Es war der Tag ihres Lebens: 300.000 Menschen pilgerten am Sonntagabend in das Istanbuler Stadtviertel Zeytinburnu, um Ministerpräsident Erdogan zuzujubeln.
Hausfrauen mit Kopftüchern und geblümten Röcken, die mit Tränen in den Augen Erdogans Worten lauschten; gestandene Männer, die wie kleine Jungs orange-weiße Fähnchen durch die Luft schwenkten.
"Lasst uns das große Spiel zerstören!", hatte es auf der Einladung geheißen, die zuvor in unzähligen Istanbuler Briefkästen gelegen hatte. Recep, der voller Stolz den gleichen Vornamen wie der Ministerpräsident trägt, erklärt:
"Ich bin mir sicher, dass das Ganze ein vom Ausland initiiertes Spiel ist. Sie wollen einfach keine starke Türkei sehen. Europa, Amerika und natürlich die Zionisten wollen einfach kein mächtiges islamisches Land in der Welt."
Die aktuellen Proteste, so denken auch die meisten anderen Erdogan-Unterstützer um Recep, richten sich nicht gegen die restriktive Politik des Ministerpräsidenten, gegen brutale Polizeieinsätze, Journalistenverhaftungen und Demonstrationsverbote, sondern am Ende vor allem gegen dessen Religiosität. Ein Gedanke, den der türkische Ministerpräsident selbst bei jeder Gelegenheit unterstreicht - so natürlich auch in diesen Tagen:
"Er sagt, die Demonstranten wären mit Schuhen in eine Moschee gegangen und hätten dort Alkohol getrunken","
wiederholt der Politikwissenschaftler Sahin Alpay ein Gerücht, das Erdogan und seine Anhänger seit Tagen verbreiten.
Keiner weiß, ob das wirklich stimmt. Aber dadurch, dass er es ständig wiederholt, versucht Erdogan die Demonstranten zu verteufeln, sie von allen zu entfremden, denen religiöse Werte wichtig sind.
Und das sind viele: 90 Prozent der Türken geben in Umfragen an, dass ihnen Religion etwas bedeutet. Und auch für alle, die seit mehr als zehn Jahren für Erdogans islamische AK-Partei stimmen, sind dessen religiöse Bekenntnisse und Taten zweifelsohne mitentscheidend. Allein in Istanbul erreichte Erdogans Partei zuletzt mehr als 49 Prozent der Stimmen.
Wer Erdogans Wähler finden will, der muss sich wegbewegen vom Taksim-Platz. Weg von dort, wo die Welt jetzt hinschaut. Nach Fatih zum Beispiel, einem Gewirr aus kleinen Gassen über dem Goldenen Horn, berühmt für seine zahlreichen Moscheen. Während die Frauen in anderen Istanbuler Stadtteilen im Sommer kurze Röcke tragen, verhüllen sie sich in Fatih mit Kopftüchern oder dunklen Mänteln. Die Unterstützung für Erdogan ist hier enorm. Das Verständnis für die Demonstranten gering.
""Ich verstehe nicht, wie man so ein Aufheben um ein paar Bäume machen kann","
schimpft Alparslan, der mit einem Glas Tee in der Hand vor seinem Gemüseladen in der Sonne sitzt, über den Ausgangspunkt der aktuellen Proteste. Alparslan mag Bäume - aber vor allem schätzt er den wirtschaftlichen Aufschwung, den die Türkei unter Erdogan erlebt hat. Und auch das Gefühl, dass sich die Türkei dank Erdogan auf ihre islamischen Werte zurückbesinnt.
""Nachdem er die Regierung übernommen hat, hat er gezeigt, dass er ein guter Ministerpräsident ist. Ich würde ihn mit gutem Gewissen wiederwählen."
Hat er selbst je mit einem Demonstranten gesprochen? Weiß er, dass es längst nicht mehr nur um Bäume geht? Alparslan winkt ab. "Mit denen kann man nicht reden", sagt er, "die trinken sogar Alkohol in der Moschee."
Auch die Frau, die ein paar Straßen weiter ihre Einkaufstüten nach Hause schleppt, weiß davon.
"Ich habe außerdem gehört, sie greifen Frauen mit Kopftüchern an!","
sagt sie empört.
Aber wenn ihnen doch angeblich ihre Freiheit so wichtig ist, dann sollten wir auch die Freiheit haben, ein Kopftuch zu tragen!
Es ist dieses "ihr" und "wir", das sich seit Beginn der Proteste wie ein roter Faden durch die Reden Erdogans zieht - und so auch die Gedanken seiner Anhänger bestimmt. Ihr, die ihr die Religion mit Füßen tretet, die ihr in Moscheen Alkohol trinkt und Frauen mit Kopftuch angreift. Wir, die wir unsere islamischen Werte ehren. Erdogan geht es so darum, einen Keil zwischen die Protestbewegung und die eigene, konservativ-religiöse Wählerschaft zu treiben. Die Strategie scheint aufzugehen. Und dennoch, wendet Politikwissenschaftler Alpay ein:
""Der Premierminister glaubt, an religiöse Gefühle zu appellieren, verleihe ihm Macht. Ich denke, er irrt. Der Grund für seinen Erfolg in den letzten Jahren war seine EU-Politik, die Tatsache, dass er den Menschen Selbstvertrauen gegeben und demokratische Reformen durchgeführt hat. Jetzt aber gräbt er sich sein eigenes politisches Grab."
Noch weiß keiner, ob es so kommen wird, noch zeigen Großkundgebungen wie am Wochenende, dass die Unterstützung für Erdogan in der Türkei groß ist. Und doch steht Politikwissenschaftler Alpay mit seiner Einschätzung längst nicht mehr alleine da.
