Oliver Ramme: Im Europaparlament zeichnet sich ein Votum ab, welches auf ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen zielt. Schadet sich die EU damit selber? Vor allem aber: Wie nimmt man das in Ankara wahr? Darüber möchte ich jetzt mit Ismail Küpeli sprechen. Er ist Politikwissenschaftler an der Ruhr-Uni in Bochum. Guten Abend, Herr Küpeli.
Ismail Küpeli: Guten Abend.
Ramme: Es ist ja nicht bindend, was das EU-Parlament beschließt am Donnerstag.
Küpeli: Richtig.
Ramme: Aber es ist ein deutliches Signal. Gehen wir von einem Einfrieren aus. Wer hätte den größeren Schaden, die EU oder die Türkei?
"Beide Seiten müssen für sich entscheiden, was sie aus dem Signal machen."
Küpeli: Ich glaube, einen größeren Schaden hätten beiden Seiten nicht, weil wie Sie ja wirklich sagen: Es handelt sich erst mal um ein Signal, bei dem beide Seiten für sich entscheiden müssen, was sie aus dem Signal machen. Die türkische Seite kann das durchaus ignorieren, aber die türkische Seite kann auch den Beschluss dazu nutzen, um mehr Stimmung zu machen gegen die EU und auch gegen die europäische Politik. Danach sieht es aus und wenn man sich die Äußerungen von Erdogan und anderen führenden AKP-Politikern anschaut, dann ist das bereits in Vorbereitung, dass man den Abbruch der Verhandlungen quasi zu Lasten der EU vollziehen will.
Ramme: Ist man denn darüber traurig in Ankara?
Küpeli: Ich glaube, die Aussetzung der Beitrittsgespräche wird wahrscheinlich keine besondere Last in Ankara bedeuten. Die Beitrittsverhandlungen, die ohnehin stagnieren bis eigentlich gar nicht stattfinden, wenn sie jetzt ausgesetzt werden, dann hätte das eigentlich keine realpolitischen Folgen in der Türkei selbst.
Ramme: Wie müsste man sich denn überhaupt eine EU und Erdogan vorstellen, dieses Verhältnis? Plant Erdogan nicht eine große und mächtige Türkei, eine Art Osmanisches Reich reloaded? Stört da nicht dieser EU-Gemeinschaftsgedanke? Müsste Erdogan nicht sogar froh sein, wenn diese Gespräche nun endlich beendet würden?
"Beide Seiten haben Interesse daran, dass diese Kooperation bestehen bleibt"
Küpeli: Es wäre sicherlich in seinem Sinne, wenn die EU dafür sorgt, dass die Beitrittsgespräche enden. Er könnte das dann auch durchaus in der türkischen Öffentlichkeit so darstellen, dass die Europäer sich jetzt von der Türkei abgewendet hätten. Das wäre sicherlich in seinem Sinne. Aber auf der anderen Seite ist das eigentlich kein Argument dafür, die Beitrittsgespräche nur deswegen fortzusetzen, nur um bloß Erdogan keinen Gefallen zu tun. Das finde ich funktioniert nicht und wird wahrscheinlich keine so entscheidende Rolle spielen für die türkische Realpolitik. Die Türkei orientiert sich bereits in andere Richtungen.
Ramme: Genau: Zu Russland, China und so weiter will man verstärkt Kontakte knüpfen. Sind das denn wirkliche Alternativen zur EU?
Küpeli: Die wirtschaftliche Kooperation mit der EU ist nach wie vor wichtig, aber ich denke,…
Ramme: Die würde auch bestehen bleiben?
Küpeli: Die würde bestehen bleiben und da denke ich, dass beide Seiten Interesse daran haben, dass diese Kooperation bestehen bleibt. Das wird sich sicherlich nicht so schnell ändern. Aber wenn es um Außenpolitik geht, wenn es um Symbolpolitik geht, dann wird die Türkei sicherlich in den nächsten Jahren einen Weg weg von der Europäischen Union beschreiten.
Ramme: Ist dieser Beitrittsgedanke der Türkei nicht auch immer eine psychologische Geschichte gewesen? Das war ja auch eine Suche nach Anerkennung. Und ist die jetzt mit einmal obsolet? Braucht man die nicht mehr? Braucht Erdogan die nicht mehr, da er ja selber einen Nationalstolz kreiert?
