Ann-Kathrin Büüsker: Dürfen türkische Minister in Deutschland Wahlkampf für türkische Belange machen? Die Antwort, die die Bundesregierung auf diese Frage gibt, ist: Ja, sie dürfen. Befürworter unterstützen diese Entscheidung, indem sie sagen, es geht schließlich um Meinungsfreiheit. Kritiker sagen, wir dürfen nicht zulassen, dass türkische Politiker hier Wahlkampf für ein potenziell undemokratisches System machen. Derzeit reden in dieser Sache der deutsche Außenminister Gabriel und sein türkischer Amtskollege Cavusoglu. Der hatte ja gestern Abend noch einen Wahlkampfauftritt in Hamburg, durchaus begleitet von Hindernissen; es fand sich erst kein Ort dafür.
Wer geht eigentlich zu solchen Auftritten und wie groß ist der Rückhalt unter Deutschen mit türkischem Pass? Darüber möchte ich mit Kazim Erdogan sprechen, Diplompsychologe, Integrationsexperte und Gründer des Vereins "Aufbruch Neukölln". Guten Morgen!
Kazim Erdogan: Guten Morgen.
Büüsker: Herr Erdogan, bei den Auftritten der türkischen Minister, da sehen wir Bilder von fahnenschwenkenden Menschen, von echter Begeisterung für die AKP. Wie erleben Sie das in Ihrem Umfeld? Spüren Sie da auch so eine Begeisterung für Recep Tayyip Erdogan und seine Politik?
Erdogan: Direkt in meinem Kreis, wo ich mit Menschen arbeite, nicht. Aber in der Hauptstadt ja. Wir stellen fest, dass eine Zunahme der Sympathisanten von meinem Namensvetter vorhanden ist. Und man müsste sich mit den Gründen beschäftigen, woran das liegt und was wir alle zusammen in Deutschland auch nicht richtig gemacht haben, und wir sollten uns auch damit ein bisschen beschäftigen.
"Das sind oft Menschen, deren Träume nicht verwirklicht werden konnten"
Büüsker: Was glauben Sie denn, woran das liegt?
Erdogan: Es liegt daran, dass wir zu spät akzeptiert und anerkannt haben, dass wir zu einem Einwanderungsland geworden sind. Wir haben das erst fast 45 Jahre, nachdem die Migrationsgeschichte mit Menschen aus der Türkei begonnen hat, anerkannt. Beide Seiten, sowohl die Angeworbenen als auch die Politik sind davon ausgegangen, dass eine Rückkehr stattfinden wird, und beide Seiten haben sich mit dieser Rolle identifiziert.
Unsere Regierungen haben jahrelang zugeguckt, zugeschaut, dass nationalistisch-konservative, fundamentalistische Bewegungen in Deutschland ungehindert in Bewegung waren. Man hat gesagt, lasst die Türken in den Moscheen beten und lasst sie Koran-Kurse einrichten, und das hat auch ein bisschen damit zu tun. Und wir müssen feststellen, dass nur ganz wenige, die sich für meinen Namensvetter interessieren, gebildete oder aber Menschen sind, die sich mit ihrer Zukunftsperspektive zu 100 Prozent identifizieren. Das sind meistens Menschen, deren Träume nicht verwirklicht werden konnten. Sie können mit dem Land Deutschland sich nicht so identifizieren.
Der Grund ist, wir kommunizieren miteinander nicht, wir reden miteinander nicht, und es gibt eine Entweder-Oder-Situation. Entweder man ist Anhänger von meinem Namensvetter, oder man ist Gegner. Die goldene Mitte, die wir dringend brauchen, Menschen, die neutral sind und die die Fronten neutralisieren können beziehungsweise deeskalierend wirken können, sind nicht vorhanden und dementsprechend nehmen die Auseinandersetzungen zu. Das ist sehr gefährlich für Menschen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte.
"Wir müssen reden, kommunizieren"
Büüsker: Lassen Sie uns gleich noch auf die Probleme innerhalb der türkischen Gemeinde schauen. Ich würde gerne erst mal auf den Aspekt Integration und Politik schauen. Gibt es denn für die deutsche Politik zum derzeitigen Zeitpunkt eine Möglichkeit, diese Menschen doch irgendwie zu erreichen, die sich offensichtlich benachteiligt und vergessen fühlen?
Erdogan: Ich glaube, ja. Zum Beispiel ich finde ganz hervorragend – natürlich muss man auch kritisieren -, ich finde ganz toll, dass die deutsche Regierung, unsere Regierung mäßigend auf das, was ist, auf die Töne, die aus meiner ehemaligen Heimat kommen, reagiert und wir fühlen uns nicht angegriffen, einfach mal Menschen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte, weil die Regierung an Eskalation gar nicht interessiert ist, und wir haben in den letzten Jahren auch kleine Brötchen backen können.
Aber wenn wir nicht schaffen, dass wir zueinander finden, dass wir von ich und Du nicht zum Wir-Gefühl kommen, dass übereinander, durcheinander, nebeneinander Schule macht, dann wird das schwieriger. Wir müssen reden, kommunizieren. Gerade in den Zeiten, wo es nicht gut läuft, sollen wir regionale Konferenzen machen, sollen wir zueinander finden, damit diese aufgeregte Situation sich ablegt und dass wir als normale Menschen auf gleicher Augenhöhe wertschätzend miteinander kommunizieren.
Büüsker: In den vergangenen Tagen und Wochen gab es immer wieder Berichte darüber, dass Menschen mit türkischen Wurzeln, die sich kritisch über die AKP geäußert haben, unter Druck gesetzt wurden, zum Teil sogar bedroht wurden. Ist das etwas, was Sie in Ihrem Umfeld auch erleben?
Erdogan: Aber selbstverständlich! Ich persönlich wurde nicht weniger bedroht. Ich habe ja nicht wenige Hass-Mails bekommen. Ich wurde öffentlich beschimpft und beleidigt, obwohl ich mich zur Politik gar nicht geäußert habe. Ich versuche, aus gesellschaftlicher Sicht, aus Sicht der Menschen versuche ich, auf die Entwicklung zu gucken. Und wenn man dann mich angreift, obwohl ich in keiner Partei bin und in keiner politischen Bewegung war in diesen 43 Jahren, und wenn ein Teil dessen, was ich sage, den Leuten nicht passt – und was macht man, man droht und man beschimpft und man wertet die Menschen ab, und gerade das können wir durch Gespräche vermeiden.
"Wir müssen uns ganz genau überlegen, was wir reden"
Büüsker: Das heißt, wir erleben tatsächlich gerade so etwas wie eine Polarisierung innerhalb der deutsch-türkischen Gemeinde?
Erdogan: Aber selbstverständlich! Die Zunge kann sehr verletzend sein und die Zunge kann zum härtesten Stein der Welt werden, wenn man darauf nicht achtet. Der Ton macht die Musik und wir müssen uns ganz genau überlegen, was wir reden. Das ist die Aufgabe der Regierungen. Wenn ein Präsident sozusagen ein ganzes Volk anmacht und dann Worte, die als Drohung ankommen, in Anspruch nimmt, da lässt sich das Fußvolk natürlich anstecken. Da sollten Politiker auch sehr, sehr aufpassen.
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