Der Besuch Erdogans in Berlin und Köln sei ein großer Fortschritt, sagte Roth. Man sei dankbar, nach den Beleidigungen im vergangenen Jahr aus Ankara wieder andere Töne zu hören. Man müsse miteinander reden. "Würde Bundespräsident Steinmeier nur glühende Vertreter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einladen, wäre es leer in Schloss Bellevue". Der Besuch sei vor allem ein Zeichen des Respekts und der Wertschätzung gegenüber einem Volk und einem Land, mit dem Deutschland sehr viel verbinde.
"Werden nicht vergessen, was passiert ist"
Gleichzeitig betonte er, die Türkei müsse sich in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bewegen. Auch sei es für die Bundesregierung inakzeptabel, dass immer noch Deutsche in der Türkei politisch inhaftiert seien. "Wir werden nicht vergessen, was passiert ist. Aber wir sind zur Zusammenarbeit bereit." Das Heft des Handelns liege nun maßgeblich in der Hand Erdogans.
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Stefan Heinlein: Am Telefon begrüße ich jetzt Michael Roth. Er ist Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt und Parteimitglied der SPD. Guten Morgen, Herr Roth.
Michael Roth: Guten Morgen, Herr Heinlein! Guten Morgen nach Köln.
Heinlein: Diesmal keine kurze Arbeitsvisite, wir haben es gehört, sondern viel Pomp, viel Gloria, ein ausgewachsener mehrtägiger offizieller Staatsbesuch. Herr Roth, warum rollt Deutschland Präsident Erdogan den roten Teppich aus?
Roth: Die Welt und Europa sind leider so, wie sie derzeit sind: voller Krisen und Konflikte. Und wenn es besser werden soll, muss man miteinander und nicht nur übereinander sprechen. Wenn der Bundespräsident ausschließlich glühende Verfechter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einladen würde, dann wäre es in Bellevue sehr, sehr einsam.
Es geht hier weniger allein um einen Staatspräsidenten, sondern es geht um eine Gesellschaft. Es geht um ein Land, mit dem uns viel verbindet. Sie haben zurecht auf die 3,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland hingewiesen und es dürfte außerhalb der Europäischen Union kein Land geben, wo die Beziehungen so wichtig sind, wo sie aber derzeit auch so schwierig sind.
"Lassen Sie uns doch weniger über das Format reden"
Heinlein: Darüber müssen wir gleich noch weiter reden. Dennoch, Herr Roth: Helfen Sie uns noch ein bisschen weiter. Sie kennen sich aus mit diplomatischen Gepflogenheiten. Ist ein Staatsbesuch, ein offizieller Staatsbesuch ein besonderes Signal, ein Zeichen der Wertschätzung und des Respekts für den Gast?
Roth: Es ist erst einmal ein Zeichen der Wertschätzung und des Respekts gegenüber einem Volk und gegenüber einem, für uns wichtigen Land. Es hat schon lange auf dieser Ebene keine Besuche gegeben. Ich bin bisweilen erstaunt darüber, dass man nun in Deutschland anfängt zu zählen, wie viele Soldatinnen und Soldaten antreten, um dem Gast Referenz zu erweisen. Lassen Sie uns doch einfach über die Inhalte sprechen und weniger über das Format.
Heinlein: Dennoch noch ein wenig über dieses Staatsbankett. Sie sagen, das ist ein Zeichen des Respekts. Droht jetzt aber nicht ein besonderer Affront, wenn bei diesem Staatsbankett viele wichtige Politiker, allen voran die Kanzlerin, durch Abwesenheit glänzen?
Roth: Das ist eine ans Absurde gehende Diskussion. Es zeugt nicht unbedingt von Heldentum, eine Einladung des Bundespräsidenten zum Abendessen abzulehnen, zumal die Bundeskanzlerin üblicherweise an Staatsbanketten nicht teilnimmt. Jedenfalls hat sie das in den vergangenen Jahren nur sehr, sehr selten getan. Man sollte das nicht überstrapazieren und es ist jedem unbenommen, da hinzugehen oder auch nicht, aber Sie haben ja eingangs auch von einem Freundschaftsspiel gesprochen.
