Jasper Barenberg: Am Telefon begrüße ich Stefan Troebst, Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig, wo er in diesen Tagen auch eine Konferenz zum Hitler-Stalin-Pakt mit ausrichtet. Einen schönen guten Morgen!
Stefan Troebst: Guten Morgen nach Köln!
Barenberg: Herr Troebst, in diesen Wochen und Monaten wird ja vor allem an die friedliche Revolution in Deutschland und in Ostmitteleuropa erinnert. Sehen Sie eine Gefahr, dass darüber die Erinnerungen an den Hitler-Stalin-Pakt und den Beginn des Zweiten Weltkrieges mit seinen Folgen verblassen?
Troebst: In Deutschland gab es diese Befürchtung, die, wie wir jetzt in diesen Tagen sehen, sich eigentlich nicht bewahrheitet hat, vor allem das Medieninteresse am 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes ist doch sehr groß. Der genannte Aufruf hat allerdings auch ein Appellelement dahingehend, dass die Erinnerung an diesen Pakt und das, was er ausgelöst hat, in den verschiedenen Teilen Europas doch sehr unterschiedlich ist, und wenn es eines Tages so etwas wie eine europäische Erinnerungskultur geben sollte, dass man dann diese ganz unterschiedlichen Sichtweisen mit einbauen muss.
Barenberg: Sie haben die Erklärung angesprochen, eine Erklärung, eine Art öffentlicher Brief, der in dieser Woche in der Wochenzeitung "Die Zeit" erschienen ist und veröffentlicht wurde. Darin fordern Sie ja, sich gewissenhaft auch eben an das Jahr 1939 zu erinnern, gerade in diesem Jahr an das Jahr 1939, das heißt an den Hitler-Stalin-Pakt und an den Beginn des Krieges mit dem Überfall auf Polen. Wie weit gehen denn die Deutungen und Interpretationen des Paktes im Westen und im Osten Europas noch immer auseinander?
Troebst: Die gehen sehr weit auseinander, wobei die eigentliche Kluft nicht zwischen West und Ost ist, sondern zwischen Ostmitteleuropa, also den baltischen Staaten, Polen auf der einen Seite und der russländischen Föderation auf der anderen. Im Westen oder in der Mitte spielt die Erinnerung an den Pakt eigentlich keine große Rolle. In Deutschland ist das Datum 23. August 39 naheliegenderweise durch den 1. September 39 überlagert, also durch den eigentlichen Angriff auf Polen. Im Westen, in Frankreich und Großbritannien, ist erstaunlicher, spielt der Hitler-Stalin-Pakt in der öffentlichen Erinnerung so gut wie keine Rolle, obwohl er ja Hitler nicht nur freie Hand gegen Polen gegeben hat, sondern dann im Frühjahr 1940 auch gegen Frankreich und schließlich gegen Großbritannien, also zu erwarten wäre, dass man in der Perspektive von Paris und London diese Kausalität mit berücksichtigt, das ist aber nicht der Fall, der eigentliche Konflikt, wie gesagt, zwischen Moskau und den baltischen Republiken plus Polen.
Barenberg: Worin liegt dieser Konflikt im Kern, wo gehen da die Deutungen auseinander?
Troebst: Ganz extrem ist es im Falle der drei baltischen Staaten Island, Lettland, Litauen. Aus russländischer Sicht wird an dieser Perspektive festgehalten, die seien im Zuge des Paktes freiwillig Teile der Sowjetunion geworden, als Teilrepubliken der Sowjetunion, aus baltischer Sicht war das eine völkerrechtliche Annektion, die die kurze Staatlichkeit der baltischen Länder, die erst 1918 unabhängig geworden sind, dann brutal beendet hat und massenhaften Deportationen von Esten, Letten, Litauern nach Sibirien die Tür geöffnet hat. Also die Eliten der baltischen Staaten wurden im Zuge des Paktes geköpft und die Eigenstaatlichkeit ging bis 1991 verloren.
Barenberg: Kann man also sagen, Herr Troebst, dass der Pakt und seine Folgen bis heute die Beziehungen zwischen den baltischen Staaten und auch zwischen Polen zu Russland vergiften und damit mittelbar natürlich auch das Verhältnis der Europäischen Union zu Moskau?
Troebst: Ganz eindeutig. Also aus Sicht der Balten ist der Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen das gravierendste Ereignis des 20. Jahrhunderts, das ist ganz eindeutig. In der polnischen Sicht ist es natürlich ein bisschen ambivalenter, eben durch den deutschen Angriff, durch die deutsche Besatzung, durch den Holocaust. Aber wir können sehen in den vergangenen Jahren, wie sich die polnische Sichtweise verschoben hat und wie immer mehr die Beteiligung Stalins an der Teilung Polens im September 1939, der Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen am 17. September, wie das immer mehr sozusagen auf gleichwertiger Ebene wie der deutsche Angriff und die deutsche Besatzung gewertet wird. Das kann man auch daran erkennen, dass Bilder, Filmszenen, die bei uns so gut wie unbekannt sind, zum Beispiel die große gemeinsame Militärparade von Roter Armee und Wehrmacht in Brest auf der Demarkationslinie des sowjetischen und deutschen Besatzungsgebietes in Polen, das wird sehr häufig gezeigt in diesen Tagen. Sozusagen jeder Pole kennt diese Bilder, wie deutsche und sowjetische Offiziere während der Parade lachend nebeneinander stehen und Zigaretten rauchen. Es gibt sogar Bilder von Dienstbesprechungen zwischen Gestapo und NKWD in Zakopane in den polnischen Karpaten, wo man gemeinsam besprochen hat, wie man die polnische Elite verhaftet und aus dem Verkehr zieht. Das ist natürlich aus polnischer Sicht sehr bitter.
