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Erinnerungen für die Zukunft

Ohne Gedächtnis wüsste kein Mensch, wie er zu dem wurde, was er ist. Die Erinnerung an seinen ersten Kuss, seine großen Erfolge und auch an seine Krisen; all das trägt zu seinem Selbstbild und Selbstverständnis bei. Doch unser Gedächtnis leistet noch mehr für uns. Es ist nicht nur ein Speicher für unsere Erinnerungen und Vorstellungen von uns selbst.

Von Martin Hubert |
    Gestern bin ich befördert worden. Hab mich so gefreut. Im letzten Jahr hat’s nicht so ausgesehen, da hatten sie mich versetzt.

    Das Leben besteht aus einer langen Kette von Ereignissen. Indem wir uns erinnern, versuchen wir, diese Erlebnisse festzuhalten.

    Der Urlaub letzten Winter war wirklich toll. Vier Jahre vorher gab es im Winterurlaub den schrecklichen Unfall. Und vor acht Jahren habe ich Paul zum ersten Mal im Schnee geküsst.

    
Die Aufgabe des Gedächtnisses besteht darin, den Blick zurück zu werfen. Es soll das Vergangene bewahren. So verstanden Generationen von Forschern das Gedächtnis. Doch das ändert sich jetzt.
    "The new idea that has been emerging on the scene recently is that memory plays an important role and allowing us to think about and imagine the future."

    
Daniel L. Schacter, Psychologe und Gedächtnisforscher, Harvard University.

    "Eine neue Idee verbreitet sich derzeit in der Gemeinde der Wissenschaftler: die Erkenntnis, dass das Gedächtnis uns erst ermöglicht, uns die Zukunft auszumalen."

    Anfänglich war da nur ein Verdacht. Dann gab es Indizien, schließlich folgten Experimente und die ersten Belege für die neue Idee. Am Ende dieser Entwicklung könnte die Einsicht stehen, dass das Gedächtnis heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts völlig neu konzipiert wird. In welcher Weise sind Erinnerung und Zukunftsdenken miteinander verbunden? Das ist die zentrale Frage.

    "Yeah, I think this is a very important question."

    Es geht um eine zentrale Form der Erinnerung: um das so genannte "episodische Gedächtnis". Wie der Name schon sagt, speichert diese Gedächtnisart "Episoden", also ganze Szenen und Abfolgen von Ereignissen.

    Die Party zu meinem 21. Geburtstag war Wahnsinn!

    "Wenn wir uns an ein bestimmtes Ereignis erinnern, können wir uns auch einzelne, ganz konkrete Details davon vorstellen: etwa vom Ort, an dem wir waren. Wir können uns die Gedanken ins Gedächtnis rufen, die wir damals hatten oder unsere Gefühle. Wir sehen die Gesichter der anderen Menschen vor uns, die dabei waren. Und so weiter und so fort."

    
Arnaud D’Argembeau ist ein junger Psychologe an der Universität Lüttich. Eines seiner Spezialgebiete: die Erinnerung. Das episodische Gedächtnis, sagt er, ist bildhaft und plastisch. Es speichert nicht nur einzelne Sachverhalte, sondern auch den räumlichen und zeitlichen Kontext einer Szene. Wer war wo dabei, was geschah in welcher Reihenfolge?

    Conny, Susanne, Gerd und Karlheinz waren auch da, extra für mich angereist. Die knallroten Tücher für die Wände im Schreberhäuschen draußen hatte ich selber zugeschnitten, sah super aus. Und die Idee zuerst mal einfach nur zu tanzen und dann erst später die Geschenke anzunehmen, war gut für die Stimmung.

    Außerdem zeichnet episodische Erinnerungen aus, dass sie bewusst sind. Sie können gezielt abgerufen werden. Ein weiteres Merkmal: Das Erinnerte wird auf das eigene Ich bezogen.

    Ich erinnere mich noch so gut, wie ich mich damals gefühlt habe: Ich war jung, verliebt, voller Ideen und glücklich!

