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Erik Larson
Ein US-Botschafter in Nazi-Deutschland

Erik Larsons Buch "Tiergarten. In the Garden of Beasts" erzählt die Geschichte eines amerikanischen Diplomaten, der 1933 nach Berlin kommt und nicht ahnt, welche Folgen die Machtergreifung Hitlers haben wird.

Von Henry Bernhard | 02.12.2013
    Adolf Hitler ist seit zwei Monaten deutscher Reichskanzler, da muss im Frühjahr 1933 der Posten des amerikanischen Botschafters in Berlin neu besetzt werden. Präsident Roosevelt hat einige Mühe, einen geeigneten und willigen Mann dafür zu finden: Mehrere Kandidaten sagen ab, denn Deutschland ist keine der ersten Adressen mehr für ehrgeizige Diplomaten. Viele wollen lieber abwarten, bis der verrückte Spuk namens Hitler beendet ist. Aber die Zeit drängt, denn der US-Präsident macht sich Sorgen um 1,2 Milliarden Dollar, die Deutschland amerikanischen Gläubigern schuldet. Also bestellt Roosevelt William E. Dodd, einen fleißigen Geschichtsprofessor, 63 Jahre alt, der in Leipzig studiert hat.
    Dodd suchte einen ruhigen Posten, der Status und Auskommen sicherte, ohne allzu große Ansprüche zu stellen, damit ihm möglichst viel Zeit zum Schreiben blieb – obwohl er durchaus sah, dass er von Natur aus nicht unbedingt zum Diplomaten taugte.
    Anfang Juli 1933 schifft sich Dodd mit seiner Frau und seinen beiden erwachsenen Kindern, Martha und Bill, nach Deutschland ein. Im Gepäck hat er den Auftrag, sich um das amerikanische Geld in Deutschland zu kümmern, das Ende des Hitler-Regimes abzuwarten und nicht offen gegen die Judenverfolgung zu protestieren. Zum einen hatten jüdische Verbände in den USA vor einer Konfrontation mit dem Naziregime gewarnt, um es nicht weiter zu provozieren. Zum anderen fürchtete der US-Präsident den Ansturm jüdischer Einwanderer aus Deutschland, wenn man deren Nöte lautstark beklagt. Der neue Botschafter Dodd hat sich vorgenommen, die Nazis durch Vernunft zu mäßigen. Seine lebensfrohe 24jährige Tochter Martha allerdings ist begeistert von Deutschland und der "nationalsozialistischen Revolution“:
    Wenn Martha das Hotel verließ, sah sie keine Gewalt, sah keine verängstigten Gesichter, fühlte keine Unterdrückung. Die Stadt war eine Wonne. Was Goebbels verdammte, war genau das, was Martha liebte. Ein kurzer Gang nach rechts die Straße hinunter, weg vom kühlen Grün des Tiergartens, brachte sie zum Potsdamer Platz, einer der geschäftigsten Kreuzungen der Welt. Tatsache war, dass die Stadt an den meisten Tagen in fast allen Vierteln so aussah und funktionierte, wie sie immer ausgesehen und funktioniert hatte.
    Tagebuchaufzeichnungen des US-Botschafters William E. Dodd
    Wie in einer Reportage schildert Erik Larson die Geschichte des US-Botschafters William E. Dodd, recherchiert unter anderem anhand von Dodds Tagebuchaufzeichnungen. Dem Autor gelingt es sehr überzeugend, das Nebeneinander von Normalität und Exzess unter dem jungen NS-Regime zu verdeutlichen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Tochter Martha Dodd. Sie ist klug, kokett und attraktiv, schüttelt Hitler, Goebbels, ausländischen Diplomaten und deutschen Widerständlern gleichermaßen die Hände. Auf ihren Spuren lernt der Leser ein Berlin im Umbruch kennen, widersprüchlich und aufregend – zumindest für jemanden, der sicher ist vor prügelnden Braunhemden. Marthas Vater ist weniger naiv als sie, und dennoch blind für das anschwellende Böse: Er ignoriert, dass Juden immer mehr ausgegrenzt werden, er drängt einen kritischen amerikanischen Journalisten zur Ausreise und freut sich, für wenig Geld seine Residenz in einer Villa nahe dem Tiergarten einrichten zu können – der Besitzer, ein jüdischer Bankier, zieht mit seiner Mutter unters Dach. Es ist das große Verdienst des Autors, die Veränderungen in den Ansichten der Protagonisten glaubhaft und anschaulich darzustellen. Parallel erlebt der Leser den Umbruch der Hauptstadt Berlin von einem zentralen Ort der Moderne in einen Platz der Angst, der Denunziation und des Schreckens.
    Das Leben der Dodds erfuhr einen unterschwelligen Wandel. Hatten sie bisher noch geglaubt, zumindest in ihrem eigenen Haus frei und offen reden zu können, spürten sie mit einem Mal eine neue, unbekannte Befangenheit. Die Ängste hielten Einzug in ihre Träume.
    Dennoch glaubt Botschafter Dodd, Deutschland allein durch das Propagieren amerikanischer Werte auf den Pfad der Tugend zurückführen zu können. Dodds Tochter Martha jedoch, die das Nachtleben der Hauptstadt kennt, die – teilweise parallel – Verhältnisse mit dem Gestapo-Chef, einem sowjetischen und einem französischen Botschaftsmitarbeiter und mit dem amerikanischen Autor Tom Wolfe hat, erfährt zu viel, um weiter von den blonden arischen Jünglingen begeistert zu sein.
    Ihre blinde Bejahung des Hitler-Regimes verblich zu einer wohlwollenden Skepsis und verwandelte sich in tiefe Ablehnung.
    Der Leser erfährt interessante Details über die Ausschaltung der SA als politische Konkurrenz Hitlers und über Vizekanzler Franz von Papens in Ansätzen oppositionelle Rede an der Universität Marburg. An diesen Konflikten zeigt der Autor auch den Wandel Botschafter Dodds zu einem erklärten Gegner der Nazis, der als einziger Diplomat den Nürnberger Reichsparteitagen der NSDAP demonstrativ fernblieb. Nach Dodds Rückkehr in die USA 1938 warnte er vor der deutschen Gefahr für Frieden und Zivilisation und setzte sich für den Eintritt der USA in den Krieg gegen Deutschland ein. Der Autor Erik Larson urteilt über den Diplomaten, der von vielen Kollegen als peinliche oder kuriose Fehlbesetzung eingeschätzt wurde:
    Am Ende erwies sich Dodd als genau das, was Roosevelt gewollt hatte, ein einsames Leuchtfeuer amerikanischer Freiheit und Hoffnung in einem Land, das im Dunkel versank.
    Am liebsten aber folgt der Autor Martha Dodds Wegen, ihren Liebschaften und Wagnissen. Dies mag der Quellenlage, aber auch der Pikanterie ihres waghalsigen Liebeslebens geschuldet sein. So gerät Martha letztlich sogar in die Dienste des sowjetischen Geheimdiensts, Genaueres erfährt der Leser darüber aber nicht. Das sauber recherchierte und gut dokumentierte Buch ist nicht ganz frei von Klatsch, Geschwätzigkeit und Kolportage; es ist flüssig und unterhaltsam geschrieben. Grammatikalisch holpert es gelegentlich, hier hätte ein besseres Lektorat gut getan. Der unvoreingenommene Blick auf das Berlin von 1933 bis 1938 jedoch ist die Lektüre allemal wert.