Barenberg: Wir wollen noch mal kurz auf die Erklärung zu sprechen kommen, denn darin ist ja auch festgehalten, dass es einen beispiellosen Eroberungs- und Vernichtungskrieg seitens Deutschland gegeben hat. Diese Erklärung ist von der "Gazetta Wyborcza", der polnischen Zeitung, auf der ersten Seite der Printausgabe gebracht worden. Wie interpretieren Sie sozusagen, ist das eine Anerkennung, dass man sich in Deutschland auch dieser ganzen historischen Umstände bewusst ist heutzutage?
Troebst: Es hat mich so ein bisschen gewundert, dass die polnischen Medien so erstaunt sind über diese Erklärung, denn das deutet darauf hin, dass man polnischerseits vermutet, dass in Deutschland das Jahr 1939 überhaupt keine Rolle spielt – das ist natürlich falsch. Aber unser Fokus bezüglich 1939 richtet sich eben ganz stark auf den 1. September, den Tag des Angriffs, und jetzt weniger auf den Pakt an sich. Die "Gazetta Wyborcza" hat ja diesen Aufruf vielleicht ein bisschen übertrieben, als das wichtigste geschichtspolitische Dokument aus Deutschland seit Langem bezeichnet. Das deutet darauf hin, dass es da offensichtlich in den letzten Jahren eine Dialogblockade gegeben hat. Das ist sicher ein Beleg dafür, dass es sinnvoll ist, dass Europäer sich über ihre Erinnerungen austauschen, aber das wird kaum dazu führen, dass solche ganz stark divergierenden Gedächtnisse wie diejenigen zwischen Balten und Russen, dass man die irgendwie angleichen kann. Diese Möglichkeit sehe ich nicht.
Barenberg: Stefan Troebst, der Leipziger Historiker, über die Erinnerung in Europa an den Hitler-Stalin-Pakt. Vielen Dank für das Gespräch!
Troebst: Vielen Dank!
Stefan Troebst: Guten Morgen nach Köln!
Barenberg: Herr Troebst, in diesen Wochen und Monaten wird ja vor allem an die friedliche Revolution in Deutschland und in Ostmitteleuropa erinnert. Sehen Sie eine Gefahr, dass darüber die Erinnerungen an den Hitler-Stalin-Pakt und den Beginn des Zweiten Weltkrieges mit seinen Folgen verblassen?
Troebst: In Deutschland gab es diese Befürchtung, die, wie wir jetzt in diesen Tagen sehen, sich eigentlich nicht bewahrheitet hat, vor allem das Medieninteresse am 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes ist doch sehr groß. Der genannte Aufruf hat allerdings auch ein Appellelement dahingehend, dass die Erinnerung an diesen Pakt und das, was er ausgelöst hat, in den verschiedenen Teilen Europas doch sehr unterschiedlich ist, und wenn es eines Tages so etwas wie eine europäische Erinnerungskultur geben sollte, dass man dann diese ganz unterschiedlichen Sichtweisen mit einbauen muss.
Barenberg: Sie haben die Erklärung angesprochen, eine Erklärung, eine Art öffentlicher Brief, der in dieser Woche in der Wochenzeitung "Die Zeit" erschienen ist und veröffentlicht wurde. Darin fordern Sie ja, sich gewissenhaft auch eben an das Jahr 1939 zu erinnern, gerade in diesem Jahr an das Jahr 1939, das heißt an den Hitler-Stalin-Pakt und an den Beginn des Krieges mit dem Überfall auf Polen. Wie weit gehen denn die Deutungen und Interpretationen des Paktes im Westen und im Osten Europas noch immer auseinander?
Troebst: Die gehen sehr weit auseinander, wobei die eigentliche Kluft nicht zwischen West und Ost ist, sondern zwischen Ostmitteleuropa, also den baltischen Staaten, Polen auf der einen Seite und der russländischen Föderation auf der anderen. Im Westen oder in der Mitte spielt die Erinnerung an den Pakt eigentlich keine große Rolle. In Deutschland ist das Datum 23. August 39 naheliegenderweise durch den 1. September 39 überlagert, also durch den eigentlichen Angriff auf Polen. Im Westen, in Frankreich und Großbritannien, ist erstaunlicher, spielt der Hitler-Stalin-Pakt in der öffentlichen Erinnerung so gut wie keine Rolle, obwohl er ja Hitler nicht nur freie Hand gegen Polen gegeben hat, sondern dann im Frühjahr 1940 auch gegen Frankreich und schließlich gegen Großbritannien, also zu erwarten wäre, dass man in der Perspektive von Paris und London diese Kausalität mit berücksichtigt, das ist aber nicht der Fall, der eigentliche Konflikt, wie gesagt, zwischen Moskau und den baltischen Republiken plus Polen.
