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Erhöhter Testosteronwert bei Läuferinnen
"Vorschriften sind nicht das einzige Mittel der Wahl"

Die Soziologin und ehemalige Leichtathletin Madeleine Pape kritisiert, dass Athletinnen mit erhöhtem Testosteronwert unter den Regeln der Entscheidungsgremien kaum Chancen auf Gerechtigkeit hätten. Sie plädiert dafür, nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse in Betracht zu ziehen, sondern auch andere Wege zu gehen, um Geschlechterinklusion zu erreichen.

Madeleine Pape im Gespräch mit Marina Schweizer |
(190504) -- DOHA, May 4, 2019 -- Caster Semenya of South Africa competes during the women s 800m final at 2019 IAAF Diamond League at Khalifa International Stadium in Doha, Qatar, May 3, 2019. Caster Semenya won the gold medal with 1 minute and 54.98 seconds. ) (SP)QATAR-DOHA-ATHLETICS-IAAF DIAMOND LEAGUE Nikku PUBLICATIONxNOTxINxCHN
Langstreckenläuferinnen mit erhöhtem Testosteronwert müssen diesen medikamentös unter einen Grenzwert senken - Caster Semenya wehrt sich dagegen. ( imago | Xinhua)
Schon seit über einem Jahrzehnt kämpft die Läuferin Caster Semenya dafür, bei den Frauen starten zu dürfen – und zwar so, wie sie geboren wurde und ohne, dass sie dafür mit Medikamenten ihr Testosteronlevel senken muss. Für den Leichtathletik-Weltverband, der eine entsprechende Zugangsregel geschaffen hatte, gehört Semenya zu den "biologisch männlichen Athleten mit weiblichen Geschlechtsidentitäten". Vor dem Schweizer Bundesgericht hat sie nun eine erneute juristische Niederlage erlitten. Die australische Soziologin und Genderforscherin Madeleine Pape von der Universität Lausanne hat für diese Entscheidung kein Verständnis und fordert die Verbände auf, nicht nur mit ausschlussorientierten Kriterien auf das "Problem" der Geschlechtervielfalt zu reagieren. Pape war selbst als australische Spitzen-Läuferin gegen Semenya angetreten.
Marina Schweizer: In der Urteilsbegründung stand, dass die Regel, gegen die Semenya Berufung eingelegt hat, nicht im Widerspruch zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen steht. Was haben Sie darüber gedacht?
Madeleine Pape: Ich war jetzt nicht völlig überrascht von der Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts. Dessen Aufgabe war ja nur zu überprüfen, ob der Internationale Sportgerichtshof CAS gemäß seines Mandats gehandelt hat, ob die Regeln, die angewandt wurden, zum Schweizer Kontext gepasst haben. Es war also eher nur ein verfahrensrechtlicher Beschluss und keine neue Überprüfung der Beweise. Für mich sieht das so aus: Das System hat genau so funktioniert, wie es funktionieren soll. Es hat einfach gezeigt, dass es sehr schwer für Athleten ist, die unter diesen Regeln vom Wettkampf ausgeschlossen worden sind, dass sie gegen die mächtigen Entscheidungsgremien im Sport, wie den Internationalen Sportgerichtshof oder den Leichtathletik-Weltverband, vorgehen können. Die Chancen stehen also sehr schlecht, für Athleten die Gerechtigkeit wollen, zumindest mittels der Möglichkeiten, die ihnen der Leichtathletik-Weltverband oder das Internationale Olympische Komitee zur Verfügung stellen, wie zum Beispiel der CAS.
30. Juni 2019: Läuferin Caster Semenya startet bei einem Diamond League Athletics Prefontaine Classic an der Stanford University in Kalifornien. 
Caster Semenya will weiterkämpfen
Langstreckenläuferinnen mit erhöhtem Testosteronwert müssen diesen medikamentös unter einen Grenzwert senken – sonst dürfen sie nicht antreten. Die Regel des Leichtathletik-Weltverbandes wurde vom Schweizer Bundesgericht bestätigt. Beschwerdeführerin Caster Semenya will sich weiter dagegen einsetzen.
Thematik aus einem anderen Blickwinkel betrachten
Schweizer: Um Ihre Position richtig zu verstehen, müssen wir vielleicht erst einmal einen Schritt zurück. Wir zwei reden heute auch, weil wir gerne einen Standpunkt von einer Frau hören wollten, die beides erfahren hat: Sie sind als Leichtathletin gegen Caster Semenya angetreten und sie waren der Meinung, dass es unfair gegenüber den anderen Sportlerinnen war, dass Semenya überhaupt antreten durfte. Als Soziologin sind sie zu der gegenteiligen Meinung gekommen. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?
Pape: Da gab es ein paar Dinge. Ich denke, als ich meine Promotion in den USA anfing, bin ich im wahrsten Sinne des Wortes über einen alternativen Ansatz zu dieser ganzen Thematik gestolpert. Ich habe danach nicht gesucht oder geforscht, ich musste einfach ein paar Dinge lesen für Kurse, in denen ich eingeschrieben war. Das war wirklich so mit die erste Gelegenheit, bei der ich die ganze Thematik mal aus einem anderen Blickwinkel sehen konnte. Und bei der ich auch einfach Einblicke in die Geschichte dieser ganzen Vorgehensweisen im Sport bekommen habe. Und dabei auch noch in meiner eigenen Sportart, der Leichtathletik. Selbst 2009 als ich gegen Caster Semenya antrat, hatte ich überhaupt keine Ahnung von der umstrittenen Geschichte, dieser ganzen Vorgehensweise und wie sie sich im Lauf der Zeit verändert haben, nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch aus wissenschaftlichen - vor allem wegen der Schwierigkeit, eine klare Grenze zu ziehen zwischen der Kategorie eines männlichen und eines weiblichen Athleten. Da sind verschiedene und kritische Sachverhalte über dieses Thema veröffentlicht worden. Mich hat aber besonders beeinflusst, als ich mich mit einer Frau angefreundet habe, die intersexuell ist. Sie ist keine Sportlerin, aber mit ihr habe ich über ihre Lebensgeschichte gesprochen und dabei gelernt, wie die ganze Thematik sie im Alltag betrifft. Und selbst zu realisieren, dass ich nicht an meiner Doppelmoral festhalten kann, bei der ich auf der einen Seite diese Frau als meine Freundin akzeptiere und mich dann umdrehe und ihr verbieten will, gegen mich anzutreten. Ich würde sagen, es war diese persönliche Erfahrung, die für mich am eindrucksvollsten war.
"Mein Ziel ist, den Frauensport nach vorne zu bringen"
Schweizer: Wenn wir jetzt noch einmal auf den Fall von Caster Semenya schauen, der Welt-Leichtathletikverband folgt dem Standpunkt, dass es nur fair gegenüber anderen Athletinnen ist, neue Regeln zu schaffen. Warum zählt das für Sie nicht mehr, besonders weil sie ja auch eine Ex-Leichtathletin sind?
Pape: Also für mich ist es sehr wichtig, von Anfang an klar zu machen: Mein Ziel ist, den Frauensport nach vorne zu bringen. Was ich bewirken möchte, ist nur im Interesse des Frauensports und es geht nicht darum, ihn kaputt zu machen. Aber diese ganze Geschichte ist nicht zum Wohl des Frauensports. Für mich wird hier deutlich: Nur einige wenige erfolgreiche Athletinnen wurden einer Untersuchung unterzogen. Nehmen wir mal Katie Ledecky, die US-amerikanische Schwimmerin. Ihre Leistungen können wir mit denen von Semenya vergleichen, denn sie ist im Vergleich zu ihren Konkurrentinnen deutlich erfolgreicher. Aber ihre Stellung im Frauensport wird nicht in Frage gestellt. Was mich wundert, denn es gibt Frauen, die nicht aufgrund ihrer sportlichen Leistungen, sondern aus meiner Sicht aufgrund anderer Umstände - und meine Forschungen haben ergeben, dass es definitiv aufgrund anderer Umstände ist - , dass wir diesen Sportlerinnen die Aufnahme in die Frauenwettbewerbe verweigern. Und dieses Signal wird speziell an schwarze Frauen aus Subsahara-Afrika gesendet, indem man schwarze afrikanische Sportlerinnen aus Wettbewerben ausschließt. Und das ist desaströs für den Frauensport. Das ist die falsche Botschaft für alle weiblichen Athletinnen, dass man die erfolgreichen Sportlerinnen kontrolliert, speziell wenn man – wie beim Fall von Semenya – nicht in die Normen, weiße Hautfarbe und Weiblichkeit passt. Aber es geht in diesem ganzen Komplex auch um Sexualität.
"Semenya musste die Hauptlast dieser ganzen Angelegenheit tragen"
Schweizer: Also, Sie sagen, dass der Leichtathletik-Weltverband Semenya ausgrenzt, weil sie nicht in eine Kategorie passt, aber auch weil sie sich öffentlich auf eine gewisse Art und Weise äußert. Aber die Regel gilt nicht nur für sie, also warum werfen sie dem Leichtathletik-Weltverband vor, dass es gegen Semenya geht?
Pape: Ich glaube, dass Semenya nicht die Einzige ist, die herausgehoben wird. Sie musste die Hauptlast dieser ganzen Angelegenheit tragen. Und man muss anerkennen, sie musste sich gegen den Leichtathletik-Weltverband auflehnen und klagen. Aber wir lernen immer mehr Frauen kennen, die von der Regel beeinflusst worden sind und oft auch auf verheerende Art und Weise. Frauen, wie Annet Negesa, deren Leben durch Operationen zerstört worden ist. Selbst entgegen aller medizinischer Ratschläge. Es ist extrem traurig für mich und sehr negativ für den Frauensport, wenn man die unzähligen schwarzen Sportlerinnen aus Subsahara-Afrika sieht, die den gesamten Schaden ertragen müssen, dass bestimmte Frauen nicht an Wettbewerben teilnehmen dürfen. Und ihre Geschichten kriegen wir nicht oft genug zu Gehör. Das sind sehr, sehr wichtige Geschichten.
Schweizer: Was Sie ja auch sagen, ist, dass sie nicht glauben, dass es nicht das Testosteron ist, was den großen Unterschied macht. Dabei wird – auch in einigen wissenschaftlichen Studien -noch immer sehr stark angenommen, dass Testosteron in einigen Sportarten einen Unterschied bei der sportlichen Leistung macht.
Pape: Was ich bei meinen eigenen Forschungen erfahren habe und das waren geführte Interviews mit mehreren Interessenvertretern aus der Leichtathletik auf Top-Niveau, also Sportlerinnen und Sportler, Trainer, Funktionäre, Journalisten, Radio- und TV-Kommentatoren und so weiter. Was bei allen Gesprächen immer wieder herauskommt, es geht a) nicht um Semenyas sportliche Fähigkeiten oder b) allein um ihr Testosteron-Level. Diese beiden Faktoren prägen ganz besonders, was Leute über sie denken, aber sie reichen absolut nicht als Kriterien aus, um zu urteilen, dass Semenya nicht in den Frauensport gehört. Es ist ein extrem kompliziertes Gebilde und es gibt viele Menschen in der Leichtathletik, die Caster Semenya unterstützen. Und dann gibt es viele, die sie ablehnen und mehr Informationen wollen. Es ist also viel komplexer, als das, was wir oft vom Welt-Leichtathletikverband hören.
Nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse in den Vordergrund stellen
Schweizer: Wenn sie also bestätigen, dass es ein sehr schwieriges Thema für die Verbände und die Sportgemeinschaft ist, Kriterien und Maßstäbe zu entwickeln, die wirklich fair für alle sind, sehen sie dann überhaupt eine Möglichkeit das Problem in der näheren Zukunft zu lösen?
Pape: Das ist eine sehr wichtige Frage. Was passiert, ist, dass die Sportverbände, wie der Welt-Leichtathletikverband aber auch das IOC, über Jahrzehnte vor allem darauf geschaut haben, mit ausschlussorientierten Kriterien auf das "Problem" der Geschlechtervielfalt zu reagieren. Und ich denke, dass Vorschriften und Regeln nicht das einzige Mittel der Wahl sind. Die Kriterien dürfen aus meiner Sicht nicht allein aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen werden. Nach meiner Meinung sollten die Entscheidungsgremien im Sport die Kriterien auch mal für eine Zeit außer Acht lassen. Der Welt-Leichtathletikverband spielt da eine immens wichtige Rolle, denn sie denken immer, dass das, was im Spitzensport passiert, nichts mit dem Breitensport zu tun hat. Soziologen haben gezeigt, dass das absolut nicht der Fall ist. Es gibt weitreichende Konsequenzen, die über den Spitzen- und Breitensport hinausgehen, die von Entscheidungen ausgehen, die von den Spitzenverbänden getroffen werden. Die Spitzenverbände haben eine Chance, aber auch eine Verpflichtung verschiedene Wege zu erforschen, um Geschlechterinklusion zu erreichen. Ob das über Bildungsmaßnahmen läuft oder ob man schaut, was in den Sportklubs auf Breitensportniveau gut funktioniert. Aber es muss ein Wandel her, weg von den Kriterien bei den Entscheidungsgremien, hin zu einer größeren Anzahl an Maßnahmen, die sie treffen können.