Mehr als drei Jahre ist es her, dass die deutsche Journalistin Mesale Tolu in der Türkei festgenommen wurde. Auf Druck der Bundesregierung kam Tolu nach einem halben Jahr frei und konnte vor zwei Jahren auch nach Deutschland ausreisen, doch der Prozess gegen sie, wegen Terrorvorwürfen, zieht sich weiter hin – das Gericht in Istanbul vertagte sich gerade am vergangenen Dienstag in um ein weiteres halbes Jahr, ohne dass ein Ende in Aussicht ist.
Im Prozess gegen den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel könnte dagegen an diesem Donnerstag ein Urteil fallen. Das Verfahren dauert auch schon mehr als zwei Jahre, und Yücel saß ein Jahr in Untersuchungshaft, bevor überhaupt Anklage erhoben wurde.
Ein Berufsrisiko für Journalisten
Anklagen, Gerichtsverfahren - Für Journalisten in der Türkei gehört es heute zum Berufsrisiko, sofern sie ihren Beruf ernst nehmen und unabhängig von Weisungen der Regierung recherchieren und berichten.
Die türkische Vereinigung für Pressefreiheit, P24, beobachtet die Repressionen gegen Journalisten und führt Buch darüber. In der vergangenen Woche zum Beispiel sah das so aus:
Montag, 6. Juli:
Zweiter Verhandlungstag im Prozess gegen einen Journalisten der Zeitung "Evrensel" wegen Präsidentenbeleidigung; die Zeitung hatte Karikaturen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan aus deutschen Federn nachgedruckt
Ein Gericht in Ankara verbietet einen Artikel in der Zeitung "Cumhuriyet", in dem über Korruption in den Behörden berichtet wird; die Internet-Seite wird gesperrt.
Dienstag, 7. Juli:
Erster Verhandlungstag im Prozess wegen Präsidentenbeleidigung gegen den Journalisten Oktay Candemir wegen einer Zeitungskolumne vom Juli 2019. Gegen den kurdischen Journalisten laufen mehrere weitere Prozesse, nach zwei Verurteilungen ist er derzeit bis zur Berufung auf freiem Fuß
Zweiter Verhandlungstag im Prozess gegen die Journalistin Ruken Demir wegen Vorwürfen der Terrorpropaganda. Nach vier Monaten in Untersuchungshaft ist die Journalistin nun auf freiem Fuß, bis der Prozess im November fortgesetzt wird.
Ein Strafgericht in Istanbul billigt die Anklage zweiter Schauspieler wegen Präsidentenbeleidigung aufgrund von Äußerungen in einer TV-Talkshow
Donnerstag, 9. Juli:
Fortsetzung eines Prozesses wegen Terrorpropaganda gegen ein ehemaliges Mitglied des Redaktionsbeirates der kurdischen Zeitung "Özgür Gündem"
Fortsetzung des Spionage-Prozesses gegen den Journalisten Can Dündar, der für die Zeitung "Cumhuriyet" über türkische Waffenlieferungen nach Syrien recherchiert hatte und nun im Exil in Deutschland lebt
Verhandlungstag im Prozess gegen den Journalisten Yetkin Yildiz wegen Beleidung eines früheren Innenministers. Yildiz ist erst seit vergangenem Monat wieder auf freiem Fuß, nachdem er wegen Putschvorwürfen vier Jahre hinter Gittern saß
Fortsetzung des Prozesses um eine Schadensersatzklage des Verteidigungsministers gegen die Journalistin Müyesser Yildiz vom Nachrichtenportal Oda-TV; gegen die Journalistin laufen zugleich auch strafrechtliche Ermittlungen
Freitag, 10. Juli
Ein Berufungsgericht bestätigt die Verurteilung der Journalistin Asli Ceren Aslan wegen ihrer Berichterstattung für die kurdische Zeitung "Özgür Gelecek": Aslan kommt für sechs Jahre und neun Monate hinter Gitter.
Ereignisse aus einer einzigen Woche. Nach Zählung der Plattform P24 sitzen derzeit 93 Journalisten in der Türkei im Gefängnis. Viele weitere müssen täglich damit rechnen, festgenommen, verhaftet oder verurteilt zu werden – und manche nicht zum ersten Mal.
