Wenn man mit dem Zug von Warschau zur masurischen Seenplatte unterwegs ist, wird es zusehends einsamer. Ab und an kommt ein Dorf, auf einem Feld zieht ein Traktor eine Staubwolke hinter sich her. Seen gleiten vorbei, umgeben von Schilf. Manchmal blinkt ein Segel durch die Bäume.
Die masurische Seenplatte ist ein Wasserweg von insgesamt 150 Kilometern Länge, ein Paradies für Segler. Schloss Steinort liegt genau auf der Hälfte des Wasserwegs.
Der VW-Bus holpert unter alten Eichen- und Lindenalleen entlang. Nur 60 Kilometer sind es von hier bis zur russischen Grenze, die zugleich EU- und NATO-Außengrenze ist.
"Die schlimmste Zeit kam erst nach der Wende"
Schließlich ein Schild "Sztynort Duzy", Groß-Steinort. Links liegt der kleine Hafen mit 200 Booten. Rechts auf einer Anhöhe, etwas verborgen hinter Speicher, Gesindehaus und Gestüt, das Schloss, mit Blick auf den Steinorter See. Der Putz an der Fassade bröckelt, die Fenster sind mit Plastikplanen verhängt und vergittert. Piotr Wagner:
"Die schlimmste Zeit für das Schloss kam erst nach der Wende. Dann hat das die Gemeinde übernommen, die Kasse war leer. Die Gemeinde wollte das so schnell wie möglich verkaufen."
Im Kommunismus war im Schloss eine LPG
Piotr Wagner ist Hilfskraft der Deutsch-Polnischen Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz, und ihrer polnischen Partnerstiftung, die seit zehn Jahren um den Erhalt des Schlosses ringen. 2009 hat die Stiftung das Schloss für einen Euro gekauft. Bisher ist die Idee, einen Erinnerungsort mit einem Wissenschaftszentrum und vielleicht auch einem Hotel zu verbinden, allerdings ein Luftschloss geblieben.
In der kommunistischen Zeit war im ehemaligen Lehndorff-Schloss noch eine LPG (Anm. d. Red.: Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft). Erst nach 1989 wurden die Böden herausgerissen, noch vorhandenes Altmetall zu Geld gemacht. Segler grillten im Schloss.
Barocker Kernbau vom Ende des 17. Jahrhunderts
Seit 2014 kümmert sich Wolfram Jäger, Professor an der TU Dresden, gemeinsam mit einem polnischen Architekten, im Auftrag der Stiftungen um die Restaurierung des Schlosses. Jäger, der auch schon mal im Biwak vor dem Schloss übernachtet, steht im Foyer, von dem aus zwei Holztreppen in die erste Etage führen.
"Der Teil des Schlosses, in dem wir uns jetzt befinden, der barocke Kernbau, ist Ende des 17. Jahrhunderts erbaut worden, auf der Grundlage eines Vorgängerbaus, der marode oder abgebrannt war. Und darauf ist dann dieser Bau errichtet worden, im barocken Stil. Dann im 19. Jahrhundert sind die beiden West- und Ostflügel angebaut worden, im klassizistischen Stil, und dann im 19. Jahrhundert die turmartigen Eckbauten, wo man dem Ganzen den Anschein einer Kreuzritterburg geben wollte."
Gemeinde, Freiwillige, Bundesregierung wollen Sanierung
Auf den ersten Blick sieht man nicht, wie viel Arbeit schon geleistet wurde. Mit großem Aufwand hat man den Keller trockengelegt, das undichte Dach gedeckt.
Nun will man für ein Infocenter Musterräume sanieren. Dann müssten die Freiwilligen aus Polen und Deutschland, die die Besucher herumführen, nicht länger auf einer Bank vor dem Schloss sitzen. Neben der Bundesregierung will sich auch die nahe gelegene Gemeinde Wegorcewo, Angerburg, beteiligen. Die frühere Pracht der Innenausstattung kann man an einigen Stellen noch ahnen. Jäger zeigt auf die Deckenbalken:
"Hier sehen wir die Bemalung noch wunderbar, auch wenn sie sehr angeschwärzt ist. Hier sehen wir in gewissem Abstand so‘ne Menge von Früchten, Apfelsinen und Äpfel, Pfirsiche, und Laub und Blätter drumrum…"
Unerwünschter Schlossbesucher: Joachim von Ribbentrop
Hinter dem Schloss liegt ein verwilderter Park. Georg Gietz steht in dem demolierten kleinen Teehaus, gebaut nach einem Entwurf von Carl Gotthard Langhans, dem Architekten des Brandenburger Tors. Gietz ist Mitglied der Lehndorff-Gesellschaft, die 2010 von den Nachfahren ins Leben gerufen wurde. Er weiß von einem prominenten, aber nicht eben erwünschten Besucher des Teehauses zu berichten: NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop. Er hatte sich 1941 gegen den Willen der Familie im Schloss einquartiert.
