Morddrohungen, sodass ich und auch andere Abgeordnete unter Polizeischutz gestellt worden sind. Meine Gefährdungsstufe dauert weiterhin an. Seit nunmehr über zwei Jahren stehe ich unter Polizeischutz. Und aufgrund dessen, dass von der türkischen Regierung aus, von Ankara aus diese Angriffe auch mit gesteuert werden."
Erdogan hatte nach der Resolution die türkeistämmigen Abgeordneten öffentlich auf übelste Weise beschimpft und damit zur Zielscheibe erklärt. Cem Özdemir, damals Vorsitzender der Grünen, hatte die Debatte vorangetrieben: "Nach wie vor bei öffentlichen Veranstaltungen habe ich Begleitung durch das Bundeskriminalamt. Das wird mich wahrscheinlich noch eine Weile begleiten. Denn es ist klar: Mit der Armenienresolution habe ich, wenn man so will, ins Wespennest gestochen. Insofern kann man sich vorstellen, was ich da losgetreten habe und dass natürlich die Ultranationalisten, die religiösen Fanatiker in der Türkei, die gegenwärtig an der Regierung sind und die Macht in der Türkei innehaben, mir das so schnell nicht vergessen werden. Das weiß ich, ich wusste, worauf ich mich einlasse, bereue es auch keine Sekunde; denn das war wichtig, dass es endlich passiert."
Beide Politiker sind sich einig, dass Erdogan nach Deutschland kommt, um Finanzhilfen zu fordern. Dagdelen macht der Bundesregierung große Vorwürfe. Sie würde Erdogan als Unterstützer von Extremisten in Syrien hofieren: "Im Gegensatz zu allen Bundestagsfraktionen, die den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Syrien verurteilt haben als einen Völkerrechtsbruch, hat es die Bundesregierung bis heute nicht getan. Das heißt, dass man einen EU-Beitrittskandidaten hier weiter ertüchtigt, aggressiv Nachbarländer zu überfallen und auch innenpolitisch weiter Repressionen auszuüben."
Özdemir: Erdogan auf dem Saatsbankett den Spiegel vorhalten
Dagdelen ist Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe und ist in dieser Funktion vom Präsidialamt zum Staatsbankett eingeladen. Doch sie wird nicht daran teilnehmen. Wie andere aus der Opposition hält sie ein feierliches Abendessen mit Erdogan für unangemessen, während deutsche Staatsbürger und türkische Oppositionelle in der Türkei in Haft sitzen, sagt sie. Cem Özdemir hat eine Einladung erst später erhalten - nachdem bereits mehrere türkischstämmige Personen des öffentlichen Lebens abgesagt hatten, darunter der Bundesvorsitzende der Alevitischen Gemeinde, Hüseyin Mat.
Özdemir nimmt die Einladung des Bundespräsidenten an und will Erdogan durch seine Teilnahme am gemeinsamen Staatsbankett Demokratieunterricht erteilen: "Ich fliehe nicht, sondern ich gehe dahin. Und ich will, dass er das aushält, dass es in Deutschland Opposition gibt und dass in Deutschland die Opposition dazu gehört. Und allein durch meine Anwesenheit er an all das erinnert wird, woran er sich nicht gerne erinnern lässt, nämlich dass er die Türkei in ein offenes Gefängnis verwandelt, dass er Journalisten einsperrt, dass er Oppositionelle einsperrt, dass er die türkische Zivilgesellschaft versucht, mundtot zu machen. Insofern glaube ich, kann ich das am besten dadurch zum Ausdruck bringen, indem ich dort anwesend bin."
Auch wenn Özdemir das Staatsbankett zum Anlass nimmt, Erdogan den Spiegel vorzuhalten, im Grunde hätte ein Arbeitsbesuch ausgereicht, sagt er. Hinter den Kulissen liefen sicher ernste Gespräche, in denen die Bundesregierung auch diplomatischen Druck auszuüben versuche. Aber an diesen Gesprächen sei die Opposition nicht beteiligt, sagt Özdemir.
Und dass die Bundesregierung Erdogan mit Samthandschuhen behandelt, zeige sich daran, dass er im Anschluss an seine politischen Termine nach Köln reise, um dort die Zentralmoschee der DITIB zu eröffnen. Die DITIB sei ohnehin ein problematischer Moscheeverband, dessen Imame im Verdacht stünden, für die Türkei zu spionieren. Dass Erdogan nun die offizielle Eröffnung vornehme, lasse keinen Zweifel daran, wer in DITIB-Moscheen den Ton angebe, sagen Dagdelen und Özdemir. So viel Macht dürfe Erdogan in Deutschland nicht haben.
Und dass die Bundesregierung Erdogan mit Samthandschuhen behandelt, zeige sich daran, dass er im Anschluss an seine politischen Termine nach Köln reise, um dort die Zentralmoschee der DITIB zu eröffnen. Die DITIB sei ohnehin ein problematischer Moscheeverband, dessen Imame im Verdacht stünden, für die Türkei zu spionieren. Dass Erdogan nun die offizielle Eröffnung vornehme, lasse keinen Zweifel daran, wer in DITIB-Moscheen den Ton angebe, sagen Dagdelen und Özdemir. So viel Macht dürfe Erdogan in Deutschland nicht haben.