Die meisten herkömmlichen Medien werden von der Regierung kontrolliert
So wie Chefredakteur Baris Pehlivan vom oppositionellen Nachrichtenportal Oda-TV: Wegen seiner Arbeit für das Portal saß er schon vor neun Jahren eineinhalb Jahre lang in Untersuchungshaft. Seit diesem Frühjahr sitzt er wieder - diesmal wegen der Berichterstattung über einen türkischen Geheimdienst-Einsatz in Libyen. Mit einer kurzen Video-Botschaft aus dem Gerichtsgebäude verabschiedete sich Pehlivan bei seiner Festnahme im März von seinen Lesern:
"Ich grüße euch, liebe Leser. Ich soll offenbar wieder eingesperrt werden. Macht euch keine Sorgen, ich komme auch irgendwann wieder raus, und meine Kollegen auch. Wir sollen den Preis dafür bezahlen, dass wir journalistisch arbeiten – so wie ich schon vor neun Jahren dafür bezahlt habe. Wir lassen uns davon nicht abschrecken. Wir stehen für unsere Arbeit als Journalisten ein und gehen dafür ins Gefängnis."
Mit einem Smartphone wurde Pehlivans Botschaft von seinen Kollegen aufgezeichnet und auf Youtube hochgeladen – so erreichte sie die Öffentlichkeit, obwohl die meisten herkömmlichen Medien längst von der Regierung kontrolliert werden.
Dieses Schlupfloch mache Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu schaffen, sagt der Journalist Rusen Cakir - er hat mit der Internet-Plattform Medyascope ebenfalls ein alternatives Medium geschaffen, das der Zensur bisher entschlüpft: Erdogan hat die erdrückende Mehrheit der traditionellen Medien in der Türkei schrittweise unter seine Kontrolle gebracht, sagt Cakir. Das habe mit den Zeitungen Yeni Safak, Star und der Sabah-Gruppe begonnen und sei mit der Übernahme der Dogan-Mediengruppe durch den regierungsnahen Unternehmer Demirören größtenteils vollendet worden. Seither rege sich im Radio, im Fernsehen und in den Zeitungen der Türkei kein Blatt mehr ohne Erdogans Erlaubnis. Und dennoch reiche es nicht. Obwohl er die traditionellen Medien vollkommen kontrolliere, machten ihm die sozialen Medien zu schaffen.
Zu ähnlichen Schlüssen kommt die amerikanische Denkfabrik "Center of American Progress", die in einer empirischen Studie kürzlich mehr als 2500 Türken zu ihrem Medienkonsum befragte. Die Kontrolle über die Medien ist demnach ein zweischneidiges Schwert, sagt Andrew O’Donohue, der Co-Autor der Studie ist: "Präsident Erdogan hat sich beispiellose Kontrolle darüber verschafft, was die Medien sagen und schreiben. Aber unsere Forschungen zeigen, dass seine Manipulation der Medien auf mindestens zwei Arten nach hinten losgeht. Zum einen haben die Zensurmaßnahmen der Regierung ein weit verbreitetes, tiefes Misstrauen gegen die Medien erzeugt."
Misstrauen gegenüber Medien
70 Prozent der befragten Türken, also mehr als zwei Drittel, gaben in der Studie an, dass sie den Medien misstrauen. Und 56 Prozent, also mehr als die Hälfte, glauben nicht an Pressefreiheit in der Türkei. Sogar unter den Erdogan-Wählern ist das Misstrauen gegenüber den Medien groß, in Drittel seiner Anhänger räumt ein, dass die Medien nicht frei seien.
"Das zeigt, dass selbst die Anhänger des Präsidenten wissen, dass die Nachrichten manipuliert werden. Erdogan kann die Medien zwar kontrollieren, aber die meisten Türken - etwa 70 Prozent - glauben ohnehin nicht, was sie in der Zeitung lesen oder im Fernsehen hören."
