Stephanie Rohde: Viele hatten davor gewarnt, nun macht die Türkei ernst: Sie ist in Nordsyrien einmarschiert in dieser Woche. Der türkische Präsident will so die Kurdenmilizen aus dieser Region vertreiben und dort in einer sogenannten Sicherheitszone viele der syrischen Flüchtlinge ansiedeln, die noch in der Türkei leben.
Wegen der Offensive sind schon 100.000 Menschen auf der Flucht und Regierungen haben weltweit diesen Einmarsch der Türkei kritisiert, aber Erdogan scheint das nicht von seinem Plan abzubringen. Er hat der EU offen gedroht, massenweise Flüchtlinge Richtung Europa zu schicken, weil Ankara sich nicht mehr alleine darum kümmern könnte.
Recep Tayyip Erdogan: Europäische Union, kommt zu euch, ich sage euch das noch einmal: Wenn ihr unsere derzeitige Operation als eine Besatzung darstellt, dann öffnen wir die Tore und schicken 3,6 Millionen Flüchtlinge zu euch. So einfach ist das.
Rohde: Erdogan droht also offen damit, das Flüchtlingsabkommen aufzukündigen. Darin ist ja geregelt, dass die EU alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Wie reagiert die EU auf diese Drohungen von Erdogan, ist das Flüchtlingsabkommen faktisch gescheitert? Darüber kann ich jetzt sprechen mit dem EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger von der CDU. Guten Morgen, Herr Oettinger!
Günther Oettinger: Guten Morgen, Frau Rohde!
Rohde: Erdogan droht Ihnen und verbittet sich Kritik. Was sagen Sie, ist das eine Besatzung oder Invasion in Nordsyrien?
Oettinger: Ich glaube nicht, dass militärische Schritte eine Lösung in der Region sind, deswegen ist das Vorgehen von der türkischen Armee, von Erdogan überhaupt nicht akzeptabel. Im Gegenteil, es ist höchstgefährlich. Wir halten am Abkommen fest und werden weiter alles tun, dass für fast vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, die in der Türkei leben, Menschenwürde finanziert wird. Wir finanzieren die mit über zwei große Programme und sind vertragstreu und erwarten deswegen auch von Erdogan, dass er vertragstreu bleibt und dass er nicht Drohungen realisiert.
"Türkei verschärft die Lage vor Ort"
Rohde: Sie sprechen jetzt explizit nicht von dieser Besatzung, die Definition wäre aber, wenn man ein fremdes Territorium gewaltsam einnimmt. Tut die Türkei nicht genau das gerade?
Oettinger: Die Türkei ist mit ihrem Handeln nicht auf dem Boden des Völkerrechts, und noch schlimmer: sie verschärft die Lage vor Ort. Sie führt Menschen dazu, dass sie fliehen müssen, sie führt einen regionalen Krieg, der auch Zivilisten betrifft, sogar die Amerikaner sind jetzt dort gefährdet. Deswegen halten wir das Vorgehen für völlig falsch, wollen aber trotzdem für die Flüchtlinge, die in der Türkei leben, alles tun, dass sie in Frieden und mit Menschenwürde leben können.
Rohde: Sie sprechen wieder nicht von Besatzung. Schüchtert Sie Erdogans Drohung doch ein?
Oettinger: Nein, das tut sie nicht. Das Vorgehen von Herrn Erdogan ist durch nichts zu rechtfertigen, und das sagen wir auch klar. Das hat die Hohe Beauftragte gesagt, das ist die allgemeine Meinung unserer Mitgliedsstaaten und der Europäischen Kommission.
Türkei soll spüren, "sie kann nicht handeln, wie sie will"
Rohde: Sie sagen, Sie wollen an diesem Abkommen festhalten. Die EU gibt der Türkei ja Geld, damit die Türkei sich um die Geflüchteten kümmert. Stattdessen erzeugt die Türkei aber gerade neue Flüchtlingsbewegungen und droht Europa dann auch damit. Was spricht eigentlich noch dafür, an diesem Deal festzuhalten?
