Türkei
Was die Festnahme des Erdogan-Rivalen İmamoğlu bedeutet

Türkische Behörden haben den wichtigsten politischen Rivalen von Präsident Erdogan festgenommen. Kritiker sehen darin den Versuch, die Wahlchancen der Opposition zu schwächen.

    Auf einem Transparent ist das Foto des türkischen Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu von der CHP zu sehen.
    Auch wenn bislang keine Beweise gegen Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu veröffentlicht wurden, könnte am Ende eine langjährige Haftstrafe stehen (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Emrah Gurel)
    Eigentlich sollte Ekrem İmamoğlu in wenigen Tagen zum Präsidentschaftskandidaten der CHP ernannt werden. Am 19.03.2025 wurde er festgenommen. Die linksnationale CHP ist die größte Oppositionspartei der Türkei, İmamoğlu gilt als mächtiger Rivale von Staatschef Recep Tayyip Erdogan.
    Die Opposition sprach von einem Putschversuch, die türkische Börse reagierte mit einem kurzzeitigen Kursabstieg. Einige Social-Media-Plattformen wie X wurden eingeschränkt. Außerdem wurden mehr als hundert weitere Personen festgenommen, darunter Politiker der Opposition.
    Im Südwesten der Türkei und in Istanbul kamen einige tausend Menschen zu Protesten zusammen, obwohl in Istanbul ein vorrübergehendes Versammlungsverbot gilt. Von einer Massenbewegung kann aus Sicht von Beobachtern bislang aber nicht die Rede sein.
    Im Ausland löste die Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters Kritik aus. Konkrete Folgen braucht Präsident Erdogan aus Sicht von Beobachtern derzeit wohl nicht befürchten.

    Inhalt

    Wie lauten die Vorwürfe gegen Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu?

    Akin Gürlek, Generalstaatsanwalt von Istanbul, legt Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu Korruption, Amtsmissbrauch sowie Terrorunterstützung zur Last. Hintergrund des letzten Vorwurfs sind die Kommunalwahlen in Istanbul im vergangenen Jahr. Die CHP-Partei, der İmamoğlu angehört, soll Wahlabsprachen mit der pro-kurdischen DEM-Partei getroffen haben, um Stimmen für einen Gegenkandidaten zum AKP-Kandidaten zu bündeln. Dabei sollen auch PKK-Funktionäre involviert gewesen sein. Die PKK gilt in der Türkei ebenso wie in der EU als Terrororganisation. Belege für die Vorwürfe lassen sich öffentlich nicht einsehen.
    Auch der Hochschulabschluss wurde dem Istanbuler Oberbürgermeister aberkannt, und zwar am Vortag seiner Festnahme. Offenbar soll sein Wechsel von einer Hochschule auf Zypern an die Istanbul University nicht im Einklang mit der Studienordnung gewesen sein. Wenn das Bestand hätte, könnte İmamoğlu nicht kandidieren, weil ein Präsidentschaftskandidat laut Verfassung einen Hochschulabschluss mitbringen muss.

    Was steckt hinter der Festnahme İmamoğlus?

    Ekrem İmamoğlu gilt als aussichtsreichster Kontrahent von Recep Tayyip Erdogan bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2028. Bei der Festnahme gehe es einzig und allein darum, den Kandidaten „abzuschießen“, glaubt Journalist Deniz Yücel, Vorsitzender der Autorenvereinigung PEN Berlin.
    Einen Zusammenhang zwischen İmamoğlus geplanter Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten und seiner Festnahme sehen auch andere Beobachter. Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden zwar erst 2028 statt. Die Oppositionspartei CHP habe ihren Kandidaten aber möglicherweise frühzeitig nominieren wollen, um ihn vor Angriffen zu schützen, berichtet ARD-Korrespondent Benjamin Weber. Damit soll transparenter werden, wenn etwas gegen einen Präsidentschaftskandidaten getan wird. Denn İmamoğlu wird schon länger mit Verfahren überzogen.
    Ein Großteil der Bevölkerung sei begeistert von İmamoğlus Kandidatur, sagt Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die Kür zum Präsidentschaftskandidaten bedeute mehr Rückenwind für İmamoğlu.
    Anders als Erdogan polarisiere er nicht, sondern erreiche verschiedene Gruppen wie Konservative, säkulare Menschen, Kurden oder Aleviten. In Umfragen liege die CHP seit einigen Monaten vor der AKP, İmamoğlu vor Erdogan, sagt der Politologe.
    Möglich sei aber auch, dass der türkische Präsident mit dem Verfahren Druck auf die Oppositionspartei CHP ausüben will, um dieser Zugeständnisse abzuringen, etwa einer Auflösung des Parlaments zuzustimmen. Denn sollte Präsident Erdogan ein drittes Mal für das Amt kandidieren wollen, brauche es entweder eine Verfassungsänderung oder die Auflösung des Parlaments.
    Laut Verfassung darf Erdogan bei den kommenden Präsidentschaftswahlen nicht mehr antreten, denn ein Präsident darf sein Amt nur zweimal ausüben – offiziell befindet sich der türkische Präsident in seiner zweiten Amtszeit.
    Streng genommen ist es bereits Erdogans dritte Amtszeit als Präsident. 2017 hatte er mittels Volksabstimmung die Verfassung ändern lassen. Damit ging auch ein Wechsel des politischen Systems von einem parlamentarischen in ein präsidiales Regierungssystem einher - und die Begrenzung auf zwei Amtszeiten. Bei vorgezogenen Neuwahlen wurde Erdogan 2018 zum zweiten Mal Präsident.
    Als er sich 2023 erneut als Kandidat aufstellen ließ, sah er dies als erste Wiederholungswahl seit der Verfassungsänderung 2017 an. Der Hohe Wahlrat ließ das trotz Protesten der Opposition gelten. Das Vorgehen wurde vom Europarat scharf kritisiert.