    D‘Argembeau:

    "Diese subjektive Erfahrung, die mit der episodischen Erinnerung verbunden ist, erzeugt das Gefühl, eine Zeitreise zu unternehmen: Das Ich reist im Geist von der Gegenwart ins vergangene Leben zurück. Und das stärkt unser Bewusstsein, ein kontinuierliches Ich zu besitzen. Denn es macht uns glauben, dass es sich damals und heute um dieselbe Person handelt."

    Erinnerungen sind so etwas wie der geistige Kitt einer Persönlichkeit. Nur wer immer wieder in seine Vergangenheit reisen kann, entwickelt eine Identität über die Etappen seines Lebens hinweg. Nur er besitzt ein reiches Bewusstsein seiner eigenen Individualität. Denn er weiß, wie er zu dem wurde, der er heute ist. Arnaud d‘Argembeau:

    "Diese Repräsentationen des vergangenen Lebens müssen plausibel sein und mit dem eigenen Selbstkonzept zusammenpassen, also mit den Vorstellungen darüber, wer wir sind."

    Der Geist eines Individuums reist aber nicht nur ins vergangene Leben. Jeder Mensch blickt auch in die Zukunft: Er schmiedet Pläne, denkt Alternativen durch, fantasiert und malt sich seine Wünsche aus. Und auch dabei arbeitet er an seiner Identität. Warum haben die Gedächtnisforscher diesen Zukunftsaspekt über mehrere Generationen hinweg vernachlässigt? Ein Grund: Am Beginn des Lebens scheint die erste Aufgabe des Gedächtnisses ausschließlich darin zu bestehen, vergangene Erfahrungen zu speichern.

    Johannes, gerade mal ein paar Wochen alt, liegt wohlig eingepackt in seiner Wiege. Er strampelt vergnügt vor sich hin und guckt neugierig in die Welt. Mama beugt sich über ihn und lächelt. Sie hat ein Spielzeug in ihrer Hand: die Rassel, die so ein kratzendes Geräusch macht, wenn man sie schüttelt. Am Tag zuvor hatte sich Johannes fürchterlich erschreckt, als er die Rassel zum ersten Mal hörte. Jetzt guckt er einen Augenblick lang überrascht. Dann beginnt er zu schreien und wild zu strampeln. Mama gibt auf. Der vergangene Schreck sitzt ihrem Baby noch zu sehr in den Gliedern.

    Lange bevor der Mensch bewusst über die Zukunft nachdenkt, kann er sich bereits unterschwellig an Vergangenes erinnern. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum die Gedächtnisforscher sich vor allem für die Vergangenheit interessierten und die Zukunft ignorierten. Ein zweiter Grund war noch wichtiger.

    "Es ist einfach schwer zu erforschen. Es ist viel komplizierter, jemanden zu untersuchen, der sich irgendetwas in der Zukunft vorstellt, als jemanden, der sich an etwas erinnert, das real stattgefunden hat und überprüft werden kann. Aber wir sind gerade dabei, bessere Methoden zu entwickeln, um diesem spannenden Phänomen nachzugehen."

    Daniel L. Schacter, Psychologe an der Harvard Universität in Boston, USA. Er gehört wie Arnaud D’Argembeau zu den Forschern, die am neuen Bild vom episodischen Gedächtnis arbeiten. Schacter ist vor allem durch Studien über die Fehleranfälligkeit des Gedächtnisses bekannt geworden. Er demonstrierte, dass wir vergangene Ereignisse häufig beschönigen und verfälschen, wenn wir uns an sie erinnern. Wir kopieren nicht nur bestimmte Inhalte, wir konstruieren sie auch. Vor Gericht etwa zeigt sich immer wieder, dass Zeugen ohne Absicht Details erfinden, wenn sie eine vergangene Szene schildern. Daniel Schacter interessierte sich für die Eigenschaften des Gedächtnisses, die dem zugrunde liegen. Aber irgendwie war er damit unzufrieden.