Das liegt daran, dass zensierte Medien einfach nicht glaubwürdig sind, sagt der Journalist Rusen Cakir: "Erdogan kontrolliert so viele Kolumnisten, Moderatoren, Interviewer, Eigentümer von Internet-Portalen, Journalisten - aber es nützt ihm nichts. Vor den Kommunalwahlen letztes Jahr ist er durch alle Sender gezogen und hat Interviews gegeben, aber er hat damit niemanden vom Hocker reißen können. Warum? Weil die Journalisten dieser Sender Angst haben. Sie können ihn nicht interviewen, wie ein Journalist einen Politiker interviewt, sie können keine echten Fragen stellen. Und weil sie keine ehrlichen Fragen stellen, kommt auch keine ehrliche Antwort. Am Ende gehen alle lächelnd ihres Weges, aber das Interview hat überhaupt nichts gebracht."
Ehrliche Antworten auf ihre Fragen erwarten die Türken von den herkömmlichen Medien nicht mehr. Immer mehr Türken suchen diese Informationen inzwischen anderswo, sagt der Forscher O’Donohue: "Das zweite große Problem für Erdogan ist, dass die Zensur viele Türken abschreckt von Zeitungen, Fernsehen und anderen traditionellen Medien, die von der Regierung kontrolliert werden. Sie wandern deshalb ab zu sozialen Medien und Online-Medien, die weniger regierungsabhängig sind. Zum Beispiel ist der Anteil der Türken, die ihre Nachrichten vom Fernsehen beziehen, innerhalb von drei Jahren um 15 Prozentpunkte gefallen, von 87 auf 72 Prozent. Erdogan hat jetzt das Problem, dass als Ergebnis seiner Kontrolle der Medien viele Türken zu den sozialen Medien abwandern, die er nicht so gut kontrollieren kann – nicht nur Oppositionelle, sondern auch seine eigenen Wähler."
Und das bedeutet für Erdogan nichts Gutes, wie die Forscher vom Center for American Progress herausgearbeitet haben: "Wenn man zwei Türken betrachtet, die demographisch identisch sind und bei der letzten Wahl beide für Erdogan gestimmt haben: Wenn einer seine Nachrichten aus den sozialen Medien bezieht und der andere aus dem Fernsehen, dann wird der Nutzer von sozialen Medien statistisch kritischer gegen Erdogan sein. Die Zensur der traditionellen Medien hat Erdogan zwar einen kurzfristigen Nutzen gebracht, aber wenn sich die Leute nun vom Fernsehen abwenden und mehr soziale Medien nutzen, die kritischer sind, dann wird er langfristig den öffentlichen Diskurs nicht mehr effektiv kontrollieren können."
Der öffentliche Diskurs entgleitet dem Diktat der regierungsnahen Medien
Tatsächlich hat dieser Prozess bereits begonnen: Der öffentliche Diskurs entgleitet dem Diktat der regierungsnahen Medien und wird zunehmend von den sozialen Medien bestimmt. Davon profitieren Erdogans Rivalen – nicht nur der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der kemalistischen Opposition, sondern auch einstige Weggefährten von Erdogan, die ihm den Rücken gekehrt und eigene Parteien gegründet haben.
In den klassischen, türkischen Presseorganen werden sie weitgehend totgeschwiegen: der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan mit seiner Lösungspartei und der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit seiner Zukunftspartei. Doch in den sozialen Medien erreichen sie ein Millionenpublikum. Ein 30-minütiges Propaganda-Video über Ali Babacan wurde auf Youtube kürzlich fast zweieinhalb Millionen Mal angeklickt. Davutoglu wandte sich auf seinem eigenen Youtube-Kanal direkt an Erdogan:
"Obwohl ihr alle Medien kontrolliert, sieht das Volk sehr wohl, was ihr da spielt. Und obwohl du uns alle Medien versperrst, kommt unsere Botschaft doch durch – und wird im Volk weitergegeben, von Ohr zu Ohr, von Menschen mit Gewissen an Menschen mit Herz."
Mit einem süffisanten Lächeln sagte Davutoglu das - als wisse er genau, wie das den Präsidenten ärgern werde. Die Reaktion aus dem Präsidentenpalast ließ auch nicht lange auf sich warten: "Wem wollt ihr das denn erzählen? Mit ein paar Aktionen auf Youtube werdet ihr gar nichts bewegen."
So sicher war sich Erdogan da aber offenbar nicht. Jedenfalls versuchte er sich kurz darauf selbst an einer Youtube-Aktion, die er "Begegnung mit der Jugend" nannte - doch die ging gründlich daneben. Wegen einer Flut von spöttischen Kommentaren ließ das Präsidialamt die Kommentarfunktion noch während Erdogans Ansprache sperren. Daraufhin senkten die Nutzer kollektiv den Daumen: 420.000 Dislikes erhielt das Video, gegen nur 120.000 Likes.
