"Sie waren gerade beim Kuchen angelangt, da sackte Bankdirektor Berge am Tisch zusammen und fing an zu sterben. Es wirkte nicht echt. Er fasste sich nicht an die Brust oder an den Hals, nur seine Augen wurden groß und kugelrund, es wirkte restlos unnatürlich, künstlich, als führte er ein kleines Schauspiel auf."
So folgenreich beginnt der neue Roman von Erik Fosnes Hansen. Wir sind in einem familiengeführten norwegischen Berghotel zu Beginn der 80er Jahre. Das Essen für den unglücklichen Bankdirektor hat die Eigentümerfamilie des noblen Etablissements, das allerdings schon bessere Zeiten gesehen hat, nicht ohne Hintergedanken ausgerichtet. Die Bank muss bei Laune gehalten werden, damit weiter das Geld fließt, denn ohne großzügige Kredite kommen Direktor Zacchariassen und seine aus Österreich stammende Frau Sissi längst nicht mehr über die Runden. Die dramatische Anfangsszene ist symbolisch für den Roman. Denn erzählt wird auf fast 400 Seiten kaum weniger effektvoll vom steten Niedergang eines Hotels bis hin zu einem großen, alles mit sich reißenden Totentanz. Fosnes Hansen, der zuvor gern weiter zurückliegende Ereignisse ins Zentrum seiner unterhaltsamen Romane gerückt hat, greift dabei auf ein Stück eigene Biografie zurück.
Merkwürdige Menschen
"Mein Vater leitete ein Reisebüro. Ich bin viel mit ihm durch Norwegen gefahren als ich ein Kind war. Er hat Inspektionen gemacht. Er besuchte die verschiedenen Hotels in Südnorwegen, wohin er später Gäste schicken würde. Das waren damals noch Familienbetriebe vielleicht in dritter oder vierter Generation. Zu dieser Zeit, so etwa um 1982, vielleicht auch ein bisschen früher, fing es an, diesen Hotels schlecht zu gehen. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre haben die Norweger wie so viele andere Völker in Westeuropa entdeckt, dass es ein anderes Land gibt. Dieses Land heißt: der Süden. Sie fingen an, nach Marbella und Mallorca zu fahren und nicht mehr in die Berge, wo die Hotels standen und auf sie warteten mit hunderten von Zimmern. Plötzlich fehlte dann die Einkunftsgrundlage für diese Hotels, und sie wackelten am Rande des Konkurses."
Auch das Berghotel Fåvnesheim im Süden Norwegens wackelt gewaltig. Ein Teil des Personals muss gehen, und es wird an allen Ecken und Enden gespart. Aber da die Gäste ausbleiben, hilft das nichts. Hintergrund für das veränderte Reiseverhalten ist eine größere Umwälzung, die im Roman allerdings nicht miterzählt wird. Seit Ende der 60er Jahre große Ölvorkommen vor der Küste Norwegens entdeckt wurden, sind in dem zuvor recht armen Land viele Menschen zu Wohlstand gelangt. Doch jeder Wandel kennt auch Verlierer. Von diesen erzählt Fosnes Hansen in seinem Roman.
Krise einer Lebensart
"Die Welt verändert sich fortdauernd und die Menschen versuchen damit umzugehen. Und dann kommt es zu diesen Momenten der großen Veränderungen, wo plötzlich alles umgestaltet wird, man ist total verunsichert, der Boden wird unter den Füßen weggerissen. Man muss sich auf etwas ganz Neues vorbereiten. Ob dieser Untergang einer solchen Lebensform gerecht oder richtig oder notwendig ist, dazu mache ich keine Stellungnahme. Aber dass eine solche Veränderung, eine totale Krise der Lebensform und der Lebensart zu großen existenziellen und persönlichen Katastrophen und Schwankungen führen kann, das ist der Punkt, den ich habe erforschen wollen."
Direktor Zacchariassen jedenfalls versteht die Welt nicht mehr. Gerade deshalb klammert er sich umso fester an die Überzeugung, dass alles gut wird, wenn nur jeder weiterhin seinen Job akkurat erledigt. Wie brüchig die Basis bereits geworden ist, verdrängt er. Dem Leser hingegen wird es sehr rasch klar. Dieser ist damit auch dem Erzähler, Sedd, immer gleich ein paar Schritte voraus. Der 13jährige Enkel der Hoteleigentümer wächst bei den Großeltern auf, sein Vater ist verstorben, seine Mutter, um die sich allerlei Geheimnisse ranken, verschwunden. Fosnes Hansens Erzähler, der als Küchengehilfe und Laufbursche in den Hotelbetrieb eingespannt wird, ist ein ungemein altkluger Junge. Seine hervorstechende Eigenschaft schlägt sich auf jeder Seite des Berichts nieder, den Sedd, mittlerweile 15jährig, niederschreibt.