    "Ich hatte diesen Gedanken immer im Hinterkopf, dass das Gedächtnis auch für die Zukunft relevant sein könnte. Und zwar deshalb, weil ich an einer Studie in den frühen 80er Jahren beteiligt war. Endel Tulving hat damals einen Patienten untersucht, der unter einer schweren Gedächtnisstörung litt."

    Der Kanadier Endel Tulving gehört zu den wichtigsten Ideengebern der jüngsten Gedächtnisforschung. Er hat den Begriff des episodischen Gedächtnisses geprägt. Der Patient, den er in den achtziger Jahren untersuchte, ist unter den Initialen KC in die Gedächtnisforschung eingegangen. Das Erstaunliche war: KC konnte sich nicht nur an keine vergangenen Ereignisse mehr erinnern - er konnte sich auch kein Bild mehr von der Zukunft machen. Schacter:

    "Das war für mich damals sehr eindrucksvoll. Und es brachte mir den Gedanken zumindest nahe, dass sich das Gedächtnis auch auf die Zukunft erstrecken könnte. Aber keiner, der auf diesem Gebiet arbeitete, hat sich danach näher darum gekümmert – Tulving und mich selbst eingeschlossen. Ich kam dann erst in den Jahren 2005 und 2006 darauf zurück. Da hörte ich von einigen psychologischen Studien, die sich mit diesem Thema beschäftigten und die Frage stellten: Könnte die Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen, nicht mit bestimmten konstruktiven Eigenschaften der Erinnerung in Verbindung stehen?"

    Damit berührten sich die Forschungswege von Daniel Schacter und Arnaud D’Argembeau Denn D’Argembeau hatte damals als einer der ersten eine psychologische Studie über den Zukunftsaspekt der Erinnerung vorgelegt. Im Jahr 2004 fragte er: Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Erinnerungen an Vergangenes und Gedanken an die Zukunft? Seine Versuchspersonen hatten mehrere Aufgaben zu bewältigen. D’Argembeaus Team präsentierte ihnen bestimmte Stichwörter, zum Beispiel " Kuchen". Die Versuchspersonen sollten sich dazu ein passendes Ereignis vorstellen. Mal etwas, was tatsächlich passiert war, mal etwas, das künftig geschehen könnte.

    An meinem 21. Geburtstag bekam ich von meinen Freunden einen riesigen Kuchen geschenkt, der mit rotem Zuckerguss überzogen war. Auf ihm steckten blaue Kerzen, die ich gar nicht alle auf einem ausblasen konnte. Die anderen mussten mir helfen, wir haben viel dabei gelacht. Nächstes Jahr werde ich mal selbst backen und meine Freunde einladen. Bei Kuchen und Eierlikör werden wir dann die alten Zeiten wieder aufleben lassen, Dias anschauen und Geschichten erzählen.

    Arnaud D’Argembeau veränderte in seinem Experiment zunächst die zeitliche Distanz der Geschichten. Manchmal sollten sich die Versuchspersonen Ereignisse vorstellen, die näher an der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen. Manchmal sollten sie in weiter Ferne liegen. Das Ergebnis: Je weiter entfernt die vorgestellten Ereignisse lagen, desto weniger Details wiesen sie auf – und zwar gleichermaßen bei vergangenen wie bei zukünftigen Ereignissen. Genau so interessant war das Ergebnis eines weiteren Versuchsvorgangs. Hier sollten sich die Versuchspersonen mal positive und mal negative Ereignisse in Vergangenheit und Zukunft vorstellen. D‘Argembeau:

    "Dabei gaben die Versuchspersonen an, dass sie sich bildhaftere Szenen vorstellen konnten, wenn diese mit positiven Gefühlen verbunden waren. Und auch das galt sowohl für vergangene wie für künftige Ereignisse. Unsere Experimente zeigten also: Die zeitliche Distanz und die emotionale Bewertung von Ereignissen beeinflussen Erinnerungen an Vergangenes und Vorstellungen von der Zukunft in ganz ähnlicher Weise. Und das spricht dafür, dass Erinnerungen und Zukunftsdenken auf vergleichbaren Mechanismen beruhen."