Oettinger: Wir haben ja fast vier Millionen Menschen, die in Lagern leben und die dort jeden Tag Wasser und Nahrung brauchen, Obdach brauchen, die haben Kinder, die in die Schule gehen. Wir bauen Schulen, wir bauen Krankenhäuser, wir finanzieren Lehrer, und ich glaube, dass dies zur Zeit noch im Vordergrund stehen muss, nämlich den Menschen, die unschuldig als Flüchtlinge außerhalb ihrer Heimat leben, Menschenwürde finanzieren, den Kindern Bildung zu geben. Deswegen ist für uns im Augenblick das Abkommen und die Einhaltung des Abkommens die eine Seite, und die klare Kritik und die Ablehnung in völliger Form dessen, was an der Grenze zu Nordsyrien geschieht, das andere.
Rohde: Aber der Eindruck entsteht ja, dass die EU sich verzweifelt an dieses Abkommen klammert, während die Türkei machen kann, was sie will, also Krieg gegen die Kurden führen völkerrechtswidrig, neue Flüchtlingsbewegungen in Gang setzen und Flüchtlinge illegal in Kriegsgebiete abschieben.
Oettinger: Und deswegen bereiten wir ja Sanktionen vor. Wenn man nicht selbst mit Waffen argumentieren will, wenn man nicht selbst seine Armeen einsetzen will, dann bleiben neben klaren Aussagen und guten Worten Sanktionen. Am nächsten Donnerstag und Freitag sind die Staats- und Regierungschefs in Brüssel, da ist das Thema auf der Tagesordnung, und wir überlegen derzeit, welche Sanktionen passend sind, damit die Türkei spürt, sie kann nicht handeln, wie sie will.
EU-Rat stimmt am Donnerstag Reaktion ab
Rohde: Aber reichen denn Sanktionen? Also, wir hören von Menschenrechtsorganisationen, dass die Türkei Geflüchtete abschiebt in Kriegsgebiete, das verstößt gegen türkisches und internationales Recht, und das bedeutet auch, dass die Türkei dann kein sicherer Drittstaat mehr ist. Das ist aber die Voraussetzung für das Abkommen. Müssen Sie nicht anerkennen, das Abkommen ist faktisch dann tot?
Oettinger: Dies beobachten wir, da wollen wir jetzt nicht innerhalb weniger Stunden handeln. Das werden wir in den nächsten Tagen bewerten, im Europäischen Rat zu einem Ergebnis kommen. Im Augenblick ist noch die Menschenwürde für die Menschen in den Flüchtlingslagern im Vordergrund. Das kann sich ändern. Wenn wir merken, dass es gezielte Abschiebungen gibt…
Rohde: Aber das ist doch bereits der Fall. Also, Menschenrechtsorganisationen haben dokumentiert, dass zehntausende Geflüchtete gegen internationales Recht in die umkämpften Gebiete abgeschoben wurden, dass ihnen dort Folter droht. Auch das ist dokumentiert. Sie wurden in dieser Woche aufgefordert, das zu stoppen. Warum machen Sie das nicht?
Oettinger: Das entscheiden wir auf höchster Ebene, und dafür ist der Europäische Rat nächsten Donnerstag der richtige Zeitpunkt, und den bereiten wir vor. Dafür war auch mein Kollege Avramopoulos in der Region, wir haben ständige Kontakte, tägliche Kontakte. Ich glaube, dass wir in einer Woche als Europäische Union eine klare Position haben, aber die muss demokratisch hinterlegt sein. Wir haben nicht einen Herrscher, wie es die Türkei hat. Wir haben die Kommission, die wurde beauftragt, die Kommissionspräsidenten und die Regierungschefs, und wir wollen besonnen und klug gemeinsam handeln.
"Wir schauen nicht zu, wir haben klare Kritik geäußert"
Rohde: Aber das heißt, gerade schaut die EU zu, während Menschen abgeschoben werden, denen Folter droht und die auch gefoltert werden.