    Wie reagiert die türkische Zivilgesellschaft?

    Nach der Festnahme İmamoğlus kam es zu Protesten, sowohl in Istanbul – und das trotz eines bis Sonntag, dem 23. März geltenden Versammlungsverbots –, als auch in anderen türkischen Städten. Sie erreichten aber bislang nicht das Ausmaß einer Massenbewegung.
    Auch in den sozialen Netzwerken machten die Menschen ihrem Ärger Luft. Gegen einige von ihnen geht die türkische Polizei vor. Insgesamt seien 261 Accountinhaber wegen „provokativer Beiträge“ ermittelt worden, 62 davon im Ausland.
    Die Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren verstärkt unter Druck gesetzt worden, unter anderem sind „Pride“-Paraden oder Demonstrationen am 1. Mai oder am Frauentag am 8. März verboten. Wird trotzdem demonstriert, werden die Versammlungen mit massiven Polizeiaufgeboten niedergeschlagen.
    Oberbürgermeister İmamoğlu hat sich während seiner Festnahme in einem Video an die „86 Millionen der Nation“ gewandt und verkündet, er lege sein Schicksal in die Hände der Türkinnen und Türken – möglicherweise ein versteckter Aufruf zu Protesten. Doch wie groß das Mobilisierungspotenzial ist, bleibt abzuwarten.
    Der Journalist Deniz Yücel zeigte sich skeptisch. "Ein paar tausend Leute ist nicht wenig, aber Istanbul hat 15 Millionen Einwohner. Beim Gezi-Aufstand waren an den höchsten Tagen in Istanbul bis zu eine Million Leute auf der Straße. Davon sind wir weit entfernt. Ich glaube, die türkische Gesellschaft ist von diesem Regime eingeschüchtert.“
    Yücel sieht die Türkei am Beginn „einer großen Repressionswelle eines Regimes, das nichts zu verlieren, aber leider auch nichts zu befürchten hat.“

    Was bedeutet die Festnahme für die Opposition?

    Der Vorsitzende der CHP, Özgür Özel, hat die Festnahme İmamoğlus öffentlich als Putschversuch bezeichnet. Akin Gürlek, Generalstaatsanwalt von Istanbul, der sie angeordnet hatte, ist in seinen Augen „eine politische Marionette“. Er handele im Interesse des Präsidenten. Erdogan stecke hinter allem, weil er die Niederlage bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr nicht verkraftet habe, so Özel.
    Der CHP-Vorsitzende kündigte an, man werde İmamoğlu in Abwesenheit zum Präsidentschaftskandidaten küren. Auch die DEM-Partei hat die Festnahme İmamoğlus kritisiert.

    Droht Oppositionsführer İmamoğlu jetzt Gefängnis?

    Im schlimmsten Fall kann İmamoğlu wegen Terrorunterstützung für schuldig befunden werden, sagt Politologe Ysar Aydin (SWP). Dann erwarteten ihn ein Politikverbot und möglicherweise eine mehrjährige Gefängnisstrafe. Der Politiker hat allerdings angekündigt, Rechtsmittel gegen das Verfahren einzulegen.
    Nicht wenige Oppositionspolitiker in der Türkei sitzen im Gefängnis, meistens kurdische Politikerinnen und Politiker. Auch der DEM-Vorsitzende Selahattin Demirtas sitzt seit 2016 ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dessen Freilassung längst angefordert. Das wird von der Türkei ignoriert. Dass es nun mit der CHP die größte Oppositionspartei und den Oberbürgermeister Istanbuls trifft, sei neu, so Aydin.

    Was kann Europa bewirken?

    Das Auswärtige Amt sowie SPD- und Unionspolitiker sprechen mit Blick auf das Vorgehen von Rückschlägen für die Demokratie in der Türkei oder sogar Angriffen auf sie. Druck von außen müsse der türkische Machthaber derzeit jedoch kaum befürchten, sagte der Journalist Deniz Yücel. In den USA lege Präsident Trump „die Kettensäge an den Rechtsstaat“. 
    In Europa läge die Priorität auf der eigenen Sicherheit angesichts des Ukraine-Kriegs oder Syriens. Erdogan wisse die geostrategisch bedeutsame Rolle der Türkei in Bezug auf die europäische Sicherheitsarchitektur geschickt einzusetzen.

    tha