    Johannes läuft mit schnellen kleinen Schritten durch das große Haus. Er ist aufgekratzt. Denn er war auf seiner ersten Geburtstagsparty, bei Anton, der drei Jahre alt geworden ist, genau so alt wie er selbst. Gerade hat Antons Mutter Johannes wieder zu Hause abgeliefert, jetzt muss er sofort zu Papa ins Wohnzimmer. Er steht in der Tür, lächelt und ruft "Geburtstag schön".

    Um das dritte Lebensjahr herum, beginnt der "memory-talk", wie die Psychologen sagen. Die Kinder sprechen mit ihren Eltern über ihre Erinnerungen. Dabei lernen sie, wie man seine Erinnerungen anderen mitteilt, sie zeitlich gliedert und bewertet. Die Kinder fangen aber auch an, mit ihren Eltern über ihre Wünsche und über erwartete Ereignisse zu sprechen. Studien zeigen: Je besser die Kinder lernen, solche zukünftigen Ereignisse zu beschreiben, desto genauer werden sie sich später an sie erinnern.

    "Geburtstag schön? Was war denn so schön", fragt der Vater. "Kuchen war da", sagt Johannes, "und viel gespielt". "Habt ihr erst Kuchen gegessen oder erst Spiele gemacht? Und was denn für Spiele?" – "Erst Kuchen, dann Ball gespielt, dann mit Murmeln." "Und", fragt der Vater, "möchtest du bald wieder mal hin zu Jürgen? Und was möchtest du dann am liebsten machen?"

    Erinnerung und Zukunftsdenken hängen auf irgendeine Art und Weise miteinander zusammen. Das steht fest. Die Frage ist nur: wie genau? Daniel L. Schacter von der Harvard University meinte im Jahr 2005, die Zeit sei reif, um diese Frage anzugehen. Und zwar durch den Blick ins Gehirn. Der Japaner Juri Okuda hatte dazu bereits eine erste Studie vorgelegt. Sein Team hatte Versuchspersonen aufgefordert, an vergangene Erlebnisse zu denken oder sich zukünftige Ereignisse vorzustellen. Dabei beobachtete er mit Hilfe eines Magnetresonanz-tomographen, was im Gehirn der Probanden geschah.

    Tatsächlich fanden sie Hirnareale, die gleichermaßen aktiv waren, wenn die Versuchspersonen in die Vergangenheit oder in die Zukunft reisten. Daniel Schacter überprüfte die Ergebnisse dieser Studie und erweiterte dabei den Versuchsaufbau.

    "Eine der zentralen Ideen unserer Studie war, zwischen einer so genannten Konstruktionsphase und einer Ausarbeitungsphase zu unterscheiden, wenn wir uns erinnern oder die Zukunft imaginieren. Stellen Sie sich vor, Sie liegen im Hirnscanner und ich gebe Ihnen das Schlüsselwort ,Tisch‘. Sie sollen sich dann zum Beispiel eine Geschichte aus der letzten Woche in Erinnerung rufen, in der ein Tisch vorkommt. Typischerweise brauchen Versuchspersonen dann erst einmal ein paar Sekunden, um darüber nachzudenken. In unserem Experiment sollten sie auf einen Knopf drücken, wenn ihnen etwas Passendes eingefallen war. Und die Zeit bis zu diesem Knopfdruck nennen wir die Konstruktionsphase des Ereignisses."

    In der Konstruktionsphase wird das Material gesammelt, an das man sich erinnern oder das man imaginieren will.

    Tisch, Kaffee, ein Kaffeefleck, die Freundin Julia.

    Danach folgt die "Ausarbeitungsphase": jetzt beginnt man, das Ereignis detailliert auszufüllen.

    Der Tisch steht in der Küche, eine rote Tischdecke liegt darüber, schneeweiße Tassen stehen darauf, es riecht nach Kaffee. Ich und meine beste Freundin Julia frühstücken gemeinsam und Julia wirft ihre Kaffeetasse um.

    Daniel Schacters Team analysierte, was im Gehirn der Versuchspersonen während der Konstruktions- und während der Ausarbeitungsphase geschieht. Das Ergebnis: in beiden Phasen sind einige Hirnregionen gleichermaßen aktiv, wenn es um vergangene oder zukünftige Ereignisse geht. Damit wurden die Ergebnisse der japanischen Studie zunächst bestätigt. Es existiert offenbar ein gemeinsames Hirnnetzwerk für Erinnerung und Zukunftsdenken. Es umfasst Gebiete im Stirnhirn und im Parietalhirn, also auf der oberen Seite der Hirnrinde. In ihrem Zentrum steht ein Hirnareal, das wie ein Seepferdchen aussieht: der so genannte Hippocampus. Die Forscher brachten ihn schon seit langem mit der Erinnerung in Verbindung. Jetzt war klar, dass er auch mit Zukunftsgedanken zu tun hat. Ohne den Hippocampus kann man geistig weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft reisen. Einige Ergebnisse des Experiments zeigten aber, dass das noch nicht die ganze Wahrheit war. Daniel Schacter:

    "Interessanterweise entdeckten wir auch ein paar Hirnregionen, die zu Beginn der Konstruktionsperiode stärker aktiv war. Und zwar dann, wenn es um zukünftige und nicht um vergangene Ereignisse ging."

    Offenbar, folgerte Schacter, gibt es Unterschiede im entdeckten Hirnnetzwerk. Manche Hirnregionen scheinen vor allem auf die Zukunft spezialisiert zu sein. In einer weiteren Studie ging er dieser Hypothese nach. Sein Team untersuchte, wie sich die Aktivität des Hippocampus verändert, wenn die Versuchspersonen mehr oder weniger detaillierte Vorstellungen erzeugen.

    "Das interessante Ergebnis: Die Menge der Details, mit denen die Versuchspersonen ihre Szenen ausfüllten, hing von der Aktivität einer hinteren Region des Hippocampus ab - und zwar sowohl für Erinnerungen als auch für Zukunftsvorstellungen! Die vordere Region des Hippocampus war dagegen vor allem dann aktiv, wenn sich die Versuchspersonen neue Szenen in der Zukunft vorstellten: Je detaillierter sie die Zukunft ausmalten, desto stärker war dieser vordere Hippocampus aktiv, nicht jedoch bei Erinnerungen an die Vergangenheit."

    
Daniel Schacter hat daher folgendes Modell entwickelt:

    "Der hintere Teil des Hippocampus befähigt uns, Details aus dem Gedächtnissystem zusammenzutragen. Er reintegriert meiner Meinung nach Details. Diese lassen sich sowohl für Erinnerungen nutzen als auch dafür, ein Zukunftsereignis zu konstruieren. Der vordere Teil des Hippocampus dagegen rekombiniert diese Details. Das heißt er ist speziell dafür zuständig, ein Zukunftsbild zu imaginieren, also aus den Details etwas wirklich Neues zu erschaffen."

    Johannes kann dem Lehrer vorne nicht mehr zuhören. Mit sechzehn gibt es einfach interessantere Sachen als chemische Formeln. Er lümmelt sich bequem auf die Schulbank, legt den Kopf auf die verschränkten Arme und lässt die Gedanken schweifen. Die Fete vor zehn Tagen war echt geil. Das verlorene Fußballspiel vom Wochenende tut jetzt noch weh. Aber gestern, der Spaziergang mit Julia - what a feeling. Noch mal Sekunde für Sekunde durchgehen. Nächsten Monat, zur eigenen Fete, werde ich sie natürlich auf jeden Fall einladen. Zum nächsten Fußballspiel auch, dann müssen aber die Doppelpässe klappen. Einmal, zweimal, und dann ein satter Schuss in den Winkel. Und wenn sie nicht zum Fußball kommt? Dann Spazieren gehen, gleich morgen, was könnt ich ihr denn erzählen?