Dumm gelaufen, meint der Sozialwissenschaftler O’Donohue: "Das ist tief beunruhigend für Erdogan, weil die sozialen Medien ein so wirksames Instrument sind, um die jungen Wähler zu erreichen – und gerade die gehen Erdogan immer mehr verloren. Die sozialen Medien schwächen seinen Rückhalt und stärken die Opposition – sowohl die traditionelle Opposition als auch die neuen Parteien im konservativen Lager, die Wähler aus Erdogans traditioneller Basis ansprechen. Diese Verluste kann er sich nicht leisten, denn die letzte Wahl hat er nur knapp gewonnen." Eine echte Bedrohung für Erdogan sieht auch Journalist Cakir, der den Präsidenten seit Anbeginn seiner politischen Laufbahn beobachtet.
"Wir bekommen hier ein Drama zu sehen oder vielmehr eine Tragödie: Da haben wir einen Präsidenten, der 90 Prozent aller Medien im Land kontrolliert und das Land quasi allein regiert. Und dann haben wir ein paar Menschen, die sich von ihm losgesagt haben - Davutoglu und vor allem Babacan - , und die schaffen es trotz aller Zensurmaßnahmen langsam, aber sicher und auf leisen Sohlen, gegen Erdogan aufzutreten. Das macht ihn wütend: Er hat alle Macht, er kann jederzeit in jedem Fernsehsender auftreten, ihm stehen alle Mittel des Staates und der Partei zur Verfügung. Und dennoch schaffen es diese Leute, denen er jeden Zugang zu den Medien fest verschlossen hat: Sie kommen aus den Ecken und Winkeln an die Öffentlichkeit und treten dort sehr wirksam auf. Das erinnert an diese alten Filme, wo ein armer Bursche vom reichen Fabrikbesitzer fortgejagt wird, aber alle Hindernisse überwindet und am Ende mit der Tochter des Fabrikbesitzers abhaut."
Auch soziale Medien sollen unter Kontrolle gebracht werden
Diese Gefahr sieht der türkische Staatspräsident Erdogan vermutlich auch. Nach den traditionellen Medien will er deshalb jetzt auch die sozialen Medien seiner Kontrolle unterwerfen - das kündigte er zu Monatsbeginn an. Einige despektierliche Äußerungen über seinen Schwiegersohn auf Twitter nahm er zum Anlass, um in die Offensive zu gehen. Der Schwiegersohn hatte auf Twitter die Geburt seines vierten Sohnes verkündet, und einige Nutzer zweifelten die Vaterschaft des Kindes an. Am nächsten Tag kündigte Erdogan Konsequenzen an:
"Versteht ihr jetzt, warum wir gegen soziale Medien wie Youtube, Twitter, Netflix undsoweiter sind? Damit wir solche Unverschämtheiten ausmerzen können! Wir werden jetzt sofort gesetzliche Vorschriften vom Parlament beschließen lassen, mit denen die sozialen Medien abgeschafft oder kontrolliert werden. Wir werden per Gesetz dafür sorgen, dass der Zugang zu den sozialen Medien künftig beschränkt werden kann und dass sie juristisch und finanziell sanktioniert werden können."
Noch während Erdogan das sagte, wurden landesweit die Verfasser der anstößigen Twitter-Botschaften von der Polizei eingesammelt und zum Haftrichter gebracht. Der Präsident sei den sozialen Medien nicht gerade hilflos ausgeliefert, meint Rusen Cakir.
"Die sozialen Medien in der Türkei stehen bereits weitgehend unter staatlicher Kontrolle. Wenn man in den sozialen Medien etwas teilt, das den Machthabern nicht gefällt, dann kann es durchaus passieren, dass nachts die Polizei an die Wohnungstür klopft. Man kann vor Gericht gestellt, verurteilt und eingesperrt werden - das geschieht ja dauernd. Außerdem sind tausende Internet-Seiten gesperrt, die Gerichte sind der Regierung da stets zu Willen. Aber das reicht den Machthabern nicht, weil sie es nicht vollkommen kontrollieren können."