"Ribbentrop hat sich ja hier in Steinort sehr wohlgefühlt. Da sind also auch Aufnahmen abgelichtet, wie er mit den Kindern von Lehndorff, denen er, glaube ich, auch ein Pony geschenkt hat, wo dann diese Herren auch die ganze Anlage nutzten, und sicherlich wird Herr Ribbentrop hier auch seine Tasse Tee getrunken haben…"
Heinrich Graf von Lehndorffs Flucht durch den Sumpf
Grund von Ribbentrops Anwesenheit war die Nähe zur Wolfsschanze, der riesigen Bunkeranlage nur 20 Kilometer entfernt, in der Hitler die Operation Barbarossa, den Russlandfeldzug, plante.
Heinrich von Lehndorff und seine Frau stellten sich vorderhand gut mit Ribbentrop und seinem Hofstaat. Heimlich fungierte Lehndorff jedoch als Verbindungsmann zwischen Graf Stauffenberg und Henning von Tresckow. Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer hat das "Doppelleben" der Familie in einem Buch beschrieben. Nachdem das Attentat vom 20. Juli fehlgeschlagen war, wurde Lehndorff zum Gejagten. Durch ein Fenster des Schlosses soll er in den Park geflohen sein. Georg Gietz zeigt auf einen Weg.
"Das ist eigentlich die Hauptachse. Es geht noch so anderthalb, zwei Kilometer weiter, endet dann irgendwo im Sumpf, durch den damals auch der Heinrich Graf von Lehndorff vor der Gestapo geflüchtet ist. Er hat sich ja dann selber gestellt."
Russische Soldaten angelten in Zinksärgen auf dem See
Am Ortsausgang von Steinort führt ein Feldweg zur Erbbegräbniskapelle der Lehndorffs am anderen Ufer des Steinorter Sees. Die Kapelle, ein Ziegelbau des Baumeisters Friedrich August Stüler, ist heute leer. Russische Soldaten sollen die Zinksärge nach dem Krieg benutzt haben, um auf dem See angeln zu gehen, erzählt man sich im Dorf. Georg Gietz steht inmitten von Brennnesseln und Grabsteinen, neben dem Dieselgenerator, der den Strom für die Kettensägen produziert.
"Das Ding wurde ja dann auch feierlich eingeweiht, oben auch mit einem Kreuz wieder versehen. Dieses hat die Familie Lehndorff aus Privatmitteln gestiftet... und ziert also jetzt, wie es sich für eine Kapelle gehört, die Spitze."
Bausubstanz sichern
Auf dem Rückweg nach Steinort nimmt uns einer der Handwerker im Auto mit. Während der Wagen sich durch Schlaglöcher kämpft und das Unterholz streift, erklärt der Mann vom Zürichsee, dass der Großteil der Bauarbeiten noch vor ihnen liegt:
"Ja, soweit das Geld reicht, renovieren wir. Es geht jetzt vor allem mal darum, die Bausubstanz zu sichern, wetterfest zu machen, sprich den Dachstuhl und diese Blecharbeiten. Es war ja praktisch am Zusammenfallen."
Entenjadgen mit Marion Gräfin Dönhoff
Verus von Plotho ist ein Enkel Heinrich von Lehndorffs. Seinen Großvater, der mit 35 Jahren in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde, kennt er nur aus Erzählungen und Büchern. Er weiß aber, dass sein Großvater ein Pferdenarr war. Er liebte es, mit seiner Schwester Sissi und seiner Cousine Marion Gräfin Dönhoff auszureiten und zu jagen.
"Da gab es Entenjagden im Juli, wo 600 Enten geschossen wurden. Da kam die ganze Region zusammen, gerade in einer Welt, die auch wiederum vom Winter geprägt ist, wo im Grunde überhaupt nichts passiert ist."
Chinesen und Inder zwischen den Bunkern von Hitler und Göring
Während es in Steinort noch heute recht ruhig ist, geht es an der Wolfsschanze quirlig zu. Die riesige Bunkeranlage, das Führerhauptquartier, wurde ab 1940 mitten im Wald errichtet. Polnische Schüler, sogar Touristen aus China oder Indien spazieren zwischen den gesprengten Bunkern von Hitler und Göring, kaufen Handtücher mit dem Aufdruck "Wolfsschanze" oder Gasmasken-Attrappen.
Czeslaw Puciato führt 50 Niederländer über das Areal. Der pensionierte Geschichtslehrer mit der Multifunktionsweste ist einer der zertifizierten Tour Guides an der Wolfsschanze. Vor einem Trümmerhaufen bleibt er stehen und liest vor, was auf einer kleinen goldenen Tafel eingraviert ist:
"Hier haben wir diese Stelle, wo das alles geschehen. Bisschen näher kommen. Weil Handschrift so klein ist, lese ich das alles. An diesem Ort hat Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 die Aktentasche mit der Bombe deponiert."
"Die Russen waren schon 100 Kilometer von hier"
Man merkt Puciato an, dass er sein Thema den Besuchern mit allen Mitteln nahe bringen will. Er versteht sich als Zeitzeuge, war auch dabei, als 50 Jahre nach Kriegsende an der Wolfsschanze eine deutsch-polnische Versöhnungsfeier stattfand. Und er ist sich der vielfachen Tragödie des Hitler-Attentats voll bewusst:
"Und das ist noch mehr sensationell, dass diese Anschlag hier wurde geführt, von eigene Leute. Aber das war schon Katastrophe, das war schon Agonie, das war schon Ende. Und die Russen waren schon etwa hundert Kilometer von hier."