Christoph Heinemann: "Der Sultan ist pleite", kommentiert heute die "Hannoversche Allgemeine Zeitung". Die Türkei stemmt sich gegen den dramatischen Verfall der Lira, die Zentralbank des Landes kündigte an, die Liquiditätsversorgung der Geschäftsbanken sicherzustellen, sie werde den Finanzmarkt genau beobachten und alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Finanzstabilität zu sichern. Das half der Lira aber nur kurzfristig. Die türkische Währung legte zunächst zu, rutschte dann aber wieder ab.
Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak, der das Amt des Finanzministers bekleidet, hat einen Aktionsplan für die Wirtschaft angekündigt, der die Märkte beruhigen und den starken Kursverfall der Lira stoppen soll. Unterdessen werden Absicherungen gegen einen Zahlungsausfall der Türkei an der Börse teurer. Heute kosten Versicherungen für fünfjährige Staatsanleihen so viel, wie seit der Wirtschaftskrise 2009 nicht mehr. Die Lage ist beunruhigend.
Am Telefon ist Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Guten Tag!
Kristian Brakel: Guten Tag!
Heineman: Herr Brakel, was läuft schief in Erdogans Wirtschafts- und Finanzpolitik?
Brakel: Also, das große Problem der Türkei ist, dass sie sehr stark auf Investitionen aus dem Ausland angewiesen ist, plus, dass sie einen sehr großen Energiehunger hat, und dieser Energiehunger, also Importe von Gas und Öl, dass die vor allen Dingen in Fremdwährungen bezahlt werden müssen. Das ist der eine Teil, und der andere Teil ist, dass die Türkei zwar eine sehr fertigungsstarke Wirtschaft hat, also es werden sehr viele Dinge, zum Beispiel Busse, Autos für Mercedes für den europäischen Markt, gefertigt, aber selber Produkte erfinden, also eine starke innovative Wirtschaft, das fehlt der Türkei.
Erdogans "ideologische Vorstellung von Wirtschaftspolitik"
Heineman: Über welchen Spielraum verfügt die Regierung in der jetzigen Lage?
Brakel: Eigentlich gibt es die Möglichkeit, dass die Leitzinsen gehoben werden können. Das ist das, was viele Wirtschaftsfachleute fordern. Sie sagen, das große Problem ist, dass die Unternehmen gerade nach der sich anbahnenden Wirtschaftskrise nach dem Putschversuch 2016, da hat die Regierung sehr stark interveniert, hat sehr viel billiges Geld in den Markt gepumpt, billige Kredite für die Unternehmen freigegeben. Dass das aber eben nur eine temporäre Maßnahme sein kann und dass es jetzt langsam an der Zeit wäre, diese Kredite eigentlich mal teurer zu machen, damit eben die Privatunternehmen nicht mehr so viel Kredit am Markt aufnehmen, dazu weigert sich aber der Präsident, weil er eine sehr ideologische Vorstellung von Wirtschaftspolitik hat und der Ansicht ist, dass Zinsen im Prinzip etwas sind, was die Wirtschaft zerstören könnte.
Heineman: Nun sind Zinserhöhungen ja Sache eigentlich der Zentralbank. Halten Sie die türkische Zentralbank für unabhängig?
Brakel: Also, richtig kann man das von außen nicht überprüfen. Es gibt aber daran sehr starke Zweifel. Es gibt ja dieses sehr berühmte Interview von Präsident Erdogan vor rund anderthalb Monaten, was er in London gegeben hat, wo er geäußert hat, dass nach der Präsidentschaftswahl, die ja im Juli war, dass er da stärkeren Einfluss auf die Zentralbank nehmen will. Was man auf jeden Fall sehen kann, ist, dass die Zentralbank die Leitzinsen in den letzten Jahren, wo das immer wieder gefordert wurde, nur sehr wenig angehoben hat. Also es scheint auf jeden Fall, selbst wenn es keine direkte Kontrolle von Erdogan gibt, es scheint auf jeden Fall einen vorauseilenden Gehorsam zu geben in der Zentralbank.
Loyalität vor Expertise?
Heineman: Clemens Fuest, Chef des Münchener ifo-Instituts hat der Türkei in der aktuellen Krise geraten, Hilfen beim Internationalen Währungsfonds zu beantragen. Rechnen Sie damit, Herr Brakel, dass Herr Erdogan den IWF anrufen wird?
Brakel: Also, bisher noch nicht. Tatsächlich hat es, glaube ich, schon ein erstes Gesprächsangebot des IWFs gegeben, und das hat die türkische Regierung zurückgewiesen. Präsident Erdogan sagt, man möchte sich nicht in eine Situation begeben, wie sie es ja schon mal gegeben hat 2001, 2002 bei der Wirtschaftskrise. Damals waren sehr, sehr starke Einschnitte notwendig, Einschnitte, die natürlich bei der Bevölkerung nicht besonders gut angekommen sind. Das möchte man vermeiden. In der türkischen politischen Sicht ist das auch ein bisschen eine Aufgabe der Unabhängigkeit, also gerade das, was ja Präsident Erdogan vorgibt zu bekämpfen.
Heineman: Ein zentraler Kritikpunkt von Investoren, auch von Analysten, ist, dass Präsident Erdogan in der Besetzung von Schlüsselpositionen Loyalität vor Expertise stellt. Der amtierende Finanzminister, wie gesagt, ist sein Schwiegersohn. Schadet Erdogan Vetterleswirtschaft der Volkswirtschaft?
Brakel: Ja, auf jeden Fall. Also ich glaube, man kann das spätestens seit diesem gescheiterten Putsch sehen. Wir haben das vorher schon gehabt irgendwie, aber jetzt ist es sehr, sehr stark geworden. Es zählt um den Präsidenten herum bei vielen der Ämtern nicht mehr die Kompetenz, sondern es zählt, dass man das Richtige sagt, und es scheint so zu sein, dass es nur sehr wenige Leute um den Präsidenten herum gibt, die überhaupt sein Ohr finden, und die, die es finden, da gibt es nur noch sehr wenige, die sich anscheinend trauen, die Wahrheit zu sagen, und, ja, da sind natürlich solche Besetzungen durch reine Loyalitätsaspekte Gift, sowohl für die Volkswirtschaft als auch für das grundsätzliche Funktionieren des Staates.
Rhetorik, die Wirtschaft werde angegriffen
Heineman: Erdogan macht das Ausland für die Krise verantwortlich. Nehmen seine Anhänger ihm das ab?
Brakel: Ja. Also, man muss sehen, es geht auch nicht mehr nur um seine Anhänger. Also das, was Präsident Trump jetzt am Freitag gemacht hat, nämlich die Zölle vor allen Dingen auf den Stahlexport zu erhöhen, das ist etwas, womit er eigentlich Präsident Erdogan ein Geschenk gemacht hat. Es beeinflusst natürlich die türkische Wirtschaft noch mal negativ, aber es stärkt dieses Narrativ, das Erdogan trägt, dass das keine hausgemachten wirtschaftlichen Probleme sind, sondern dass diese Probleme nur zustande kommen, weil die Währung, die Lira, weil die türkische Wirtschaft von außen angegriffen würde, und das ist tatsächlich etwas, also Antiamerikanismus ist in der Türkei sehr weit verbreitet, nicht nur unter Erdogan-Anhängern, sondern unter vielen anderen Türkinnen und Türken auch. Das ist deswegen ein Narrativ, der sehr gut verfängt.
Heineman: Wie sehr schaden die US-Zölle der türkischen Wirtschaft?
Brakel: Auf jeden Fall. Also man hat das gesehen, glaube ich, gleich am Freitag, dass die Märkte reagiert haben, die Lira noch weiter eingebrochen ist. Also, ich glaube auch, Präsident Trump hat diese Ankündigung dieser Strafzölle sehr bewusst zu einem Zeitpunkt gewählt, als Berat Albayrak, der Wirtschaftsminister und Schwiegersohn von Erdogan, gerade vor die Presse getreten war und gerade versucht hatte, ein Maßnahmenpaket, das zugegebenermaßen sehr dünn war, zu verkünden. Genau als er eben noch auf dem Podium stand, setzte Präsident Trump diese Twitter-Nachricht ab. Also, das war schon sehr gewollt. Ich glaube allerdings auch, dass das ein sehr gefährliches Spiel ist, das der amerikanische Präsident da treibt.
