Ein Ende der Eiszeit zwischen Russland und der Türkei sei für die EU von Vorteil, sagte der SPD-Politiker Gernot Erler im Deutschlandfunk. Die jetzige Situation behindere den Fortschritt bei der Lösung von Konflikten, zum Beispiel in Syrien oder im Kaukasus. Da sei das Verhältnis zwischen beiden Ländern sehr angespannt.
Der Besuch sei also kein Anlass zur Dramatisierung. Die die Gefahr, dass Putin und Erdogan ein neues Bündnis gegen die EU schließen, sieht Erler nicht. Dafür seien die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei - insbesondere durch den Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei - noch zu sehr belastet.
Mit dem Treffen setzten die beiden Staatschefs allerdings auch ein gemeinsames Zeichen, dass sie auf den Westen nicht angewiesen seien. In dieser verhärteten Situation müsse man jetzt von deutscher Seite versuchen, im Gespräch zu bleiben. Ein erster Schritt in die richtige Richtung sei der Besuch von Staatssekretär Markus Ederer in Ankara gewesen.
Man müsse jetzt weiter für eine "realistische Beziehung" zu Russland und der Türkei arbeiten, betonte Erler. Man habe "ein gemeinsames Interesse daran, Konflikte zu lösen". Deswegen müsse man alles tun, um diese Partner wiederzugewinnen.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Am Telefon ist jetzt Gernot Erler, der Russlandbeauftragte der Bundesregierung. Schönen guten Morgen!
Gernot Erler: Guten Morgen, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Herr Erler, treibt Europa die Türkei da in ein neues Bündnis, diesmal mit Russland?
Erler: Nein, das sehe ich ganz anders. Ich sehe ein europäisches Interesse daran, dass diese Eiszeit zwischen der Türkei und Russland beendet wird, weil sie hindert uns auch an Fortschritten bei Konflikten, deren Lösung in unserem Interesse ist, vor allen Dingen in Syrien, aber auch im Kaukasus. An beiden Stellen gibt es starke Spannungen zwischen Russland und der Türkei. Es ist bekannt, dass in Syrien der Präsident Assad von Russland unterstützt wird, während die Türkei seine Beseitigung betreibt, und wir haben im Konflikt um Bergkarabach, zwischen Armenien und Aserbaidschan eine ähnliche Situation. Die eine Seite, nämlich die Türkei unterstützt Aserbaidschan, Russland unterstützt Armenien, und unser Interesse ist, dass in diesem Konflikt, der in diesem Jahr schon 200 Tote gefordert hat, eine politische Lösung gefunden wird. Das geht nur, wenn diese Eiszeit zwischen der Türkei und Russland beendet wird.
Armbrüster: Das heißt, wenn sich diese beiden Autokraten jetzt auf einmal wieder blendend verstehen, dann sollten wir uns in Deutschland darüber freuen.
Erler: Jedenfalls dann, wenn das dazu beiträgt, dass nicht nur Gemeinsamkeiten, wie Sie das eben geschildert haben, in der Frustration über die Europäische Union ausgetauscht werden, sondern wenn substantielle Fortschritte erreicht werden in der Betrachtung von so einem Konflikt wie in Syrien oder im Kaukasus.
"Es gibt keinen Grund zur Dramatisierung bei diesem Besuch"
Armbrüster: Da sind Sie dann auf einer Linie mit vielen anderen Mitgliedern in der großen Koalition und in der Bundesregierung. Sie scheuen da etwas zurück vor deutlicher Kritik vor allem wahrscheinlich am türkischen Präsidenten Erdogan.
Erler: Nein, ich meine, zunächst einmal sage ich nur, es ist kein Grund zur Dramatisierung bei diesem Besuch. Es gibt da durchaus Chancen für unsere Interessen, und ich habe das nie für richtig gehalten, Schadenfreude darüber zu empfinden, dass diese beiden Staaten Probleme miteinander bekommen haben.
Armbrüster: Wie groß ist denn die Gefahr, dass hieraus ein tatsächliches, ein neues Bündnis entstehen könnte, das sich tatsächlich auch gegen Europa, vor allen gegen die EU wenden könnte?
Erler: Also ich glaube, dass das unrealistisch ist, dass so etwas passiert. Es ist ein langer Weg von der Beendigung der Eiszeit, die da entstanden ist durch den Abschuss der russischen Militärmaschine am 24. November letzten Jahres bis zu einem Zustand zurück, wo vier Millionen Russen im Jahr in die Türkei gereist sind, wo jede zweite Tomate, die in Russland verspeist wird, aus der Türkei kommt. Das ist alleine ein langer Weg, und es wird auch nicht so einfach sein, anzuknüpfen an Gemeinsamkeiten etwa in der Wirtschafts- und in der Energiepolitik. Hier wurde schon erwähnt dieses Projekt Turkish Stream, aber das hat jetzt eben lange auf Eis gelegen, und das wieder flottzumachen ist auch nicht eine Angelegenheit, die innerhalb von wenigen Monaten erledigt ist. Also von einem neuen Bündnis zu sprechen ist zumindest waghalsig und weit, weit zu früh.
"Natürlich sind das Fingerzeige, die in Richtung Europa gehen"
Armbrüster: Aber muss sich der türkische Präsident Erdogan nicht hier einen neuen Partner suchen, nachdem es ja ganz offenbar mit Europa nicht mehr so richtig klappt?
Erler: Natürlich sind das Fingerzeige, die in Richtung Europa gehen, nach dem Motto, wir können auch anders, wir haben auch andere wichtige Partner, und das wird demonstrativ heute sicher zelebriert in Sankt Petersburg. Da gibt es eine Interessengemeinschaft mit Russland, wo auch das Selbstbewusstsein sehr groß ist, dass man im Grunde genommen auf den Westen und auf westliche Zustimmung nicht angewiesen ist. Da gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Erdogan und Putin, aber das ist noch nicht ein neues Bündnis. Wir gucken eher auf die Chancen, und wir brauchen diese Chancen eben vor allen Dingen, wenn man den Syrienkonflikt und auch die gefährliche Situation im Kaukasus anschaut.
Armbrüster: Wenn sich die beiden aber jetzt zusammentun, dann könnte das ja auch durchaus Werbung sein für dieses neue Modell einer Regierungsform, was ja immer mehr Staaten auch im östlichen Europa offenbar für erstrebenswert halten, diese autoritäre Demokratie, die da praktiziert wird in Russland und auch in der Türkei. Ist das in Modell, was hier wieder hoffähig gemacht wird, was sozusagen jetzt ins Schaufenster gestellt wird?
Erler: Also ich glaube, man sollte darauf nicht ängstlich reagieren, sondern indem man versucht, im Gespräch zu bleiben. Ich fand das gut, dass jetzt gestern der deutsche Staatssekretär Markus Ederer in Ankara war. Wir haben in letzter Zeit viel über die Türkei gesprochen, aber …
Armbrüster: Er war wohlgemerkt da drei Wochen nach dem Putschversucht, und es ist ein …
Erler: Ja, aber auch um eben einen falschen Eindruck zu korrigieren.
"Im Augenblick haben wir eine verhärtete Situation"
Armbrüster: Und es ist ein Politiker, von dem viele wahrscheinlich gestern zum ersten Mal gehört haben.
Erler: Bei mir ist das nicht der Fall. Nein, natürlich kann man auch darüber diskutieren, ob noch höherrangige Besuche sinnvoll sind, aber im Augenblick haben wir eine verhärtete Situation. Wir haben diese starken Vorwürfe von Erdogan gegenüber dem Westen, dass wir auf der Seite des Putsches stehen oder jedenfalls uns nicht deutlich genug davon distanziert haben, und da ist es sinnvoll auf der Arbeitsebene da eine Gegenwirkung zu erzielen, und ich glaube, das ist auch tatsächlich gelungen.
Armbrüster: Das ist gelungen mit diesem Besuch von Herrn Ederer, muss ich noch mal fragen.
Erler: Es ist gelungen, hier deutlich zu machen, dass das nicht stimmt, dass es hier eine, sage ich mal, Zurückhaltung gibt gegenüber, was Kritik an dem Putsch angeht, dass aber gleichzeitig aufrechterhalten wird die Kritik an dem, was man vielleicht einen Gegenputsch nennen könnte, was Erdogan hier in Reaktion auf den Putsch vom 15. Juli unternommen hat. Beides ist als Botschaft überbracht worden.
"Wir müssen alles tun, um diese Partner wiederzugewinnen"
Armbrüster: Aber man kann ja wohl sagen, dass sich hier diese beiden Männer, Putin und Erdogan, beide von Europa völlig missverstanden fühlen, und wenn diese beiden jetzt ihr eigenes Bündnis schmieden, ist das dann nicht eigentlich auch die Schuld der EU?
Erler: Es ist sicherlich ein Signal, das die EU verstehen muss und was deutlich macht, dass wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen dürfen, hier auch für eine, sage ich mal, realistische Beziehung zu diesen beiden Ländern weiter zu arbeiten. Wir wissen doch, dass diese Frustration im Grunde genommen auf beiden Seiten auf fragwürdigem Verständnis von politischen Realitäten beruht. Es stimmt ja gar nicht, dass es im Westen hier irgendeine Sympathie für den Putsch in der Türkei gegeben hat, und es stimmt auch nicht, dass der Westen Russland ärgern will, etwa mit Sanktionen, sondern es geht darum, dass wir ein gemeinsames Interesse haben, Konflikte zu lösen. Wir müssen alles tun, um diese Partner wiederzugewinnen, weil wir realistischerweise sehen müssen, ohne eine Beendigung dieser Spannung zwischen der Türkei und Russland, und ohne eine konstruktive Rolle von Russland lässt sich zum Beispiel ein Konflikt wie der in Syrien, von dem so viel auch für Deutschland und Europa abhängt, nicht lösen.
Armbrüster: Und dann müssen wir möglicherweise auch über so etwas hinweggehen wie eine Säuberungswelle in der Türkei, bei dem jeden Tag Tausende in den Gefängnissen landen.
Erler: Nein, eben nicht. Deswegen gibt es eine doppelte Botschaft: Es stimmt nicht, dass uns dieser Putsch egal war und dass wir uns da neutral verhalten haben oder gar, was der Vorwurf gegen Amerika ist, einen Terroristen schützen. Es stimmt nicht, aber das hindert uns nicht daran, zu sagen, dass die Reaktion sehr besorgniserregend ist und von uns nicht akzeptiert werden kann, dass hier in der Türkei praktisch Oppositionen und unabhängige Berichterstattung nicht mehr möglich ist.
Armbrüster: Live hier bei uns im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen" war das Gernot Erler von der SPD, der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, und wir haben mit ihm gesprochen über dieses Treffen heute in Sankt Petersburg von Putin und Erdogan. Vielen Dank, Herr Erler, für Ihre Zeit heute Morgen!
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