Es gibt wohl kaum einen Schriftsteller, der wie Warlam Schalamow seine literarischen Postulate so mit dem eigenen Leben beglaubigt - und sie gleichzeitig so aktiv unterlaufen hätte. In seinem Essay "Über Prosa" aus dem Jahr 1965, seiner Poetik einer Literatur über die stalinschen Straflager, schrieb der russische Schriftsteller apodiktisch, kein Mensch solle das Lager je kennenlernen, ja nicht einmal etwas darüber erfahren. Er selbst hatte es kennengelernt - insgesamt 17 Jahre leistete er Zwangsarbeit, 14 davon in den Arbeitslagern an der Kolyma, einer menschenfeindlichen Region im äußersten Nordosten Sibiriens.
Als Schalamow 1956, fast 20 Jahre nach seiner Verhaftung, nach Moskau zurückkehren konnte, teilte er den Menschen sehr wohl mit, was er im Lager erlebt hatte: auf den 2000 Seiten seiner "Erzählungen aus Kolyma", in gebändigter, geradezu gemeißelter Prosa, die den Schrecken des Gulags für immer ins Gedächtnis des Lesers brennt.
Bis allerdings die Leser in der Sowjetunion von Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" erfahren durften, musste das totalitäre System selbst kurz vor der Auflösung stehen: Erst Ende der 1980er-Jahre erschienen vereinzelte Texte in sowjetischen Zeitschriften. Bis zur ersten Werkausgabe in Russland vergingen weitere zehn Jahre. Da war der Autor bereits 16 Jahre tot.
Kürze, Genauigkeit und "Abtrennung von allem, was Literatur genannt werden könnte" - so habe man über die Lager zu schreiben, hatte Schalamow gefordert. Nicht dokumentarisch, nicht publizistisch, nicht in Form von Erinnerungen werde man dieser menschlichen Ausnahmeerfahrung gerecht. Auch hier bietet er ein Paradox - indem er mit einem anti-literarischen Programm höchste literarische Kunst schuf.
Seine "Erzählungen aus Kolyma" sind ein Archiv des stalinschen Terrors und der Leiden der Opfer, eine Enzyklopädie der sowjetischen Lagerwelt jenseits des Polarkreises, am "Pol der Grausamkeit", wie Schalamow schrieb. "Ist die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?", fragte der Autor in seinem Essay "Über Prosa". Seine Erzählungen bekräftigen die rhetorische Frage - denn bei aller dokumentarischen Wahrheit weisen sie über die sowjetischen Zwangsarbeitslager hinaus: Sie zeigen das Lager als Versuchsstation, Sinnbild und Muster totalitärer Systeme überhaupt.
Inzwischen liegen Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" sorgfältig ediert und übersetzt in deutscher Sprache vor. Der nun erschienene fünfte Band enthält ausschließlich autobiografisches Material - eine dankenswerte Entscheidung der Herausgeberin Franziska Thun-Hohenstein, denn diese Selbstzeugnisse füllen eine Leerstelle: Bislang wussten wir nichts über den Autor Warlam Schalamow vor der Verhaftung 1937, vor dem großen Bruch in seinem Leben. In seinen nun in deutscher Übersetzung zugänglichen Erinnerungen kehrt der Autor in seine russische Provinzkindheit, in die nordrussische Stadt Wologda zurück, in der er 1907 geboren wurde.
"Es gibt drei Wologdas: die historische Stadt, die Provinzhauptstadt und die Stadt der Verbannung. Mein Wologda ist das vierte. 'Das vierte Wologda' schreibe ich in meinem vierundsechzigsten Lebensjahr [...] Ich versuche, in diesem Buch, drei Zeiten zu vereinen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - im Namen einer vierten Zeit, der der Kunst."
In diesem "vierten Wologda" tritt uns der still rebellierende jüngste Sohn eines starken, charismatischen Vaters entgegen. Über weite Strecken wohnt der Leser einer atemberaubenden Familienaufstellung bei, in deren Mitte unbestritten der Vater herrscht - ein orthodoxer Geistlicher, der zum Reformflügel seiner Kirche gehört und sich für den gesellschaftlichen Fortschritt einsetzt. Ein Nüchternheitsfanatiker, nach dem sich das ganze Familienleben zu richten hat, ein Tyrann, der seine schwerkranke Frau mit seinen Marotten peinigt. Warlam, der Jüngste, enttäuscht die elterliche Hoffnung, er möge sich für das Priesteramt oder wenigstens den Arztberuf entscheiden. Auch sonst ist der schmale Junge aus der Art geschlagen: Kein leidenschaftlicher Jäger und Fischer wie der Vater, der den Abscheu des Jungen gegen das "Handwerk des Tötens" mit kalter Verachtung quittiert, kein Supersportler wie der Bruder, der Liebling und der Stolz seiner Eltern.