Barenberg: Worin liegt dieser Konflikt im Kern, wo gehen da die Deutungen auseinander?
Troebst: Ganz extrem ist es im Falle der drei baltischen Staaten Island, Lettland, Litauen. Aus russländischer Sicht wird an dieser Perspektive festgehalten, die seien im Zuge des Paktes freiwillig Teile der Sowjetunion geworden, als Teilrepubliken der Sowjetunion, aus baltischer Sicht war das eine völkerrechtliche Annektion, die die kurze Staatlichkeit der baltischen Länder, die erst 1918 unabhängig geworden sind, dann brutal beendet hat und massenhaften Deportationen von Esten, Letten, Litauern nach Sibirien die Tür geöffnet hat. Also die Eliten der baltischen Staaten wurden im Zuge des Paktes geköpft und die Eigenstaatlichkeit ging bis 1991 verloren.
Barenberg: Kann man also sagen, Herr Troebst, dass der Pakt und seine Folgen bis heute die Beziehungen zwischen den baltischen Staaten und auch zwischen Polen zu Russland vergiften und damit mittelbar natürlich auch das Verhältnis der Europäischen Union zu Moskau?
Troebst: Ganz eindeutig. Also aus Sicht der Balten ist der Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen das gravierendste Ereignis des 20. Jahrhunderts, das ist ganz eindeutig. In der polnischen Sicht ist es natürlich ein bisschen ambivalenter, eben durch den deutschen Angriff, durch die deutsche Besatzung, durch den Holocaust. Aber wir können sehen in den vergangenen Jahren, wie sich die polnische Sichtweise verschoben hat und wie immer mehr die Beteiligung Stalins an der Teilung Polens im September 1939, der Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen am 17. September, wie das immer mehr sozusagen auf gleichwertiger Ebene wie der deutsche Angriff und die deutsche Besatzung gewertet wird. Das kann man auch daran erkennen, dass Bilder, Filmszenen, die bei uns so gut wie unbekannt sind, zum Beispiel die große gemeinsame Militärparade von Roter Armee und Wehrmacht in Brest auf der Demarkationslinie des sowjetischen und deutschen Besatzungsgebietes in Polen, das wird sehr häufig gezeigt in diesen Tagen. Sozusagen jeder Pole kennt diese Bilder, wie deutsche und sowjetische Offiziere während der Parade lachend nebeneinander stehen und Zigaretten rauchen. Es gibt sogar Bilder von Dienstbesprechungen zwischen Gestapo und NKWD in Zakopane in den polnischen Karpaten, wo man gemeinsam besprochen hat, wie man die polnische Elite verhaftet und aus dem Verkehr zieht. Das ist natürlich aus polnischer Sicht sehr bitter.
Barenberg: Wir wollen noch mal kurz auf die Erklärung zu sprechen kommen, denn darin ist ja auch festgehalten, dass es einen beispiellosen Eroberungs- und Vernichtungskrieg seitens Deutschland gegeben hat. Diese Erklärung ist von der "Gazetta Wyborcza", der polnischen Zeitung, auf der ersten Seite der Printausgabe gebracht worden. Wie interpretieren Sie sozusagen, ist das eine Anerkennung, dass man sich in Deutschland auch dieser ganzen historischen Umstände bewusst ist heutzutage?
Troebst: Es hat mich so ein bisschen gewundert, dass die polnischen Medien so erstaunt sind über diese Erklärung, denn das deutet darauf hin, dass man polnischerseits vermutet, dass in Deutschland das Jahr 1939 überhaupt keine Rolle spielt – das ist natürlich falsch. Aber unser Fokus bezüglich 1939 richtet sich eben ganz stark auf den 1. September, den Tag des Angriffs, und jetzt weniger auf den Pakt an sich. Die "Gazetta Wyborcza" hat ja diesen Aufruf vielleicht ein bisschen übertrieben, als das wichtigste geschichtspolitische Dokument aus Deutschland seit Langem bezeichnet. Das deutet darauf hin, dass es da offensichtlich in den letzten Jahren eine Dialogblockade gegeben hat. Das ist sicher ein Beleg dafür, dass es sinnvoll ist, dass Europäer sich über ihre Erinnerungen austauschen, aber das wird kaum dazu führen, dass solche ganz stark divergierenden Gedächtnisse wie diejenigen zwischen Balten und Russen, dass man die irgendwie angleichen kann. Diese Möglichkeit sehe ich nicht.
Barenberg: Stefan Troebst, der Leipziger Historiker, über die Erinnerung in Europa an den Hitler-Stalin-Pakt. Vielen Dank für das Gespräch!
Troebst: Vielen Dank!