Christiane Kaess: Ich habe vor der Sendung mit Boris Reitschuster gesprochen. Er ist Publizist und war jahrelang Russland-Korrespondent, unter anderem für das Nachrichtenmagazin Focus. Ich habe ihn zuerst gefragt, wie das möglich ist, diese plötzliche Annäherung, nach dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei und der Krise danach.
Boris Reitschuster: Ich denke, das kann man vielmehr psychologisch als politisch erklären. Sowohl Erdogan als auch Putin fühlen sich ausgegrenzt, sie fühlen sich vernachlässigt. Es ist ein Treffen der Erniedrigten und Beleidigten wie in der Schule. Die beiden bösen Jungs von der hinteren Bank, die sich ausgeklammert fühlen, die versuchen jetzt hier den Schulterschluss und wollen es den anderen zeigen.
Kaess: Wer ist da wem mehr entgegengekommen?
Reitschuster: Ich denke, in erster Linie ist das ein Entgegenkommen von Putin. Denn Erdogan hat nach dem, was man erfahren hat, doch geradezu gebeten um dieses Treffen. Er hat auch diese Entschuldigung etwas verklausuliert abgeschickt. Also der Zar hat sich hier sehr viel mächtiger gezeigt.
Entgegenkommen von Putin
Kaess: Dann schauen wir als Nächstes auf die Wirtschaft. Im Zentrum dieses Treffens stand ja auch die Wiederbelebung des Projektes der Pipeline Turkish Stream, die hat als tot gegolten nach dieser Krise. Jetzt ist die Frage, ob es Putin nur um die Wirtschaftsinteressen geht.
Reitschuster: Ich denke, die Wirtschaftsinteressen sind für Putin sehr wichtig, vor allem auch die Energiewirtschaft. Hier möchte er ganz klar Europa noch stärker abhängig machen von europäischem Gas und Öl …
Kaess: Von russischem.
Reitschuster: Von russischem Gas und Öl, Entschuldigung. Dazu möchte er die Türkei enger an sich binden, die Türkei hat da eine ganz wichtige Funktion an der Südflanke. Und außerdem hat es auch mit Lebensmitteln und Investitionen zu tun, da ist die Türkei auch hilfreich, da man ja mit Europa und dem Westen hier große Probleme hat im Moment.
Kaess: Wie angespannt ist denn die Lage der russischen Wirtschaft, dass man auf so etwas angewiesen ist?
"Den Spaltpilz in die NATO zu treiben"
Reitschuster: Die Lage ist sehr angespannt, vor allem bei den Lebensmitteln wegen der russischen Gegensanktionen, die Putin ins Leben gerufen hat. Die haben zu einem massiven Preisanstieg geführt und das gibt massiven Unmut bei der Bevölkerung. Und da wären jetzt natürlich Lebensmittel aus der Türkei sehr willkommen, um diese angespannte Lage etwas zu entschärfen.
Kaess: Jetzt war Wladimir Putin einer der Ersten, die Erdogan nach dem Putschversuch angerufen haben. Welche Taktik steckt dahinter?
Reitschuster: Ich denke, bei Wladimir Putin ist das sein politisches ABC. Er versucht, die anderen ganz stark gegeneinander auszuspielen. Er spürte, dass Erdogan unzufrieden ist mit dem Westen, dass er sich vernachlässigt fühlt. Und Wladimir Putin ist ein exzellenter Taktiker, kein Stratege. Er hat das sofort gespürt und da war bei ihm sofort dieser Instinkt, Achse und jetzt hier mit ihm zusammen etwas gegen den Westen machen. Das Problem für Putin wird nur sein, dass diese Stimmungen schwanken, und ich denke nicht, dass Erdogan ein sicherer Kantonist ist für ihn. Aber das gilt auch umgekehrt.
Kaess: Sie sagen, die anderen gegeneinander ausspielen. Aber wie passt das zusammen: Auf der einen Seite hat Putin große Probleme mit der NATO und gleichzeitig versucht er jetzt, engere Bande mit dem NATO-Mitglied Türkei zu knüpfen. Sieht er da eine Chance, einen Keil in die NATO zu treiben?
Reitschuster: Ich denke, das ist sein einziges Ziel hier, den Spaltpilz in die NATO hineinzutreiben, auch den Preis in die Höhe zu treiben. Und das ist die Taktik, die dahintersteckt. Er versucht, die EU zu spalten, er versucht, auch die NATO jetzt zu spalten. Und hier ist die Sollbruchstelle aus seinen Augen im Moment die Türkei. Inwieweit sie das wirklich sein kann, das darf man bezweifeln, weil die Türken auch ihr Spiel spielen.
Kaess: Aber das heißt in Ihren Augen, welches Signal hat Putin an den Westen heute gesandt mit diesem Treffen?
Reitschuster: Das Signal ist ganz klar: Ich greife euch auf der politischen Ebene an, wenn ihr nicht lieb seid zu mir, wenn ihr mir die Invasion der Krim nicht verzeiht. Wenn ihr so weitermacht, dann versuche ich, euch noch stärker auseinanderzudividieren und den Spaltpilz in eure Reihen hineinzubringen.
"Durch die Annäherung dieser beiden Länder gibt es relativ wenig Hoffnung"
Kaess: Herr Reitschuster, weitgehend ausgeklammert worden ist auf diesem Treffen heute das Thema Syrien. Dazu hieß es danach nur, gemeinsames Ziel sei es, die Krise in Syrien zu lösen. Ist das vorstellbar? Könnte es eine gemeinsame Linie geben? Denn bisher ist es ja so, dass die Türkei gegen das Assad-Regime ist und Russland Assad unterstützt. Gibt es Hoffnung auf eine Wende in diesem Konflikt durch die Annäherung der beiden?
Reitschuster: Ich denke, durch die Annäherung dieser beiden Länder gibt es relativ wenig Hoffnung. Wladimir Putin lebt in vielem von der Krisenhaftigkeit in dieser Region und seit Jahren widersetzt er sich einer Friedenslösung, auch wenn er das mit Worten ganz anders sagt. Und dass er da jetzt wirklich eine völlige Kehrtwendung durchführt, das kann ich mir kaum vorstellen, da ist ihm auch Erdogan nicht wichtig genug. Ich denke, das wird einfach ausgeklammert. Man sagt, wir machen die Geschäfte und dort soll weiter der Krieg toben.
Kaess: Bei allem, was Sie jetzt kritisiert haben an diesem Treffen heute: Ist es dennoch unter dem Strich besser, dass die beiden miteinander reden, als dass da ein neuer Konflikt entsteht und sich verfestigt?
Reitschuster: Ich denke, reden ist immer ganz, ganz sinnvoll. Die große Frage ist, wie man miteinander redet. Und da habe ich eben Zweifel, ob das wirklich einem Frieden zuträglich ist. Aber viele haben ja auch davon gesprochen, dass durch diese scharfe Eskalation zwischen der Türkei und Russland die Gefahr bestanden habe eines Zwischenfalls, der dann auch zu militärischer Eskalation hätte führen können, wie zum Beispiel schon bei diesem Abschluss. Und wenn man etwas Positives sehen will in diesem Treffen, dann könnte das darin bestehen, dass im Moment so eine akute Eskalation sicher weniger droht. Aber längerfristig sehe ich es eben leider nicht positiv, wegen dieses Versuches, die westlichen Bündnispartner zu spalten.
Kaess: Sagt Boris Reitschuster, er ist Publizist und war langjähriger Russlandkorrespondent. Danke für das Gespräch heute Abend!
Reitschuster: Ich danke Ihnen!
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