Diese vollkommene Kontrolle soll jetzt kommen. Einen Gesetzentwurf hat die Regierung schon in der Schublade - er wurde dem Parlament im Frühjahr schon einmal im Paket mit anderen Gesetzesvorhaben vorgelegt, nach einem öffentlichen Aufschrei aber wieder zurückgezogen, um die übrigen Gesetze im Paket nicht zu gefährden.
Nun werde es aber ernst, meint der Jurist Yaman Akdeniz, der den Gesetzentwurf studiert hat. Er ist Professor an der Istanbuler Bilgi-Universität und Experte für Internet-Recht. "Demnach sollen alle sozialen Medien – Twitter, Facebook, YouTube, Google, TikTok, Instagram und was es sonst noch gibt –, diese Unternehmen sollen alle Vertretungen in der Türkei eröffnen müssen und sich türkischen Gesetzen unterwerfen. Dazu sollen sie mit dem Gesetz gezwungen werden. Wenn sie sich nicht unterwerfen oder keine Vertretung in der Türkei eröffnen, dann sollen ihre Dienste so stark gedrosselt werden, dass sie nicht mehr nutzbar sind - das ist der Plan."
"Diesen Krieg führt er aus Wut"
Und das ist noch nicht alles, sagte Akdeniz in einem Interview von Medyascope: "Dem Gesetzentwurf zufolge sollen außerdem die Daten aller Nutzer der sozialen Medien in der Türkei gespeichert werden. Dadurch will die Regierung herausbekommen können, wem die Konten bestimmter Trolls oder auch oppositioneller Stimmen gehören, damit sie strafrechtlich verfolgt werden können. Das wird auf die Gesellschaft einen sogenannten chilling effect haben, so wie eine kalte Dusche: Aus Angst, dass ihre Konten und Daten preisgegeben und sie vor Gericht gestellt werden können, werden die Nutzer keine regierungskritischen Inhalte mehr teilen. Darum geht es."
Erdogan hat den sozialen Medien also den Krieg angesagt. Kann er ihn gewinnen? Rusen Cakir: "Nein, so ein Krieg ist auf keinen Fall zu gewinnen. Es ist ein sinnloser Krieg, denn es ist ja nicht einmal klar, wer der Gegner ist. Da kämpft ein Staat gegen Strukturen, die er nicht kennt und nicht verorten kann - und tun kann er fast nichts, außer sie zu verbieten. Wenn der Staat aber eine Plattform schließt, dann macht eben eine andere auf. Verbietet man Youtube, taucht eine andere Video-Plattform auf, oder die Leute wechseln zu Podcasts oder zu geschriebenen Nachrichten. Das bekommt man nicht so leicht in den Griff. Das bringt weder die Türkei noch sonst ein Staat so leicht fertig."
Erdogan werde es trotzdem versuchen – und daran scheitern, meint Cakir: "Diesen Krieg führt er aus Wut, dass die sozialen Medien ihn unterkriegen und er sie nicht unterkriegen kann. Und deshalb ist das ein Krieg, der von Anfang an verloren ist. Vielleicht kann er kurzfristig die eine oder andere Schlacht gewinnen, aber den Krieg gewinnt er nicht. Doch indem er diesen Krieg führt, verliert er Zug um Zug die Jugend des Landes, die Generation Z, und darunter auch viele junge Leute, die ihn bisher unterstützt haben. Und so wird seine Partei, die AKP, schrittweise zur Partei der alten Leute."
Bedeutet das für den türkischen Staatspräsidenten das nahe Ende an der Macht? Nein, meint der Journalist Cakir, so weit sei es noch nicht – denn zu einem Machtkampf gehörten mindestens zwei:
"Wird die Opposition dieses Vakuum füllen können? Ich bezweifele das. Freilich können einige Oppositionsparteien, vor allem die Neugründungen, die sozialen Medien besser für sich nutzen. Aber ich erkenne bisher bei keiner Partei eine Führungspersönlichkeit, die es vermag, diese Gesellschaftsschichten zu mobilisieren, die mit den sozialen Medien aufgewachsen sind und mit ihnen leben. Nur: Wenn die Regierung so weiter macht mit ihrem Krieg gegen die sozialen Medien, dann wird sie es noch schaffen, dass die Opposition eine solche Führung hervorbringt."