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Erinnerungen an Susan Sontag
„Intellektuell betreutes Wohnen“

Die US-amerikanische Autorin Sigrid Nunez setzt ihrer einstigen Mentorin Susan Sontag ein Denkmal. In den 70er-Jahren teilten sich beide Frauen eine ungemütliche, heruntergekommene Wohnung voller Bücher. In „Sempre Susan“ erinnert sich Nunez an die Schatten- und Sonnenseiten dieser Zeit.

Von Shirin Sojitrawalla |
Die Autorin Sigrid Nunez und die Schriftstellerin Susan Sontag
In ihrem neuen Buch, das in den USA bereits 2011 erschien, erinnert Sigrid Nunez an ihre ehemalige Mentorin, Mitbewohnerin und Fast-Schwiegermutter Susan Sontag. (Cover Aufbau Verlag, Protrait (c) Sigrid Nunez)
Wer sich nicht nur für Susan Sontags Werk, ihre Essays und ihre Romane interessiert, sondern auch für die Extravaganzen ihres Privatlebens, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Es bietet intime Einsichten in ein außergewöhnliches Frauenleben, oder richtiger: in zwei. Denn alles, was Sigrid Nunez über Susan Sontag erzählt, sagt ebenso viel über sie selbst aus, über ihr Selbstverständnis als Autorin und als Frau. Schon auf der ersten Seite steht Susan Sontag bei ihr im schlechten Licht da. Es ist die Rede von ihrer chronischen Unpünktlichkeit, die sie damit zu rechtfertigen suchte, dass die Wartenden doch bitte so schlau sein könnten, sich etwas zu lesen mitzubringen. Kurz: selbst schuld seien, wenn sie nutzlos warteten. Dass sie einen eher schwierigen Charakter gehabt haben soll, hat sich inzwischen herumgesprochen. Die Erinnerungen von Sigrid Nunez bieten nun den entscheidenden Vorteil, diesen Charakter aus nächster Nähe bestaunen zu dürfen. Sie selbst lebte schließlich einige Jahre am Riverside Drive in New York mit Susan Sontag und deren Sohn David zusammen, mit dem Nunez zeitweise ein Paar bildete.
Intellektuell, unkonventionell, kompromisslos
Kennengelernt hatten sie sich 1976 eher zufällig über einen Gelegenheitsjob. Susan Sontag war damals 43 Jahre alt, fast zwanzig Jahre älter als Nunez, sie hätte also ihre Mutter sein können und spielte sich zuweilen auch so auf. Ihr gemeinsames Leben bezeichnet Nunez als "intellektuell betreutes Wohnen", auf andere mochte es wie eine Studenten-WG wirken:
"Auch ihre Wohnung – strikt antibourgeois, kompromisslos ungemütlich – erinnerte an studentisches Leben. Ihr wesentliches Charakteristikum war die wachsende Zahl der Bücher, aber es waren überwiegend Taschenbücher, und die Regale waren aus billigem Kiefernholz. […] Einen guten halben Quadratmeter der Küche nahm ein alter Gefrierschrank ein, der seit Jahren kaputt war. Auf dem Fernseher lag eine Zange – um den Kanal zu wechseln, da der Knopf dafür abgebrochen war."
Dieser Lifestyle passte durchaus zu ihrer Unangepasstheit. Sich zu sehr um Konventionen zu scheren, gar konventionell zu sein, lag Sontag fern. In diesem Band erscheint sie wie eine Intellektuelle aus dem Klischee-Bilderbuch, eine, die nicht kocht, sondern sich Büchsensuppen aufwärmt und nach der strikten Devise "Jeden Tag ein Buch" lebt. Nunez bezeichnet es im Nachhinein als einen der größten Glücksfälle ihres Lebens, sie kennengelernt zu haben. Dank ihr kann man jetzt Mäuschen spielen, dabei sein, wenn Susan Sontag ihre Launen spazieren führt und sich unmöglich benimmt. Sie hatte den Ruf, ein Monster an Arroganz und Rücksichtslosigkeit zu sein, schreibt Nunez und bestätigt viele der Vorurteile. Von ihr erfährt man interessante Oberflächlichkeiten wie, dass Sontag kein Make-up trug, dafür aber stets einen Männerduft von Dior.
Die geborene Mentorin
Man erfährt Intimes, etwa über ihre Narbe nach der krebsbedingten Brustamputation, aber auch, dass sie eine geborene Mentorin war. In jedem Fall übte und übt sie eine enorme Anziehungskraft aus und diese kommt jetzt auch diesen Erinnerungen zugute. Nunez gelingt es, sie wohlwollend kritisch in den Blick zu nehmen: mal bewundernd, mal abschätzig. Susan Sontag erscheint bei ihr als die wahlweise strahlende oder traurige Intellektuelle, die es nie verwinden konnte, dass sie für ihre Essays so viel mehr verehrt wurde als für ihre Romane:
"Trotz all ihrer Leidenschaften, ihres riesigen Appetits auf Schönheit und Spaß, ihrer berühmten Gier und des unermüdlichen Tempos ihres beneidenswert reichen Lebens war sie höchst unzufrieden, und sie konnte noch so viele Reisen unternehmen, ihre Ruhelosigkeit war dadurch nicht zu verringern. Und trotz ihrer unbestrittenen Erfolge, all der hart erkämpften Ehren und des wohlverdienten Beifalls umgab sie eine Aura des Scheiterns wie Trauerkleidung eine Witwe."
Es sind besondere Momente der Nähe und der Fremdheit, die Nunez Revue passieren lässt. Ungeordnete Erinnerungen, wie man sie beim Tränenbrot nach einer Beerdigung mit Vertrauten teilt. Es ist die Rede von ihren Gesten, Vorlieben, Ticks und Eitelkeiten. Vieles davon liest sich amüsant und hat einen Ehrenplatz im Reich der Anekdoten verdient. Leichthändig entblößen diese Erinnerungen aber auch Sontags sadistische und masochistische Züge.
Sie war so New York
Vieles ist privat, doppelt privat, weil Nunez auch viel von sich selbst offenbart. Zuweilen ist nicht auszumachen, wer hier wen vorführt. In einem schönen Ton, der aus der Ferne Nähe schafft, erzählt Nunez von ihrer einstigen Mitbewohnerin und ihrem Verhältnis zu ihr. Am Ende überwiegt Bewunderung:
"Sie war so New York. Und mit ihrer umtriebigen Art, mit ihrer Energie und ihrem Ehrgeiz, mit ihrer Wir-können-das, Wir-überwinden-jeden-Widerstand-Einstellung, mit ihrem kindlichen Wesen – und ihrem Glauben an ihre Einzigartigkeit und ihre Willenskraft, an Selbsterfindung und die Möglichkeit, neu geboren zu werden, die Möglichkeit unendlicher neuer Chancen und alles zu erreichen – war sie die amerikanischste Person, die ich je gekannt habe."
Womöglich ein vergiftetes Lob, wenn man bedenkt, wie sehr sich Sontag als geistige Europäerin fühlte. Es ist eine zweischneidige Liebeserklärung, die Sigrid Nunez ihrer einstigen Mentorin macht. Gottlob. Alles andere wäre wirklich langweilig und beider Frauen unwürdig. So aber glückt ein Buch, das von viel mehr erzählt als bloß von den Sonnen- und Schattenseiten einer intellektuellen Ikone.
Sigrid Nunez: "Sempre Susan. Erinnerungen an Susan Sontag"
Aus dem Amerikanischen von Anette Grube
Aufbau Verlag, Berlin, 144 Seiten, 18 Euro