Dafür entdeckt der kleine Warlam die Bücher - mit drei Jahren kann der Hochbegabte lesen und schreiben. Die schöne Literatur schenkt ihm eine eigene Welt - und tröstet ihn über vieles hinweg. Er besitzt die Gabe, einen Absatz mit einem Blick nicht nur zu erfassen, sondern auch im Gedächtnis zu speichern. Der Junge liest sich durch die Bibliotheken der Stadt Wologda, wo viele der unter dem Zaren hierher verbannte Revolutionäre und politische Gegner der Autokratie ihre Bücher hinterließen und eine besondere Diskussionskultur etablierten. Man debattierte, so Schalamow, über nichts weniger als "die Zukunft Russlands und den Sinn des Lebens":
"Aber ich schreibe weder eine Geschichte der Revolution noch eine Geschichte meiner Familie. Ich schreibe die Geschichte meiner Seele, nicht mehr."
Einer Seele, die ihre Kraft im Kampf mit dem übermächtigen Vater stählt. In puncto Willensstärke und Kompromisslosigkeit muss Warlam Schalamow seinem Vater übrigens ähnlicher gewesen sein, als es ihm selbst bewusst und lieb gewesen sein kann. Im Alter von sechs Jahren hört er auf, an den väterlichen Gott zu glauben - und ist im Rückblick stolz darauf, dass er sich selbst in höchster Not nie an ihn gewandt hat. Mit zehn beginnt er zu rauchen, weil sein Vater ein erbitterter Gegner des Tabakgenusses ist. Das Rauchen wird er sein Leben lang nicht aufgeben.
Auch in seinen Kindheitserinnerungen unterläuft der Autor seine Ankündigung - er schreibt durchaus die Geschichte seiner Familie in den Revolutionsjahren und danach. Er schildert die vollkommene Zerrüttung der Lebensgrundlage seiner Eltern, ihre Not, ihre Hilflosigkeit angesichts der revolutionär entfesselten Gewalt. Dass er mit dem Vater ins Gericht geht, hindert ihn nicht daran, Mitleid mit ihm zu empfinden.
Warlam Schalamows Erinnerungen an die Jugendjahre im Moskau der 20er und 30er-Jahre fügen dem Bild der Epoche und der Person weitere Facetten hinzu - der junge Schriftsteller und Journalist Schalamow tummelt sich in Redaktionen, auf Lesungen und Debatten. Literarische Heroen wie Wladimir Majakowski und seine Umgebung enttäuschen ihn durch läppische Reden und Unernst, als er sie persönlich kennenlernt. Gleichzeitig erlebt er den gewaltigen revolutionären Schwung, die Hoffnung, selbst zu einer besseren Zukunft beitragen zu können.
"Es ist ganz natürlich, dass an der Spitze dieser großen Umgestaltung die Jugend lief. Eben die Jugend war zum ersten Mal aufgerufen, zu urteilen und Geschichte zu machen. Die persönliche Erfahrung ersetzten uns die Bücher - die Welterfahrung der ganzen Menschheit. [...] Wir verfügten über nicht weniger Wissen als irgendein Dutzend Befreiungsbewegungen. [...]Was Lenin [...] sagte, war alles richtig, doch für Lenin war alles eher eine Frage der Macht, [...] für uns aber war das die Luft, die wir atmeten, voller Glauben an das Neue und Ablehnung des Alten."
Im Rückblick und nach fast zwei Jahrzehnten in Stalins Lagern bezeichnet sich Warlam Schalamow als "Teilnehmer an einer riesigen verlorenen Schlacht um eine wirkliche Erneuerung des Lebens". Auch mitten im brodelnden Leben der 20er-Jahre empfindet der junge Mann den permanenten Widerstreit zwischen dem Schreiben von Gedichten und den Anforderungen des wirklichen Lebens. Während der Lagerjahre besteht der Widerstreit fort - und Schalamow entscheidet sich immer wieder aufs Neue für das Leben, das Überleben. Nur deshalb konnte er in den 50er- und 60er-Jahren die "Erzählungen aus Kolyma" schreiben, sein Vermächtnis und seine Mahnung an die Nachgeborenen.
Warlam Schalamow, Das vierte Wologda. Erinnerungen. Übersetzt von
Gabriele Leupold. Herausgegeben, mit einem Anmerkungsteil und einem Nachwort
versehen von Franziska Thun-Hohenstein.
Gabriele Leupold. Herausgegeben, mit einem Anmerkungsteil und einem Nachwort
versehen von Franziska Thun-Hohenstein.
Matthes & Seitz, 560 Seiten, 34,90 Euro