Zwei mächtige blaue Kräne ragen auf dem Kieler Ostufer in den Himmel. Sie prägen die Silhouette der Stadt. Und sie prägen das Werftenviertel Gaarden - auch wenn bei den Schiffsbauern in den letzten Jahrzehnten tausende Stellen gestrichen wurden.
Die Elisabethstraße ist die Haupteinkaufsstraße von Gaarden. Wer sie hinunterschlendert, kommt vorbei an Supermärkten, Cafés, Friseursalons und Bäckereien. Viele Besitzer sind türkisch oder türkischstämmig.
Ein äußerst sensibles Thema
Fragt man sie, wie die jüngsten Äußerungen von Recep Tayyip Erdogan im Viertel ankommen, spürt man schnell: Das Thema ist sensibel - äußerst sensibel. Wenn Leute bereit sind zu reden, dann meist nur, wenn das Mikrofon aus ist. Hatiye hat damit kein Problem:
"Ich hab' keine Angst, überhaupt nicht."
Die 25-Jährige arbeitet in einer kleinen Bäckerei. Mit 11 Jahren kam sie aus der Türkei nach Deutschland. Und gibt sich offen als Anhängerin des türkischen Präsidenten Erdogan zu erkennen.
"Weil er für die Türkei vieles gemacht hat. Ich komm' aus einem Dorf, also das ist ganz unten... Und wo ich letztes Jahr in der Türkei war, ich konnte nicht glauben. Also, er hat Straßen so schön gemacht - ich bin stolz auf ihn!"
Viele ihrer Freunde sehen das anders und sind gegen Erdogan. Von den Spannungen zwischen der türkischen und der deutschen Regierung hat Hatiye mitbekommen. Und von den Warnungen, dass in der Türkei gerade die Demokratie in Gefahr ist?
"Das weiß ich nicht genau. Ich hab' das auch gehört, aber genau weiß ich es nicht."
Würde Hatiye der Wahlempfehlung Erdogans folgen, nicht für die vermeintlich "türkei-feindliche" CDU, die SPD oder die Grünen zu stimmen? Die Frage stellt sich derzeit nicht, denn Hatiye hat nur einen türkischen Pass. Gerne würde sie Erdogan wählen, wenn sie in der Türkei leben würde. Doch letzteres ist für sie inzwischen nicht mehr vorstellbar. Denn auch, wenn sie ihr Viertel Gaarden ziemlich "scheiße" findet wie sie sagt - in den letzten drei Jahren seien einfach zu viele Ausländer hergezogen - gebe es in Deutschland doch vor allem eines:
"Freiheit. Wo ich herkomme, gibt's das nicht."
Integration als ein Nebeneinander, nicht als Miteinander
Gaarden - das ist ein Viertel mit viel Kopfsteinpflaster und Altbauten, mit Eckkneipen und Spielhallen. Die Leute, die hier wohnen, gehen friedlich miteinander um - wobei sie eher nebeneinander als miteinander leben, sagt Rolf Schrem. Zusammen mit dem Kieler Stadtteil Mettenhof sei Gaarden der Ort…
"… wo die Integration einerseits am besten praktiziert wird und andererseits eigentlich überhaupt nicht stattfindet. Einfach weil hier sehr viele Kulturen leben, die leben parallel, aber nicht miteinander."
Schrem ist parteilos, sitzt aber für Die Linke seit fünf Jahren im Ortsbeirat. Der gebürtige Schwabe mit den langen grauen Haaren und dem Rauschebart lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Kiel. Er sitzt an diesem Vormittag im Biergarten des Lokals "Bambule", und ist noch ein bisschen müde von seiner Arbeit als Kneipier.
"Ja, ich arbeite im Club von abends um sechs bis morgens um drei."
Profitiert die Linke von Erdogans Boykottaufruf?
Dass die Linke im Bundestagswahlkampf nun bei türkischstämmigen Wählern einen Vorteil haben könnte, weil sie eben nicht von Staatspräsident Erdogan als "Feind der Türkei" bezeichnet wurde - so wie CDU, SPD und Grüne - glaubt Schrem nicht.