Es geht sicherlich nicht nur um freundliche Töne, aber was ein Gast in Deutschland erwarten sollte, ist Respekt und Fairness, aber Klarheit in der Sache. Ein Abendessen sollte zu den zivilisatorischen Errungenschaften in Europa dazugehören. Ich würde das nicht überbewerten wollen.
"Aber am Ende zählen Taten. Die Türkei muss sich bewegen"
Heinlein: Reden wir über die sanften Töne, Herr Roth. Kann man dieser neuen Tonlage aus Ankara trauen, oder steckt dahinter allein wirtschaftliche Berechnung, auch die Tatsache, dass der Türkei wirtschaftlich das Wasser bis zum Halse steht?
Roth: Das ist ja erst mal ein großer Fortschritt. Denken Sie mal an die inakzeptablen Beleidigungen im vergangenen Jahr, als uns Nazi-Methoden unterstellt wurden. Das waren schwere Beleidigungen und die werden wir auch nicht vergessen. Insofern bin ich dankbar dafür, dass wir jetzt andere Töne aus Ankara hören.
Für die sind wir auch dankbar. Aber am Ende zählen Taten. Die Türkei muss sich bewegen und sie muss sich bewegen in den zentralen Fragen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und sie muss sich bewegen vor allem auch bei der schwierigen Frage von Inhaftierungen aus politischen Gründen. Immerhin sind noch fünf deutsche Staatsbürger in der Türkei inhaftiert und das ist für uns inakzeptabel.
Heinlein: Wie offen kann und muss man diese Dinge gegenüber Präsident Erdogan jetzt ansprechen, die Inhaftierung von fünf deutschen Staatsbürgern?
Roth: Das sind ja Themen, die alle Besuche und alle Gespräche bislang auch geprägt haben. Wir reden ja nicht nur übers schöne Wetter, oder wir tauschen nicht nur Freundlichkeiten aus, sondern wir reden natürlich über das, was uns beschwert. Es gibt eine lange Agenda mit gemeinsamen Themen. Immerhin ist die Türkei ein NATO-Mitgliedsland. Immerhin führen wir formal noch Beitrittsverhandlungen, auch wenn die derzeit praktisch eingefroren sind.
Wir haben in der Migrationsfrage Gemeinsamkeiten, die Lage in Syrien kann nur dann besser werden, wenn die Türkei eine konstruktive Rolle spielt. Da fällt mir ganz, ganz viel ein, worüber wir sprechen müssen und sprechen sollten, und insofern ist es gut, dass wir das jetzt auch hier in Deutschland tun.
"Mich besorgt die wirtschaftliche Lage in der Türkei"
Heinlein: Wird die Bundesregierung bei den Gesprächen mit Erdogan die schwierige wirtschaftliche Lage der Türkei als Druckmittel einsetzen, um diese fünf deutschen Staatsbürger freizubekommen?
Roth: Mich besorgt die wirtschaftliche Lage in der Türkei. Das trägt ja nicht zur Stabilität bei. Die Türkinnen und Türken sind am Ende die Leidtragenden. Insofern sollte man da nicht von Drohpotenzial sprechen. Aber klar ist auch, dass die deutsche Wirtschaft der wichtigste Partner der Türkei ist, und meine Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der deutschen Wirtschaft haben mir eines klargemacht: Rechtsstaatlichkeit wird auch von denen erwartet. Eine unabhängige Justiz wird auch von der Wirtschaft erwartet.
Insofern sind Investitionen in die Rechtsstaatlichkeit, die die türkische Regierung vorzunehmen hat, auch ein guter Anlass, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verbessern. Das hängt schon ein bisschen miteinander zusammen.