"Problem, dass es immer weniger Kritik gibt"
Heineman: Karin Senz, unsere Korrespondentin, hat eben berichtet, dass es kaum offene Kritik in den Medien an der Wirtschaftspolitik des Präsidenten gibt. Ist das Teil des Problems?
Brakel: Doch, auf jeden Fall. Also, Sie wissen ja, die Türkei hat sich in den letzten Jahren zunehmend zu einem autoritären System gewandelt. Es gibt zwar immer schon noch Medien, die sich offen äußern, aber die stehen starkem Druck, und die Masse der Medien, gerade des Fernsehens, das das Medium ist, was die meisten Türkinnen und Türken konsumieren, die sind fest in Staatshand beziehungsweise in Hand AKP-naher Medienkonzerne. Und ja, das ist natürlich ein Problem, dass es immer weniger Kritik gibt. Es ist nicht so, dass es gar keine Kritik gibt, aber man muss schon sehr, sehr vorsichtig sein, was man sagt. Gerade eben wurde verkündet von der Regierung, dass man gegen diejenigen vorgehen wird, die auf Twitter, auf Facebook wirtschaftskritische Nachrichten verbreiten. Also da sieht man, was für eine Atmosphäre herrscht.
Heineman: Schauen wir noch auf die außen- bzw. bündnispolitischen Auswirkungen: Ein Berater Erdogans, Ibrahim Kalin, hat getwittert, die USA liefen Gefahr, die Türkei als Partnerin zu verlieren. Herr Brakel, rechnen Sie damit, dass Erdogan die Türkei aus der NATO herausführen könnte?
Brakel: Also, eigentlich, wenn es danach geht, was ist rational, was macht rational politisch für die Türkei Sinn, dann ist das sehr unwahrscheinlich. Wenn man hier mit türkischen Verantwortlichen aus Militär, aus dem Außenministerium spricht, die versichern einem immer wieder, dass gerade diese NATO-Bindung etwas ist, was die Türkei auf jeden Fall aufrechterhalten möchte, denn es gibt für sie keine richtige Alternative. Es ist ja nicht so, dass sie mit Russland in ein Verteidigungsbündnis eintreten könnte, wo sie auf gleicher Ebene agieren würde wie auf der NATO, nämlich, wie das ja aktuell ist, jedes Mitgliedsland hat die gleiche Stimme. Mit den Russen wären sie nur Juniorpartner, plus es gibt direkte russische Truppenpräsenz an drei verschiedenen türkischen Grenzen.
"Beharrungskräfte, die in der NATO bleiben möchten"
Aber man muss auch sagen, zu diesem Zeitpunkt – ich habe das ja vorhin schon ein bisschen erläutert – wird die türkische Politik so stark von einer Person geführt, und sehr viel, was da reinspielt ist Ideologie, ist seine persönliche Wahrnehmung der Welt und nicht unbedingt immer nur das, was rational das Sinnvollste wäre. Von daher kann man das nicht ausschließen. Ich glaube allerdings, dass das sehr starke Beharrungskräfte in der Türkei gibt, die gerne in der NATO bleiben möchten.
Heineman: Stichwort Russland: Der Außenminister Lawrow ist heut Gast in Ankara. Soll mit diesem Besuch demonstrativ außenpolitische Alternativen zur NATO vorgeführt werden?
Brakel: Das sicherlich, auch wirtschaftspolitische Alternativen. Die Russen sind nicht komplett unwichtig. Also sie sind vor allen Dingen wichtig für die Energieimporte. Über 60 Prozent des Erdgases kommt aus Russland, und das ist gerade ein Punkt, der der Türkei große Kopfzerbrechen macht, denn diese Energieimporte werden in der Regel in Dollar bezahlt, und auch da wird man mit den Russen sicherlich etwas verhandeln müssen, aber es ist natürlich auch für Moskau sehr günstig. Also dieser Streit, den es zwischen den Amerikanern und der Türkei gibt, ist natürlich etwas, was man als Gelegenheit sieht, die NATO weiter zu spalten, und wo sich da Gelegenheiten geben, die wird man sicherlich auch nutzen.
Heineman: Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Brakel: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.