Einerseits, weil die Wahlbeteiligung in Gaarden sowieso sehr niedrig sei. Bei der letzten Bundestagswahl 2013 gaben gerade mal 47,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Andererseits hat aus Schrems Sicht bis heute keine Partei ein Grundproblem gelöst: Migranten politisch einzubinden und ihnen Zugang zur Gesellschaft zu verschaffen.
"Die Parteien haben es leicht, die können Position beziehen, es sind alle 'Deutsche', die mit dem ganzen Gedöns, was da innerhalb stattfindet, nichts zu tun haben, weil sie zum Großteil auch gar keinen Zugang dazu kriegen. Und da sag ich: 'Wir müssen da unbedingt was machen!'"
Politisch seien es schon lange die Sozialdemokraten, die im Werftenviertel den politischen Ton angeben.
"Ob jetzt für Krieg oder für Frieden, die haben hier malocht wie die Doofen für die Werftindustrie - von daher war das von je her SPD-Land!"
"Erdogan widerspricht sich selbst"
Die ebenfalls in Gaarden beheimatete türkische Gemeinde Schleswig-Holstein kritisiert Erdogans Aufruf zum Wahlboykott und ruft die türkisch-stämmigen Wähler auf, sich nicht einschüchtern zu lassen. Ob es was nützt?
Nesimi Temel ist sich nicht sicher, was Erdogans Worte bei der Bundestagswahl bewirken werden. Geschockt war er, aber auch irritiert, sagt Temel.
"Gerade Herr Erdogan hat bei seinen Besuchen, die er in Deutschland abgehalten hat, immer wieder gefordert, dass sich gerade türkischstämmige eben halt mehr in die Gesellschaft mit einbringen. Und über das Thema, zur Wahl zu gehen auch, sich sogar selber zur Wahl zu stellen. Also, dachte ich mir, er widerspricht sich eigentlich!"
Temel ist 41 Jahre alt, in Gaarden geboren wo er bis heute lebt. Er sitzt für die SPD im Ortsbeirat und ist zweiter Vorsitzender des Gaardener SPD-Ortsvereins.
Seine Eltern stammen aus der Türkei, aus einem "bäuerlichen Umfeld", wie Temel sagt. In den 70er Jahren kamen sie nach Kiel und fanden Arbeit im Seefischmarkt.
"Und es ist klar bei mir, wenn man eben so 'n Erbe antritt als Arbeiterkind oder zu dem Zeitpunkt als Gastarbeiterkind, dass man sich eben aus meiner Sicht auch der SPD zugehörig fühlt."
Die Wahl als Möglichkeit zur Emanzipation
Fast zwei Drittel der türkischstämmigen Wählerinnen und Wähler haben bei der letzten Bundestagswahl für die SPD gestimmt. Das hat eine Nachwahlbefragung ergeben, die die der AKP-nahestehende Union Europäisch-Türkischer Demokraten in Auftrag gegeben hatte. Wenn sich viele Wähler von Erdogan angesprochen fühlen, könnte also die SPD am Wahltag drunter leiden.
Wie kann eine Partei wie die SPD in einem Multikulti-Viertel wie Gaarden reagieren, wenn sie vom türkischen Staatsoberhaupt als "Feind der Türkei" beschimpft wird? Temel bleibt ruhig und denkt über die Handlungsoptionen nach:
"Wir können erklären. Wir können versuchen, als Partei, als Parteienlandschaft dagegen zu halten. Warum es wichtig ist, eben zur Wahl zu gehen."
Temel meint damit: Infostände aber auch Haustürwahlkampf. Und noch etwas betont er: Das wichtigste sei, die Leute zur Wahl zu bringen. Wenn türkischstämmige Wähler am Ende ihre Stimme nicht mehr der SPD gäben, sondern einer anderen Partei, sei das auch eine Art Emanzipation, die zeige: Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt!