Eric Hobsbawm, Historiker von Profession und engagierter Intellektueller, denkt nicht daran, sein Engagement im Namen seiner Profession zu neutralisieren. Sein Interesse gilt, altmodisch gesprochen, den Entrechteten und Unterdrückten, den Namenlosen, die in ihrem Leben viel Kraft aufbringen müssen, um ihre Selbstachtung zu wahren. Er schreibt, wie er mehrfach betont, gegen "die ungeheure Herablassung der Nachwelt" an, die den Massen wenig, deren Herren dagegen oft überschwengliche Erinnerungen widmet. An anderer Stelle hat Hobsbawm geschrieben:
"Marx ist und bleibt die Grundlage für jede angemessene Erforschung der Geschichte, weil er bislang als einziger versucht hat, einen methodischen Zugang zur Geschichte als Ganzes zu formulieren und die gesamte gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit in den Blick zu bekommen und zu erklären."
Ein überholter Standpunkt, könnte man meinen, vielleicht aber nur vorübergehend überholt. Wie immer man es betrachten mag, der Mann lässt sich nicht einen Augenblick auf postmoderne Beliebigkeit ein. In seinem jüngsten ins Deutsche übersetzten Buch hat er 26 Arbeiten aus 50 Jahren zusammengetragen - Rezensionen, Vorträge, Zeitschriftenaufsätze -, so als wolle er seine Haltung und die nicht zu beirrende Kontinuität seines Denkens noch einmal demonstrieren. Nicht jeder dieser Texte, das sei vorab gesagt, rechtfertigt die Aktualisierung. Es finden sich darunter für den Tag geschriebene Arbeiten, auch Vorträge, die ihren Anlass hatten und ohne ihn etwas luftig bleiben. Doch umfasst der Band genügend Stoff, um ihn lesenswert zu machen. Das gilt vor allem für den der Geschichte der Arbeiterbewegung gewidmeten Abschnitt, dem zehn Texte zuzuordnen sind, ebenso für die Aufsätze über Bauern, Politik und Landbesetzungen und auch für seine Anmerkungen zur Geschichte des Jazz. Texte über Jazz und Arbeiterbewegung in einem Band zu vereinen, erscheint merkwürdig, ist es aber nicht, folgt man Hobsbawms Einsicht, dass der Jazz
"eine der wenigen Entwicklungen in der Kunst darstellt, die ganz und gar im Leben armer Leute verwurzelt ist".
Gemäß seiner an Marx orientierten Auffassung, "Geschichte als Ganzes zu formulieren", geht Hobsbawm gern von unscheinbaren Randphänomenen aus, stellt Gewissheiten in Frage oder greift Spuren auf, die sich auf der Hauptstraße der Forschung verlieren. Exemplarisch für dieses Herangehen sind Aufsätze wie "Die Maschinenstürmer", "Der Schuhmacher als Politiker", "Mann und Frau: Bilder der politischen Linken", "Bauern und Politik", "Revolution und Sex", aber auch die Porträtnotizen zu Count Basie und Duke Ellington.
Ganz gegen die landläufige Meinung, dass die maschinenstürmenden Handwerker und Arbeiter des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus konservativer Technikfeindlichkeit ans Werk gegangen seien, weist Hobsbawm nach, dass sie in der Regel, ökonomisch rational, ihren eigenen Interessen folgen und mit der angedrohten oder tatsächlichen Zerstörung von Anlagen und Gerät ihre Auftrag- oder Arbeitgeber - oft mit Erfolg - wirtschaftlich so in die Enge trieben, dass ihren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und höherer Entlohnung nachgegeben werden musste. Der Maschinensturm war meist ein Mittel, fast nie der Zweck der Aktion.
Anhand der Darstellung von Mann und Frau in den Bildern der politischen Linken zeigt Hobsbawm, wie Selbstbewusstsein und Emphase sich im "Übergang von den demokratisch-plebejischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts zu den proletarischen und sozialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts" verschieben. Findet sich auf den plakativen Repräsentationen der plebejisch-demokratischen Agitation immer wieder eine ganz oder halb entblößte Frau als Sinnbild der Befreiung des Volks im Mittelpunkt - vorbildlich in Delacroix's Gemälde "Freiheit" -, so tritt an deren Stelle in der proletarisch-sozialistischen Plakatikonographie mehr und mehr der muskulöse Arbeiter mit freiem Oberkörper, während die Frau verhärmt und in dunkle Kleider gehüllt in die zweite Reihe rückt. Das ist ein interessanter Befund, der nebenbei verrät, wie die proletarische und sozialistische Bewegung sich oft selbst im Wege stand.
In einer kleinen Arbeit über "Revolution und Sex" tritt Hobsbawm der Auffassung entgegen, sexuelle Befreiung sei ein Indiz auch für gesellschaftliche Emanzipation, und zeigt, dass das Gegenteil durchaus möglich ist und oft wirklich war:
"Wenn eine Pauschalisierung in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Klassenherrschaft und sexueller Freiheit überhaupt zulässig ist, dann die, dass Herrscher die sexuelle Freizügigkeit oder Lockerheit ihrer Untertanen fördern, und sei es nur, um sie von der Tatsache ihrer Unterjochung abzulenken. (...) Da Sex die billigste und zugleich die intensivste Form des Vergnügens ist, ist es, bei sonst gleichbleibenden Umständen, politisch von Vorteil, die Armen dazu anzuregen, sich soviel wie möglich sexuell zu betätigen."
Die Reihe dieser überraschenden Einsichten ließe sich lange fortsetzen. Immer wieder führt Eric Hobsbawm von vertrauten Denkklischees weg, ohne sich dabei theoretische Extravaganzen zu leisten. Geleitet vom empirischen Material, angeregt von guten Fragen und natürlich im Besitz eines reichen Fundus an historischer Kenntnis, gelingt es ihm stets erneut zu faszinieren, zu inspirieren und bestens zu unterhalten. Man muss das ja nicht alles wissen, aber es macht Spaß zu erkennen, was man alles wissen kann, wenn man genau hinschaut.
Eric Hobsbawm: Ungewöhnliche Menschen. Über Widerstand, Rebellion und Jazz. Der Band ist im Carl Hanser Verlag, München und Wien erschienen, hat 424 Seiten und kostet DM 49,80.