Das Interview mit Val McDermid im englischen Original
Antje Deistler: Was haben Sie damals erwartet, als Sie anfingen, Kriminalromane zu schreiben?
Val McDermid: Ich habe eigentlich überhaupt nichts erwartet. Ich war damals bei einem kleinen, feministischen Verlag, bekam einen winzigen Vorschuss und die Bücher verkauften sich erstmal nicht besonders. Es hat gedauert, bis ich einen bestimmten Ruf hatte. Heute ist man erledigt, wenn man nicht spätestens mit dem dritten Buch einen Bestseller landet. Auf die Art hätte ich wohl nie eine Karriere gehabt. Damals dachte ich, ich schreibe vielleicht fünf Bücher, aber die Ideen gingen mir nicht aus, und so habe ich weitergemacht.
Deistler: Und Sie haben es zu Ihrem Beruf gemacht.
McDermid: Ja, ich habe meinen Job 1991 aufgegeben, seitdem lebe ich vom Schreiben.
Deistler: Sehr erfolgreich!
McDermid: Ich beschwere mich nicht!
Deistler: Was hat sich für Sie in dieser Zeit verändert?
"Grenze zwischen Kriminalroman und literarischem Roman verwischt"
McDermid: Das Genre hat sich in den letzten 30 Jahren sehr geöffnet. Als ich anfing, gab es Polizeiromane und dörfliche Detektivgeschichten. Jetzt gibt es eine große Bandbreite: Historische Krimis, Psychothriller, alles mögliche. Romane aus der Sicht der Täter – man kann alles mögliche machen und herumexperimentieren. Die Grenze zwischen Kriminalroman und literarischem Roman verwischt. Als Autorin kann man seine Ideen ausprobieren, man muss sich an keine Muster halten.
Deistler: Wird Kriminalliteratur inzwischen auch anders gewertschätzt?
McDermid: Ja, ich denke schon. Es ist wie mit allen Kunstformen: Es gibt die Crème de la crème, und darunter eine Menge Durchschnitt, weniger Innovatives. Aber die Topleute im Krimigenre sind auf einer Höhe mit der sogenannten Hochliteratur – was auch nur ein Genre ist.
Deistler: Sie sind soeben in die Booker Prize Jury berufen worden. Denken Sie, ein Krimi könnte den je gewinnen?
McDermid: Es hat in den letzten Jahren schon einiges auf den Shortlists gegeben, was zumindest meinem Verständnis von Kriminalliteratur nahekommt, Bücher, die sich um ein Verbrechen drehen. Zum Beispiel Graeme Macrae Burnets "His bloody project" ("Sein blutiges Projekt"), das 2016 auf der Shortlist stand, ein schottischer Krimi. Es wurden auch dieses Jahr Kriminalromane nominiert und werden sicher von der Jury in Betracht gezogen.
Deistler: Im Jahr 1999 hat ein Jurymitglied Ihren Roman "Ein Ort für die Ewigkeit" als Beispiel sehr guten Schreibens erwähnt, den Booker Prize haben Sie aber nicht bekommen, einfach weil es eben ein Krimi war. Ist das immer noch ein K.o.-Kriterium?
McDermid: Nein, das glaube ich nicht. Die Welt ändert sich und diese Art literarischer Borniertheit auch. Die Ablehnung von Kriminalliteratur basierte auf Dummheit von Leuten, die zuletzt vielleicht Agatha Christie gelesen haben und nichts von der besten aktuellen Kriminalliteratur. Aber wer Kate Atkinson oder Denise Mina liest, kann das nur ernst nehmen als Literatur, die den aktuellen Stand der Gesellschaft wiederspiegelt. Mehr kann man sich nicht wünschen. Ein gutes Buch ist ein gutes Buch. Ich lehne ein Buch nicht ab, weil es ein Krimi ist. Ich möchte eine gute Geschichte lesen, die gut geschrieben ist, die meine Fantasie anregt, die mich zum Nachdenken bringt, während sie mich gleichzeitig gut unterhält.
Deistler: Jetzt wissen wir also, was sie in der Jury des Booker Prize tun werden...
McDermid: Vielleicht!
Deistler: Ihr 30. Buch, das gerade in Deutschland erschienen ist, ist - ganz bescheiden - einfach ein Karen-Pirie Krimi, der vierte. Eine starke Frauengestalt, eine Ermittlerin von ungelösten Altfällen. Woher kommen Ihre Figuren? Sie haben ja inzwischen einige!
"Jede Figur hat ein bisschen was von der eigenen DNA"
McDermid: Jede Figur hat ein bisschen was von der eigenen DNA. Man entkommt sich da nicht, man bringt seine Weltsicht einfach mit. Als Journalistin bin ich glücklicherweise Menschen aller Schichten begegnet, an allen möglichen Orten. Das hat mich mit einem Riesendatensatz versorgt, mit dem ich immer noch arbeite. Ich beobachte immer, egal wo ich gerade bin, im Bus, im Supermarkt, ich höre den Leuten zu, wenn ich nicht gerade mit mir selbst spreche. Mein eigenes Leben und das meiner Freunde habe ich schon ausgesaugt, jetzt bin ich auf andere angewiesen.
Deistler: Sie haben mal gesagt, Schriftsteller seien wie Kannibalen.
McDermid: Ja. Wie Graham Greene sagte: Man muss einen Eissplitter im Herzen tragen. Ein Freund erzählt Ihnen etwas Schreckliches, dass der Ehemann Krebs hat oder jemand wird arbeitslos. Das menschliche Wesen in Ihnen nimmt Anteil und bietet Hilfe an, aber die Autorin in Ihnen denkt: Das ist echt gut, das kann ich benutzen! Das ist nicht nett, aber so etwas brauchen Sie, besonders als Krimiautorin. Sie schaffen Charaktere, die mit Trauer, Konflikt, Verlust umgehen. Sie müssen Ihre eigenen dunklen Gefühle untersuchen und die der Mitmenschen, um das alles glaubhaft darstellen zu können.
Deistler: In diesem Buch ("Der Sinn des Todes") ist das Opfer eine junge Frau, die vergewaltigt und dann umgebracht wurde, diesmal nicht allzu deutlich beschrieben. Aber dafür sind Sie auch bekannt, dass Sie sehr grausame Verbrechen in allen Einzelheiten schildern. Es gibt einen neuen Preis, den Staunch Prize - Sie verdrehen schon die Augen -, der an Autoren geht, deren Krimis ohne Gewalt gegen Frauen auskommen. Was halten Sie von diesem Preis?
McDermid: Gut gemeint, aber total auf dem Holzweg. Die Idee, das Problem von Gewalt gegen Frauen zu lösen, indem man einfach nicht mehr drüber schreibt, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Ein Freund von mir, der irische Krimiautor Steve Cavanagh sagte: Welches Buch erzählt dir mehr über Rassismus? "Wer die Nachtigall stört" oder ein Buch, in dem kein Rassismus vorkommt?’ Es wäre besser gewesen, einen Preis für Geschichten zu schaffen, die wirkungsvoll und mitfühlend über Gewalt gegen Frauen schreiben. Jeden Tag sind Frauen häuslicher Gewalt und Gewalt auf den Straßen ausgesetzt. Wenn Männer aufhören, ihre Frauen umzubringen, höre ich auf, über Gewalt gegen Frauen zu schreiben. Wir ändern diese Dinge nicht, indem wir aufhören, darüber zu schreiben. Das ist Unsinn.
"Wenn Frauen über Gewalt schreiben, tun wir es sehr gut"
Deistler: Wenn Sie über Gewalt schreiben und auf dem Papier mit Brutalitäten und Mord umgehen, was macht das mit Ihnen?
McDermid: Für Autoren ist es eine andere Erfahrung als für die Leser. Ich bin abgelenkt vom Handwerk – ist das das richtige Adjektiv? Ist der Satz im Gleichgewicht? Tritt dieser Charakter zu früh oder zu spät auf? Das ist Technik. Sage ich genug, sage ich zu viel? Für die Leser ist es anders, die sind mit dem, was ich schreibe, direkt konfrontiert. Für mich ist das nicht so traumatisch und ergreifend wie für die Leser. Und ich denke, Frauen schreiben über Gewalt anders als Männer. Wir werden von Kindheit an gewarnt, dass die Welt gefährlich ist: Geh da nicht allein hin, geh im Dunkeln nicht raus, wandere nicht allein im Park herum, dir können schreckliche Dinge passieren. Ich glaube nicht, dass es nur eine Frau gibt, die sich nicht das Schlimmste vorstellt, wenn sie nachts Schritte hinter sich hört. Wenn wir über Gewalt schreiben, dann immer über etwas, das wir uns sowieso vorstellen. Wir bringen zu Papier, was wir zumindest in unserer Vorstellung schon durchgemacht haben. Männer wachsen anders auf, nicht als potenzielle Opfer. Wenn Männer über Gewalt gegen Frauen schreiben, dann mit einer Außensicht, als Beobachter. Da haben Frauen eine stärkere emotionale Beteiligung. Deshalb werden Frauen vielleicht auch für das Schreiben über Gewalt kritisiert. Denn wenn wir es tun, dann tun wir es sehr gut!
Deistler: Frauen hatten immer viel Erfolg im Krimigenre, besonders in Großbritannien. Hier in Deutschland gibt es gerade eine Diskussion darüber, dass Frauen in der Kriminalliteratur weniger gesehen und anerkannt werden. Obwohl circa 50 Prozent der Krimis von Frauen stammen und die Leserinnen die Bücher kaufen. Trotzdem kriegen männliche Autoren immer zuerst die Aufmerksamkeit und gewinnen die Preise. Ist das in Großbritannien besser?
McDermid: Das glaube ich schon. Und das geht wahrscheinlich zurück auf das Golden Age mit Krimiköniginnen wie Christie, Allingham, Sayers, Marsh, Josephine Tey - die haben das Genre damals vorangebracht. Und später waren das P.D. James und Ruth Rendell. Heute werden Frauen da ebenso anerkannt wie Männer. Manchmal dauert es etwas. Der Bloody Scotland Prize zum Beispiel ging letztes Jahr zum ersten Mal an eine Frau, an Denise Mina, die vier Jahre davor haben Männer gewonnen. Aber grundsätzlich haben Frauen die Tradition erst begründet und diese Position seitdem gut gehalten.
Deistler: Sie haben inzwischen so viele Hauptfiguren in diesen verschiedenen Serien, denken Sie sich den Plot zuerst aus und ordnen ihn dann einer Figur zu oder funktioniert es anders herum, dass Sie sich eine Geschichte extra für Karen Pirie oder Tony Hill ausdenken?
"Die Figur bestimmt den Plot und der Plot formt die Figur "
McDermid: Es beginnt immer mit der Geschichte, mit irgendwas, das meine Fantasie anregt, wo ich denke: Wie interessant, was wäre wenn...? Und dann frage ich mich: Wessen Buch ist das? Tony und Carol, oder Karen Pirie, oder ein Standalone? Die Story bestimmt, wer sie bekommt. Der Schreibprozess ist auch anders, je nachdem ob es eine Serie oder ein Standalone ist. In der Serie ist man von Anfang an von den Figuren begrenzt, die haben bestimmte Fähigkeiten und Grenzen, in diesen Parametern muss die Geschichte funktionieren. Aber bei einem Standalone kann man alles machen, man kann der Geschichte erlauben, sich selbst zu erzählen. Und dann kann man sich fragen, wer sind diese Leute? Warum tun die das? Wie sind sie zu dem geworden, was sie sind? Es ist ein bisschen anders, aber wenn man erstmal mittendrin ist, gilt wie sonst auch: Die Figur bestimmt den Plot und der Plot formt die Figur.
Deistler: Bringen Sie Ihre Figuren manchmal durcheinander?
McDermid: Nein, die sind schon klar voneinander getrennt. Sie wissen ja auch, wer von Ihren Freunden Gin Tonic mag und wer lieber Rotwein trinkt. Die Figuren sind wohl so etwas wie meine eingebildeten Freunde...
Deistler: Und wenn Sie nach einer Weile zum Beispiel zu Karen Pirie zurückkommen, fragen Sie sie dann, was sie in der Zwischenzeit so erlebt hat?
McDermid: Genau! Dann freue ich mich immer, sie hat in der Zwischenzeit ja alles Mögliche gemacht, dann haben wir wieder einen frischen Start. Ich denke, deshalb konnte ich überhaupt so lange dabei bleiben, weil ich nie zwei Bücher derselben Serie hintereinander geschrieben habe, nicht seit ich noch als Journalistin tätig war und deshalb noch über andere Dinge schrieb. Ich langweile mich schnell. Zwei Bücher über denselben Charakter, da nervt der mich schnell. Aber wenn ich zu ihm oder ihr zurückkehre, ist das aufregend. Dann muss ich erstmal rausfinden, wie es ihnen erging, seit ich sie das letzte Mal in eine so schwierige Situation gebracht hatte. Und dann freue ich mich, wieder bei ihnen zu sein und sie auf einen neuen Weg zu schicken.
Deistler: Haben Sie sich schon mal bei ihnen entschuldigt, dass Sie in ihr Leben getreten sind und es ihnen jetzt so schwermachen?
McDermid: Nein, sie hätten sich von mir fernhalten sollen, wenn sie glücklich sein wollten.
"Hochzeiten versetzen in einen emotionalen Ausnahmezustand"
Deistler: In Großbritannien ist bereits ihr 31. Roman erschienen, diesmal wieder ein Tony Hill und Carol Jordan-Roman. Worum wird es da gehen?
McDermid: Da findet jemand seine Opfer auf Hochzeiten. Er umgarnt sie und irgendwann verbrennen sie in ihrem eigenen Auto im Yorkshire Moor. Nicht nett. Freunde von mir wollen jetzt nicht mehr zu Hochzeiten gehen. Ich hatte gehört, dass es im Umfeld von Hochzeiten immer viele Trennungen gibt. Paare, die lange zusammen sind, gehen da hin und kriegen Streit: Warum sind wir nicht verheiratet? Bin ich dir nicht gut genug? Wartest du auf einen Besseren? Mir wurde klar, dass Hochzeiten die Leute in einen emotionalen Ausnahmezustand versetzen, verwundbar machen, und ich dachte: Was, wenn man da als Single hingeht, und da ist jemand, der charmant ist und nett? Es schien mir eine gute Methode zu sein, Opfer zu finden.
Deistler: Und etwas eigentlich Schönes in etwas sehr Schlechtes zu verkehren!
McDermid: Yeah – sorry about that!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Val McDermid: "Der Sinn des Todes". Aus dem Englischen von Doris Styron. Droemer-Knaur, München, 2017, 496 Seiten, 22,99 Euro