Oettinger: Wir schauen nicht zu, wir haben dazu klare Kritik geäußert. Wir haben dies als völkerrechtswidrig gebrandmarkt und werden weitere Maßnahmen und Sanktionen in den nächsten Tagen besprechen.
Rohde: Sie sind ja EU-Haushaltskommissar, die EU zahlt der Türkei im Rahmen dieses Flüchtlingsabkommens ja Milliarden. Können Sie eigentlich ausschließen, dass die EU indirekt diese illegalen Abschiebungen von Menschen in umkämpfte Gebiete unterstützt?
Oettinger: Ja, das können wir ausschließen. Wir geben das Geld nicht der türkischen Regierung, wir zahlen Rechnungen, wenn Projekte realisiert werden. Wenn ein Schulhaus gebaut ist, dann bezahlen wir die Rechnungen. Wenn Lehrer einen Arbeitsvertrag haben, dann bezahlen wir die Gehälter. Das heißt, wir können nachweisen, dass wir projektbezogen und direkt fördern, und dies wird auch vom Rechnungshof kontrolliert und bestätigt.
Rohde: Das heißt, Sie sind ganz sicher, dass gerade kein Geld von der Türkei verwendet wird, um Menschen abzuschieben?
Oettinger: Ja, wir sind sicher.
"Wir halten von der Sicherheitszone nichts"
Rohde: Okay, und wie sieht es aus mit der sogenannten Sicherheitszone, die die Türkei errichten will? Ankara bittet Sie da, das mitzufinanzieren. Wie reagieren Sie darauf?
Oettinger: Wir haben bisher dazu keinen Antrag, und wenn der käme, dann würden wir ihn ablehnen. Wir halten von der Sicherheitszone nichts. Wir glauben, dass die Grenzen so bleiben sollten wie sie waren. Wir wollen friedliche Lösungen, und wir fördern nur Flüchtlinge, die in Lagern leben, die wir kennen und anerkennen, und wir fördern nur Projekte, die wir unterstützen. In der Sicherheitszone sind dazu keine gegeben.
Rohde: Seit Monaten kommen ja mehr Flüchtlinge wieder auf den griechischen Inseln an. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer setzt sich jetzt dafür ein, dass man der Türkei mehr Finanzhilfe wieder gibt. Kann die EU das tatsächlich tun?
Oettinger: Wir haben ja zweimal drei Milliarden bereitgestellt. Die sind durch Verpflichtungen weitgehend belegt, aber die Zahlungen folgen dann, wenn die Projekte gebaut sind, errichtet sind, realisiert sind. Es ist zu früh, über weiteres Geld zu sprechen. Noch reichen unsere Mittel, die zweimal drei Milliarden, aus, um alle unsere Aufgaben und Pflichten vor Ort zu erfüllen.
"Ein neues Abkommen derzeit in ganz weiter Ferne"
Rohde: Das heißt aber, Sie sagen gerade, Horst Seehofer, nein, mehr Geld wird es erst mal nicht geben, dein Plan funktioniert nicht?
Oettinger: Für mehr Geld ist im Augenblick noch kein Grund gegeben. Die zweimal drei Milliarden, die sechs Milliarden sind ausreichend, um alle Projekte, die uns wichtig sind, zu planen, zu bauen und zu finanzieren.
Rohde: Wie sieht es aus mit einem neuen Abkommen? Es wurde ja immer wieder gesagt, man könnte das Abkommen nachverhandeln, oder man bräuchte ein neues Abkommen. Was ist da Ihre Haltung?
Oettinger: Über Abkommen kann man nur dann sprechen, wenn der Verhandlungspartner aus unserer Sicht seriös ist, der seine Pflichten erfüllt und nicht massiv gegen völkerrechtliche Grundsätze verstößt. Deswegen in der jetzigen Lage ist ein neues Abkommen in ganz weiter Ferne und nichts auf dem Tisch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.