Heinlein: Wird denn Klartext geredet werden, wirtschaftliche Investitionen nur, wenn ihr auch investiert in die Rechtsstaatlichkeit, und dazu gehört ganz klar die Freilassung dieser fünf deutschen Staatsbürger?
Roth: Ich habe Ihnen ja die Erwartungshaltung der Wirtschaft geschildert. Wir können keine Unternehmen zwingen, etwas zu tun oder etwas zu lassen, aber mein Eindruck ist, dass es bei Fortschritten in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch wieder eine größere Bereitschaft der deutschen Wirtschaft geben dürfte, sich in der Türkei zu engagieren. Ansonsten sind die wirtschaftlichen Probleme und die Haushaltsprobleme, die wir derzeit in der Türkei doch absehen, hausgemacht. Das heißt, hier sind Strukturreformen nötig, und die muss die türkische Regierung und die muss das türkische Parlament selbst auf den Weg bringen.
"Das schulden wir den Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland, und das sind sehr viele"
Heinlein: Wenn man einen langen Zeithorizont betrachtet, Herr Roth, dann fällt mir jetzt ein: Wandel durch Handel, das ist die alte Devise der Ost- und Entspannungspolitik von Willy Brandt. Gilt das möglicherweise jetzt auch für den Umgang mit der Türkei?
Roth: Unsere Außenpolitik fußt ja auf drei Säulen. Das eine ist die Diplomatie. Das war in den vergangenen Jahren nicht ganz einfach. Die zweite Säule ist der Handel und die dritte, die mir ganz besonders wichtig ist, ist die der Kultur und der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. Wir sollten ein Land ja nicht alleine auf eine Regierung und auf einen Präsidenten fokussieren, sondern immer wieder auch an die Zivilgesellschaft denken, und da haben wir in den vergangenen Jahren unter ganz schwierigen Bedingungen doch neue Brücken zu bauen versucht, damit hier nichts kaputt geht und damit sich auch diejenigen, die nach wie vor an Europa glauben und sich zu den europäischen Werten bekennen, nicht hoffnungslos werden.
Denen fühle ich mich in ganz besonderer Weise verpflichtet, und Handel selbstverständlich trägt auch dazu bei, dass wir wieder enger aneinander rücken und dass wir vorurteilsfreier übereinander sprechen. Das schulden wir den Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland, und das sind sehr viele, die zu uns gehören und die uns bereichern und die Teil unseres Landes sind. Das schulden wir aber auch traditionell guten Verbindungen zur Türkei, und derzeit sind wir von einer Normalisierung der Beziehungen noch weit entfernt.
Heinlein: Unter dem Strich, Herr Roth, habe ich den Eindruck, dass Sie durchaus optimistisch blicken auf den Erdogan-Besuch ab heute in Berlin. Könnte dieser Besuch tatsächlich eine neue Phase der Entspannung, eine neue Phase der Beziehungen zwischen Berlin und Ankara einläuten?
Roth: Das würde mich sehr, sehr freuen. Die letzten Jahre habe ich als sehr belastend empfunden, vor allem auch für die Menschen in der Türkei. Das Klima hier auch in Deutschland drohte, vergiftet zu werden. Die türkische Gemeinde spielt ja bei uns in ihrer ganzen Vielfalt eine große Rolle. Wir werden das nicht vergessen, was passiert ist, aber wir sind zur Zusammenarbeit bereit und ich hoffe, dass den Worten jetzt auch konkrete Taten folgen. Wie gesagt, maßgeblich liegt das Heft des Handelns in den Händen des türkischen Präsidenten und der türkischen Regierung.
Wir sind bereit, aufeinander zuzugehen, und es gibt viele Themen in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Wirtschaftspolitik, im kulturellen Miteinander, wo eine enge Zusammenarbeit vonnöten wäre.
Heinlein: Staatsminister Michael Roth heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Herr Roth, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin.
Roth: Alles Gute! - Tschüss!
Heinlein: Tschüss!
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