9. Mai. Der "Tag des Sieges" in der Uralmetropole Perm: Die Parade der Panzer und Militärkapellen zieht durch die Innenstadt. Auf dem Platz am Denkmal "Helden der Front" herrscht großer Rummel: Patriotische Lieder auf zwei Livebühnen, Luftballons in Form von Armeehubschraubern und ein Festzelt, das das nachgebaute Arbeitszimmer von Josef Stalin präsentiert, dem siegreichen Oberbefehlshaber der Roten Armee.
Kinder in Uniformen und Waffen
Die Kinder zieht es zum hinteren Teil des Festgeländes: Hier ist der Krieg ein großer Abenteuerspielplatz. Imposant aussehende Kämpfer mit Sturmhauben und Maschinenpistolen stehen für Familienfotos zur Verfügung. Schießstände überall. Daneben wirbt ein Infostand für Jugendfreizeiten. Näheres erklärt ein junger Mann in olivgrünem Anzug: Nikita, ein schmaler Teenager, dem braune Locken unter der Kadettenmütze hervorquellen.
"Grosa ist eine militär-patriotische Jugendorganisation. Hier können junge Leute Trainings in Erster Hilfe, Katastrophen- und Brandschutz absolvieren. Und auch im Schießen."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Spätes Gedenken - Sowjetische Kriegsgefangene in Russland und Deutschland.
Ein Hindernisparcours zieht die Kinder in Scharen an. Sie springen über Barrieren, robben unter aufgespannten Planen hindurch und ziehen sich Gasmasken über das Gesicht. Nikita sucht das Gespräch. "So was sieht man in Deutschland wohl nicht so oft", beginnt er vorsichtig. Früher habe er selbst mit Begeisterung an solchen Veranstaltungen teilgenommen. Darum habe er zur heutigen Siegesfeier der patriotischen Jugendorganisation Grosa seine Unterstützung angeboten.
Dann wird der Sechzehnjährige nachdenklich. Er lässt seine Blicke über den Hindernisparcours schweifen und überrascht mit einem Ausbruch, der nicht zu seinem militärischen Outfit passen will.
"Schauen Sie sich an, wie die Kinder hier rumlaufen - in Uniform mit Waffen! Finden Sie das nicht verstörend? Viele sind noch keine zehn Jahre alt, aber sie trainieren den bewaffneten Kampf! In sportlicher Hinsicht ist das natürlich positiv – und noch sind es Spielzeugwaffen. Aber können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn jemand sie mal unter sein Kommando nimmt?"
Am Rande der Rasenfläche hat eine Familie eine Picknickdecke ausgebreitet: Mutter, Großmutter und Enkelin. Sie haben ein selbst gebautes Schild dabei: Das Schwarz-Weiß-Porträt eines Mannes, das an einem langen Stock gebunden ist.
Sie wollen am sogenannten Unsterblichen Regiment teilnehmen, erklärt die junge Mutter. Die Idee wurde 2012 als Privatinitiative geboren. Seitdem marschieren einmal im Jahr, am 9. Mai, landesweit Menschen mit den Porträts von Kriegsteilnehmern aus der eigenen Familie durch ihre Stadt. Inzwischen hat auch der russische Staat die Initiative für sich und seine Siegesfeierinszenierung entdeckt. Präsident Putin lief mehrmals mit.
In Perm soll der Gedenkmarsch beginnen, sobald die offizielle Siegesparade vorbei ist. Der Mann auf dem Foto, sagt die junge Mutter, war ihr Großvater.
"Mama hat mir seine Geschichte erzählt und ich habe sie an meine Tochter weitergegeben. Jedes Wort von ihm bewahren wir auf wie eine Kostbarkeit. Leider kennen wir seine Geschichte nur in Teilen. Ob er in Kriegsgefangenschaft war? Seiner Familie hat er nie davon erzählt. Er hat immer nur geweint."
Dann erhebt sich die Großmutter von der Picknickdecke. Sie möchte der deutschen Reporterin noch etwas mitteilen.
"Es ist etwas Persönliches. Ich möchte Ihnen sagen: Wir, die normalen Leute, haben gar nichts gegen die deutsche Nation. Wir können nichts für unsere Regierung! Wir mögen die Deutschen sehr."
"Unsterbliches Regiment" - Gedenkmarsch durch die Stadt
Nikita hat das Gespräch in respektvoller Entfernung abgewartet. Zwei Jahre noch, dann wird ihn die Armee zum Wehrdienst einziehen. Dann wird er eine echte Uniform tragen.
Was hat es auf sich mit dem Zweiten Weltkrieg? Seit einigen Monaten lässt ihn diese Frage nicht mehr los, erzählt er. Seitdem hat er vieles gelesen, das nicht in das militärisch-patriotische Weltbild seiner alten Jugendorganisation passt.
"Ich habe Remarque gelesen, den deutschen Autor von 'Im Westen nichts Neues'. Der schreibt die Wahrheit über den Krieg. Er schreibt das, was die laute staatliche Propaganda versteckt, damit die Leute mitmachen. Unsere Bevölkerung ist nicht besonders aufgeklärt. Sie ist ein leichtes Opfer. Darum mache ich mir manchmal Sorgen. Es ist doch mein Land! Und es ist meine Zukunft, wie immer sie aussieht."
Auf dem Festgelände ist es unruhig geworden: Alle warten auf das Eintreffen des "Unsterblichen Regiments", Russisch: "Bessmertnyj Polk". Der Gedenkmarsch soll groß sein in diesem Jahr, von 40.000 Teilnehmern ist die Rede. Die Schilder sind schon aus weiter Ferne zu erkennen: Tausende Schwarz-Weiß-Porträts von Kriegsteilnehmern aus Perm, die – über den Köpfen einer schweigend marschierenden Menge schwebend – über die Petropawlowskistraße herannahen.
Sie waren Scharfschützen, Militärstrategen, Arbeiterinnen in Panzerfabriken, verwitwete Mütter und kriegsgefangene Soldaten. An diesem Tag werden sie alle von ihren Nachkommen geehrt, weil sie in einem mörderischen Krieg für ihr Land da waren.