Hausfrauen mit Kopftüchern und geblümten Röcken, die mit Tränen in den Augen Erdogans Worten lauschten; gestandene Männer, die wie kleine Jungs orange-weiße Fähnchen durch die Luft schwenkten.
"Lasst uns das große Spiel zerstören!", hatte es auf der Einladung geheißen, die zuvor in unzähligen Istanbuler Briefkästen gelegen hatte. Recep, der voller Stolz den gleichen Vornamen wie der Ministerpräsident trägt, erklärt:
"Ich bin mir sicher, dass das Ganze ein vom Ausland initiiertes Spiel ist. Sie wollen einfach keine starke Türkei sehen. Europa, Amerika und natürlich die Zionisten wollen einfach kein mächtiges islamisches Land in der Welt."
Die aktuellen Proteste, so denken auch die meisten anderen Erdogan-Unterstützer um Recep, richten sich nicht gegen die restriktive Politik des Ministerpräsidenten, gegen brutale Polizeieinsätze, Journalistenverhaftungen und Demonstrationsverbote, sondern am Ende vor allem gegen dessen Religiosität. Ein Gedanke, den der türkische Ministerpräsident selbst bei jeder Gelegenheit unterstreicht - so natürlich auch in diesen Tagen:
"Er sagt, die Demonstranten wären mit Schuhen in eine Moschee gegangen und hätten dort Alkohol getrunken","
wiederholt der Politikwissenschaftler Sahin Alpay ein Gerücht, das Erdogan und seine Anhänger seit Tagen verbreiten.
Keiner weiß, ob das wirklich stimmt. Aber dadurch, dass er es ständig wiederholt, versucht Erdogan die Demonstranten zu verteufeln, sie von allen zu entfremden, denen religiöse Werte wichtig sind.
Und das sind viele: 90 Prozent der Türken geben in Umfragen an, dass ihnen Religion etwas bedeutet. Und auch für alle, die seit mehr als zehn Jahren für Erdogans islamische AK-Partei stimmen, sind dessen religiöse Bekenntnisse und Taten zweifelsohne mitentscheidend. Allein in Istanbul erreichte Erdogans Partei zuletzt mehr als 49 Prozent der Stimmen.
Wer Erdogans Wähler finden will, der muss sich wegbewegen vom Taksim-Platz. Weg von dort, wo die Welt jetzt hinschaut. Nach Fatih zum Beispiel, einem Gewirr aus kleinen Gassen über dem Goldenen Horn, berühmt für seine zahlreichen Moscheen. Während die Frauen in anderen Istanbuler Stadtteilen im Sommer kurze Röcke tragen, verhüllen sie sich in Fatih mit Kopftüchern oder dunklen Mänteln. Die Unterstützung für Erdogan ist hier enorm. Das Verständnis für die Demonstranten gering.
""Ich verstehe nicht, wie man so ein Aufheben um ein paar Bäume machen kann","
schimpft Alparslan, der mit einem Glas Tee in der Hand vor seinem Gemüseladen in der Sonne sitzt, über den Ausgangspunkt der aktuellen Proteste. Alparslan mag Bäume - aber vor allem schätzt er den wirtschaftlichen Aufschwung, den die Türkei unter Erdogan erlebt hat. Und auch das Gefühl, dass sich die Türkei dank Erdogan auf ihre islamischen Werte zurückbesinnt.
""Nachdem er die Regierung übernommen hat, hat er gezeigt, dass er ein guter Ministerpräsident ist. Ich würde ihn mit gutem Gewissen wiederwählen."
Hat er selbst je mit einem Demonstranten gesprochen? Weiß er, dass es längst nicht mehr nur um Bäume geht? Alparslan winkt ab. "Mit denen kann man nicht reden", sagt er, "die trinken sogar Alkohol in der Moschee."
Auch die Frau, die ein paar Straßen weiter ihre Einkaufstüten nach Hause schleppt, weiß davon.
"Ich habe außerdem gehört, sie greifen Frauen mit Kopftüchern an!","
sagt sie empört.
Aber wenn ihnen doch angeblich ihre Freiheit so wichtig ist, dann sollten wir auch die Freiheit haben, ein Kopftuch zu tragen!
Es ist dieses "ihr" und "wir", das sich seit Beginn der Proteste wie ein roter Faden durch die Reden Erdogans zieht - und so auch die Gedanken seiner Anhänger bestimmt. Ihr, die ihr die Religion mit Füßen tretet, die ihr in Moscheen Alkohol trinkt und Frauen mit Kopftuch angreift. Wir, die wir unsere islamischen Werte ehren. Erdogan geht es so darum, einen Keil zwischen die Protestbewegung und die eigene, konservativ-religiöse Wählerschaft zu treiben. Die Strategie scheint aufzugehen. Und dennoch, wendet Politikwissenschaftler Alpay ein:
""Der Premierminister glaubt, an religiöse Gefühle zu appellieren, verleihe ihm Macht. Ich denke, er irrt. Der Grund für seinen Erfolg in den letzten Jahren war seine EU-Politik, die Tatsache, dass er den Menschen Selbstvertrauen gegeben und demokratische Reformen durchgeführt hat. Jetzt aber gräbt er sich sein eigenes politisches Grab."
Noch weiß keiner, ob es so kommen wird, noch zeigen Großkundgebungen wie am Wochenende, dass die Unterstützung für Erdogan in der Türkei groß ist. Und doch steht Politikwissenschaftler Alpay mit seiner Einschätzung längst nicht mehr alleine da.