"Mann sich eine Entscheidung nicht diktieren lassen"
Küpeli: Wir müssen uns vielleicht auch fragen, ob zu einem früheren Zeitpunkt ein ernsthafter Beitrittsprozess vielleicht eine positive Wirkung gehabt hätte. Wir reden jetzt von den Jahren 2002, 2003, 2004, in denen die AKP noch eine gewisse Reformbereitschaft signalisierte. Gerade in diesen Jahren war aber die europäische Politik so, dass in der Türkei wahrgenommen wurde, es gibt keinen realen Beitrittsprozess, egal was wir in der Türkei unternehmen, es wird nie dazu kommen. Insofern ist diese Abwendung von Europa zum Teil eventuell auch selbst verschuldet. Aber wenn man sich die Türkei heute anschaut, dann ist gerade diese feindliche Stimmung gegenüber dem Westen, gegenüber Europa eine der Methoden, mit der auch die AKP in der Öffentlichkeit mobilisiert. Insofern wird diese symbolische Feindschaft zur Europäischen Union sicherlich nicht wegfallen, weil die AKP dies durchaus braucht. Und wenn jetzt die Europäische Union diese Beitrittsgespräche abbrechen sollte, dann wird das sicherlich auch gut passen in dieser öffentlichen Mobilisierung. Aber ich bin da der Meinung, dass man deswegen nicht sich eine Entscheidung diktieren lassen kann, nämlich dass man diese Beitrittsgespräche fortsetzt, obwohl eigentlich beiden Seiten klar ist, dass es nicht dazu kommen wird. Wir brauchen jetzt ein politisches Signal auch aus Brüssel. Die Frage ist nur, ob die Aussetzung der wirtschaftlichen Kooperation nicht mehr sich auswirken würde als diese politische Aussetzung.
Ramme: Soweit sind wir noch nicht. Wir sind ja erst bei der Frage, sollen wir einfrieren oder gar abbrechen. Ein Abbruch käme ja zum Beispiel, wenn die Türkei die Todesstrafe einführen würde. Aber noch ein Punkt, den ich zum Schluss mit Ihnen besprechen möchte, ist: Inwiefern hätte denn ein Einfrieren oder ein Abbruch der Gespräche Folgen für den Flüchtlingsdeal?
Küpeli: Die Türkei droht ja bereits bei der Nichterfüllung der Visafreiheit, der Visafreiheit für die türkische Bevölkerung mit dem Abbruch des Flüchtlingsdeals, ein Signal, das deutlich stärker ist, nämlich das Einfrieren der Beitrittsgespräche könnte durchaus dazu führen, dass man diesen Flüchtlingsdeal für gescheitert erklärt. Es könnte durchaus sein, dass die Türkei auch real das umsetzt. Die Drohungen, die jetzt immer wieder kommen, dass man die Flüchtlinge Richtung Europa laufen lassen wird, das kann durchaus passieren.
Ramme: Mit Blick auf Brüssel, welchen Rat könnten Sie den dort Verantwortlichen geben im Umgang mit Erdogan, im Umgang mit der Frage EU-Beitritt oder nicht?
"Für viele Vorschläge ist es bereits zu spät"
Küpeli: Für viele Vorschläge ist es bereits zu spät. Was man für die Zukunft noch sich überlegen könnte, ist tatsächlich ein Aussetzen der wirtschaftlichen Kooperation, weil dies…
Ramme: Als Druck?
Küpeli: Ja, weil dies zumindest die Türkei treffen würde. Die Frage ist nur, will man so weit gehen und welche Folgen hätte das dann für die türkische Außenpolitik, die sich dann natürlich deutlich sichtbarer von Europa wegbewegen müsste. Die Folgen einer solchen Entscheidung kann ich kaum abschätzen, aber wenn man tatsächlich ein wirksames Signal aus Brüssel senden will, dann wäre dies die Aussetzung der wirtschaftlichen Kooperation.
Ramme: Der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli von der Ruhr-Universität Bochum war das. Wir sprachen über das europäisch-türkische Verhältnis. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.