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Erinnerung an die "sozialistische Umgestaltung"

Wenn Riga im kommenden Jahr Kulturhauptstadt Europas sein wird, dann geht es in den zahlreichen Veranstaltungen dort nicht nur um die Künste. Auch die sowjetische Besetzung Lettlands spielt eine große Rolle. Eine Ausstellung soll die Zeit ausgiebig beleuchten.

Von Joachim Hildebrandt |
    Johann Gottfried Herder hat fünf Jahre als Pastor in der Rigaer Domschule gearbeitet. Detlef Henning vom Nord-Ost-Institut in Hamburg führt durch das Zentrum von Riga.

    "”Sein wesentliches Verdienst für dieses Land ist, dass er irgendwann einmal bei einem Sonnenwendfest lettische Bauern hat singen hören. Diese berühmten Dainas oder lettischen Volkslieder hat er ins Deutsche übersetzt und in einer Volksliedersammlung publiziert.""

    Damit ist erstmals das lettische Volk als singendes Volk entdeckt worden. Dainas sind Vierzeiler in vierfüßigem Trochäus. Die Dainas sind die Grundlage der lettischen Identität und Nationalkultur. Sie erzählen von Geburt und Familie, Entstehung des sittlichen Handelns, Bräuchen und Festen und werden auch im kommenden Jahr zu erleben sein. Wichtiger im Programm für die künftige Kulturhauptstadt Riga ist allerdings die geplante Ausstellung über die sowjetische Okkupation von Juni 1940 bis Juli 1941 und dann wieder ab Ende 1944. Programmdirektorin Aiva Rozenberga:

    "”Wir denken, dass mit der Eröffnung dieser Ausstellung eine große Diskussion entstehen wird. Das ist nach wie vor ein sehr emotionales Thema hier.""

    Die Ausstellung wird Dokumente zeigen über die so genannte "Sozialistische Umgestaltung" im Land: Gleichschaltung des öffentlichen Lebens, Verbot von Parteien und Vereinen. Auch die Deportation von etwa 15.000 sogenannten "Volksfeinden" ins Innere der Sowjetunion wird ein Thema sein. In diesem Zusammenhang beschäftigt die Letten auch das ehemalige KGB-Gefängnis von Riga. Dort sind Gespräche mit ehemaligen Inhaftierten vorgesehen.

    "”Heutzutage gibt es nach wie vor Streitgespräche darüber, welches der beiden Systeme hatte schlimmere Auswirkungen auf die Bevölkerung, das Nazi-Regime oder das stalinistische Regime? Für uns ist es klar: Beide waren auf besonders verhängnisvolle Art tragisch für die Menschen. Nicht nur Letten waren in diese Ereignisse verwickelt, auch Juden, auch Russen.

    In diesem Gebäude befinden sich viele Akten, aber nur etwa die Hälfte der Akten ist in Lettland geblieben. In diese kann Einblick genommen werden. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wohin die anderen Akten verschwunden sind.""

    Der Historiker Ilgvars Misans erzählt von einer Begegnung mit deutschen Studenten. Sie wollten über die Schuldfrage sprechen. Lettland war von 1941 bis 1945 von den Deutschen besetzt. Die Studenten seien schon in der Schule damit konfrontiert worden, dass die Deutschen durch den Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen hätten.

    "Jetzt kommen sie nach Riga und stellen fest, dass diese Hemmungen und Verzweiflungen überhaupt niemanden interessieren. Die größte Auseinandersetzung geht zwischen den Letten und den Russen. Das heißt, es ist nun so, der vorletzte Okkupant ist immer ein bisschen lieber als der letzte Okkupant."

    Auch heute noch leben Russen und Letten nebeneinander her. Ein großer Teil der russischsprachigen Einwohner Lettlands hat keinen lettischen Pass. Selbst nach mehr als zwanzig Jahren in Lettland bekommen sie keinen Pass, wenn sie bestimmte Bedingungen nicht erfüllen. Dazu gehört ein Sprachtest und dass sie sich in der Geschichte und Kultur Lettlands auskennen. Sie haben einen so genannten "Nichtbürgerpass", mit dem sie überallhin reisen dürfen.

    "Es gibt einen Teil der russischen Bevölkerung, dem es gar nichts bedeutet, ob Lettland mehr europäisch wird oder weniger. Sie sind physisch – das ist ein bisschen schizophrenieartig –, sie konsumieren die russischen Nachrichten, sie hören gar nicht die lettischen – also: Der Körper ist hier, aber der Geist ist da. Sie wollen das auch nicht verbinden. Nach Russland kommen sie auch nicht."

    Dennoch: Lettland ist anders. Der Vorsitzende des lettischen Rundfunkrats, Ainars Dimants, möchte etwa zum autoritären Mediensystem Russlands eine Alternative in Lettland bieten. Und zwar in russischer Sprache.

    "Was die Thematik betrifft, da gibt es auch unterschiedliche Tagesordnungen. Zum Beispiel der 9. Mai. Ist das der Tag des Sieges? Oder was ist das? Der Tag des Sieges ist eigentlich der 8. Mai, nicht der 9., wenigstens für die Letten, für die Republik Lettland. Für die Russische Förderation ist der Tag des Sieges der 9. Mai. Und das wird natürlich auch so gesehen, dass die sowjetischen Truppen wieder Lettland und die baltischen Staaten okkupiert haben."

    Die Meinungsverschiedenheiten betreffen auch den Ersten Weltkrieg. Es geht um die Unabhängigkeit Lettlands, die Ministerpräsident Karlis Ulmanis erst nach einem blutigen Bürgerkrieg mit lettischen Bolschewisten, unterstützt durch die Roten Armee, im August 1920 erklären konnte im Friedensvertrag mit der Sowjetunion.

    "Was ich bemerkt habe, dass relativ großes Interesse dem Anfang des Ersten Weltkrieges gewidmet wird. Das ist auch im Programm der Kulturhauptstadt vorgesehen. Das war ja der entscheidende Punkt, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Unabhängigkeit Lettlands erstellt wurde und das russische Imperium in der alten Form zusammenbrach."

    Inzwischen sind auch die lettischen Volkslieder, oder die Dainas, zum Symbol für Unabhängigkeit geworden. Sie haben dazu beigetragen, dass die Singende Revolution 1991 erfolgreich war. Auch im nächsten Jahr werden die Letten singen, damit ihre Unabhängigkeit stärken und gesellschaftliche Veränderungen im Land zunehmend selbst bestimmen.