    Wie kann man die Entdeckung interpretieren, dass das episodische Gedächtnis Zeitreisen in die Vergangenheit und in die Zukunft erlaubt? Einige Forscher, zu denen auch Daniel Schacter gehört, meinen: Das ist nur möglich, wenn man das episodische Gedächtnis in einen größeren Zusammenhang stellt. Es sei nur ein Bestandteil eines größeren Systems, das die Selbstprojektion ermöglicht. Selbstprojektion spielt zum Beispiel auch eine Rolle, wenn wir uns räumlich orientieren: Wir projizieren uns dann in Orte und Wege hinein.

    Ich will von hier zum Bahnhof, also gehe ich erst an den großen Platz, dann rechts, dann sehe ich links vor mir den Turm, rechts die Unterführung. Die muss ich durch und dahinter dann durch die kleine Gasse.

    Eine anderer Fall von Selbstprojektion: Man versetzt sich in andere Personen hinein.

    Warum schaut der mich so komisch an? Ist der aggressiv oder neugierig? Was geht denn in mir vor, wenn ich so gucke?

    Selbstprojektion kann aber auch heißen: Man verliert sich in Tagträumen und reist in seinem eigenen inneren Kosmos hin und her.

    War ja immer schön, als Kind abends durch den Wald hinter dem Haus zu streifen. Hab den Geruch heute noch in der Nase. Müsste mal wieder einen richtigen Wanderurlaub machen. Den Wald riechen, gute Luft. Damals der Urlaub im Spessart mit Julia, da hat’s ja eigentlich angefangen mit unserer Freundschaft. Könnten ja mal wieder dahin.

    Ergebnisse der Hirnforschung bestärken die These, dass ein generelles System für Selbstprojektionen existiert. Mehrere Hirnareale sind gemeinsam aktiv, wenn wir uns erinnern, in die Zukunft denken, uns räumlich orientieren, in andere Menschen hineindenken oder tagträumen. Die Forscher, die sich mit diesen Hirnarealen beschäftigen, bezeichnen sie als das "Kernnetzwerk". Neuere Indizien dafür, dass Gedächtnis und Selbstprojektion eng zusammengehören, lieferte kürzlich eine Studie von Arnaud D’Argembeau aus Lüttich. Er untersuchte, wie sich schizophrene Menschen erinnern und die Zukunft imaginieren können.

    "Die schizophrenen Patienten konnten sich nur schlecht an vergangene Ereignisse erinnern. Das war schon aus früheren Studien bekannt. Unser Experiment zeigte jedoch auch, dass sie Schwierigkeiten haben, sich künftige Ereignisse auszumalen. Das stützt also erneut die Idee, dass es eine innere Verbindung zwischen Erinnerung und Zukunftsimaginationen gibt. Unsere Resultate unterstreichen aber auch die Bedeutung des Selbstgefühls. Denn schizophrene Menschen haben ja häufig das Gefühl, keine einheitliche Identität mehr zu besitzen. Und das scheint direkt mit ihrem Problem verknüpft zu sein, sich erinnern und Künftiges vorstellen zu können. Diese Hypothese sollte in Zukunft weiter untersucht zu werden."

    Je einheitlicher ein Selbst ausgebildet ist, desto leichter kann sich ein Mensch in die Vergangenheit und in die Zukunft hineinprojizieren – und umgekehrt. Allerdings ist unklar, ob das nur für schizophrene Menschen oder auch ganz allgemein gilt. Das ist allerdings nicht die einzige Frage, der sich die Forscher in Zukunft widmen müssen. Daniel Schacter zum Beispiel sieht noch ein weiteres Problem:


    "Unsere Entdeckungen regen dazu an, die Grenze zwischen Erinnerung und Fantasie nicht allzu eng zu ziehen. Es ist wirklich hochinteressant, dass wir die gleichen Hirnstrukturen nutzen, um reale Erinnerungen und imaginäre Szenen aufzubauen. Aber das wirft auch ein schwerwiegendes Problem auf: Wie halten wir Erinnerung und Imagination auseinander? Wir Psychologen wissen natürlich schon seit langem, dass sich Erinnerung und Fantasie bis zu einem gewissen Grad vermischen. Wir beeinflussen unsere Erinnerungen immer schon gemäß unseren unbewussten Wünschen und Bedürfnissen. Auf der anderen Seite muss es natürlich auch einen Mechanismus geben, der Erinnerung und Einbildung voneinander unterscheidet. Denn normalerweise bleiben wir ja in der Realität verankert und verlieren uns nicht in einer reinen Fantasiewelt."