"Wenn man wie ich beschlossen hat, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen, werden einem augenblicklich allerlei Schwierigkeiten bewusst, nicht zuletzt die Frage, woran man sich erinnern sollte. Eines ist indessen sicher, nämlich dass die Zukunft der Autobiographie gehört. Von Jahr zu Jahr wird es immer schwieriger, sich literarisch etwas auszudenken, schließlich gab es alles schon mal."
Ein gutgläubiger Teenager
Hier fühlt sich ganz offenbar jemand zum Schriftsteller berufen. Entscheidend für die innere Spannung des Romans ist jedoch etwas anderes: Sämtliche Geschehnisse werden aus der Perspektive eines Teenagers erzählt, der allzeit folgsam und erstaunlich gutgläubig ist. Sedd verlässt sich weniger auf eigene Anschauungen, für ihn zählt vielmehr einzig das Wort des Großvaters. Der Junge ist vollkommen blind dafür, dass sich die Reden des alten Mannes, der starr an seinen Überzeugungen festhält, immer weniger mit der Realität in Einklang bringen lassen. Allenfalls ahnt er spät, dass vieles im Hotel nicht so ist, wie es sein sollte. Allerdings wagt er es auch dann nicht, die Autorität des Großvaters in Frage zu stellen. Der ungebrochene Glaube des Erzählers an die Integrität und Unfehlbarkeit des Familienoberhauptes machen diesen Roman eines Niedergangs über weite Strecken zu einem komischen Buch:
"Mein Großvater stand zu seinem Wort. So pflegte er es jedenfalls auszudrücken. »Wenn du nicht zu deinem Wort stehst, wird dir nichts gelingen. Weil dir niemand vertraut. Verstehst du? Wenn du einmal ein Versprechen nicht hältst, werden dir die Lieferanten nie wieder glauben. Hast du einem Gast ein bestimmtes Zimmer versprochen, und er bekommt es nicht, dann bist du geliefert. Ein Mann, ein Wort, so wie ein Uhrwerk verspricht, dass es drei Uhr schlägt, wenn der große Zeiger auf der zwölf steht und der kleine auf der drei.« Ja, nickte ich, ich war ganz seiner Meinung."
Krasse Realitätsverweigerung
Rebellion ist nicht Sedds Sache. Als der stets akkurat gekleidete Junge einmal bei drückender Hitze sein Jackett ausziehen will, wird ihm befohlen, solchen Unsinn zu unterlassen. "Ein Mann muss seine Transpiration unter Kontrolle haben", weiß der Großvater. Durch bloße Willensanstrengung ließe sich das Schwitzen abstellen. Das ist gleich doppelt komisch, schließlich hat Direktor Zacchariassen längst nichts mehr unter Kontrolle. Rechnungen und Mahnungen lässt er einfach ungeöffnet verschwinden.
Fosnes Hansen hat große Freude daran, die krasse Realitätsverweigerung des alten Mannes bunt auszuschmücken. Nur hin und wieder rafft sich der glücklose Hotelier zu verzweifeltem Aktionismus auf und wird so – befreit von jeglicher Scham – zum peinlichen Bittsteller gegenüber dem neuen Bankdirektor. Aber wer kurz vor dem Ende steht, für den sind Würde und Stolz allemal zweitrangig.
Fosnes Hansen hat große Freude daran, die krasse Realitätsverweigerung des alten Mannes bunt auszuschmücken. Nur hin und wieder rafft sich der glücklose Hotelier zu verzweifeltem Aktionismus auf und wird so – befreit von jeglicher Scham – zum peinlichen Bittsteller gegenüber dem neuen Bankdirektor. Aber wer kurz vor dem Ende steht, für den sind Würde und Stolz allemal zweitrangig.
Was hat das nun alles mit einem Hummerleben zu tun? Auch die Krebse, die zu Beginn des Romans vom Hotelkoch Jim lebend in kochendes Wasser befördert und anschließend von den Gästen verzehrt werden, zappeln, zischen und fauchen, um ihrem Schicksal zu entkommen. Zuvor leben sie, von einem Panzer beschützt, stoisch und stumm auf dem Boden des Aquariums.
Erik Fosnes Hansen: "Ein Hummerleben"
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln.
384 Seiten, 24.- Euro.
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln.
384 Seiten, 24.- Euro.