    
Johannes sitzt mit seiner Frau, seinem besten Freund und dessen Freundin bei einem Glas Wein in seiner Wohnung zusammen. Weißt du noch, sagt er zu seinem Freund, das Fußballspiel, bei dem ich den Fallrückzieher ins Tor gezirkelt habe?! Du hast von links geflankt, ich bin hoch und der Ball ist genau in den Winkel gezischt. Danach waren wir Meister. Damals waren wir unschlagbar. Dann runzelt er die Stirn und fragt: War doch so, oder? Dein Fallrückzieher war super, antwortet sein Freund, aber das war im Pokalspiel nach der Meisterschaft und das haben wir eins zu drei verloren. Ach ja, stimmt, murmelt Johannes. Seine Frau lacht und sagt: Lasst uns lieber mal überlegen, wohin wir nächsten Sommer in den Urlaub fahren wollen.

    Es scheint inzwischen genügend Belege dafür zu geben, dass das Gedächtnissystem gleichermaßen für Erinnerungen wie für Zukunftsgedanken verantwortlich ist. Die große Herausforderung für die Forscher besteht nun darin, ein Gesamtkonzept zu entwickeln: wie eng stehen Erinnerung, Imagination, Selbstprojektion und die Identität des Selbst miteinander in Beziehung? Sind sie direkt miteinander verbunden oder muss man da differenzieren? Vor allem aus dem Londoner Wellcome Trust Centre for Neuroimaging kommen dazu neue Anregungen: Die Neuropsychologin Eleanor Maguire setzt der bisherigen Deutung der Forschungsergebnisse ihre eigene entgegen:

    "Wir glauben zwar auch, dass ein einheitliches Selbst in der Zeit sehr wichtig für das episodische Gedächtnis ist. Es wäre Unfug, das zu leugnen. Aber wir glauben nicht, dass die Hirnareale, die Daniel Schacter und andere als Kernnetzwerk für Selbstprojektion deuten, dafür verantwortlich sind. Unsere These lautet: Das Kernnetzwerk allein ist noch nicht fähig, unser Selbst in die Vergangenheit und in die Zukunft hineinzuprojizieren. Es macht etwas viel Einfacheres: Es ermöglicht uns überhaupt, Szenen zu erzeugen."

    Eleanor Maguires Team hat diese These in Jahr 2007 in verschiedenen Experimenten untersucht. Dabei regten die Forscher ihre Versuchspersonen zum Beispiel an, nicht selbstbezogen in die Zukunft zu schauen. Sie sollten sich etwa auf das Stichwort "Strand" ein Ereignis ausmalen, an dem sie nicht beteiligt sind und es beschreiben.

    Ein großer Strand in einem fernen Land. Das Meer ist blau, die Sonne brennt. Im Wasser spielen Kinder. Plötzlich ein lautes Geschrei. Die Kinder zeigen aufgeregt auf eine schwarze Flosse im Wasser. Eltern rufen, die Kinder rennen aus dem Wasser. Die Flosse hebt sich plötzlich hoch aus dem Wasser, dann ist ein Bein zu sehen, das in einer schwarzen Gummihose steckt. Es ist kein Hai, sondern nur ein Taucher.

    Mit Hilfe von Sprachanalysen überprüften die Forscher, ob die Versuchspersonen wirklich nicht selbst in ihrer Fantasiegeschichte vorkamen. Für ein selbstbezogenes Zukunftsdenken sind Formeln wie "ich plane", "meine Schwester ist auch dabei" oder "dann werde ich" typisch. Fehlen sie, dann haben die Versuchspersonen einfach nur eine fiktive Szene ohne direkten Bezug auf sich selbst konstruiert. Das Resultat des Versuchs: Bei solchen fiktiven Szenen sind die gleichen Hirnareale wie beim selbstbezogenen Zukunftsdenken aktiv. Eleanor Maguire nahm das als Beleg für ihre These: das Kernnetzwerk im Gehirn hat nichts mit Selbstprojektion zu tun, sondern mit der Fähigkeit, sich überhaupt eine detaillierte Szene auszumalen. Ein anderes Experiment sollte das am Fall von fünf Patienten bestätigen, deren Hippocampus geschädigt ist. Als auch diese Patienten sich fiktive Ereignisse ausdenken sollten, konnten sie zwar einige Bausteine dafür aufzählen, daraus aber keine plastische Szene bilden.

    Ein Strand, blauer Himmel. Es gibt eine Haiflosse im Wasser. Ein Taucher schwimmt herum. Keine Gefahr.

    Maguire:

    "Wir schlossen daraus, dass der Hippocampus offenbar eine Funktion besitzt, die zunächst nicht direkt etwas mit Erinnerung zu tun haben muss. Er bindet bedeutungsvolle Elemente zusammen und formt daraus eine plastische Szene, in der detailliert ein Ort und ein zeitliches Geschehen beschrieben wird. Wenn der Hippocampus nicht mehr fähig ist, solche Szenen zu konstruieren, kann das dann natürlich auch zu Gedächtnisstörungen führen: man erinnert sich zwar an einige Elemente aus der Vergangenheit, kann daraus aber keine sinnvollen Szenen mehr bilden."

    Episodische Erinnerungen, so Eleanor Maguire, sind nur möglich, wenn man eine Szene konstruieren kann. Aber die Hirnareale, die aktiv sind, wenn wir ein Szene erzeugen, haben noch nichts mit dem Selbst zu tun. Wie aber entsteht dann der Selbstbezug des episodischen Gedächtnisses? Die Antwort von Eleanor Maguire auf diese Frage hat etwas Verblüffendes. Denn sie fand sie, als sie dem anderen wichtigen Problem der aktuellen Gedächtnisforschung nachging: Wie unterscheiden wir, ob wir uns an etwas Reales erinnern oder ob wir fantasieren? Ihr Team analysierte detailliert die Hirnaktivität von Versuchspersonen, wenn sie sich real erinnerten und wenn sie eine Geschichte erfanden. Das Ergebnis: einige Hirnregionen wurden nur dann aktiv, wenn es sich um reale Ereignisse handelte. Diese Regionen waren aber auch schon seit längerem dafür bekannt, dass sie einen Selbstzug und Vertrautheitsgefühle herstellen. Zum Beispiel der hintere cinguläre Cortex oder der so genannte Prekuneus. Eleanor Maguire meint daher: das sind die Hirnregionen, die wirklich mit Selbstprojektion zu tun haben.

    "Es gibt also unserer Auffassung nach zwei Subsysteme: Es gibt das Kernnetzwerk, das Szenen erzeugt. Das ist gleichermaßen notwendig für die Orientierung im Raum oder für die Grundlagen der Erinnerung oder für fiktive Zukunftsgedanken. Aber für das wirkliche episodische Gedächtnis, das ein Gefühl der Identität des Selbst in der Zeit beinhaltet, benötigt man dann noch zusätzliche Hirnregionen. Es gibt also zwei Netzwerke, die gelegentlich miteinander zusammen arbeiten."

    
Wir sind Wesen, die in die eigene Vergangenheit blicken und sich eine persönliche Zukunft ausmalen. Für beides brauchen wir das Gedächtnis. Entweder, weil das Gedächtnis zu einem übergreifenden Hirnnetzwerk gehört, das Selbstprojektionen ermöglicht: Oder wir können deshalb in beide Richtungen durch die Zeit reisen, weil das entsprechende Hirnsystem für die Konstruktion detailreicher Szenen sorgt. Auf jeden Fall haben die neuen Forschungen gezeigt, dass Gedächtnis und Fantasie enger miteinander verbunden sind, als bisher gedacht. Jetzt ist die Fantasie der Forscher gefragt, um aus diesen Ideen der Gegenwart ein Konzept der Erinnerung zu formen, das in die Zukunft weist.