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Erinnerungskultur
Geschichte durch Zeitzeugen lebendig machen

Sie erzählen live oder per Videoeinspielung von Vertreibung, Flucht und Krieg: Zeitzeugen machen die Vergangenheit auf eine ganz eigene Art lebendig. Ersetzen können Zeitzeugen die traditionelle Geschichtsschreibung jedoch nicht. Das wissen auch die Teilnehmer der Mainzer Tagung "25 Jahre Erinnerung an das geteilte Europa".

Von Peter Leusch |
    "Dann bin ich am Grenzübergang gleich bis ganz vorne an gefahren, habe den diensthabenden Offizier verlangt, der kam auch gleich, habe ihm das erzählt, und er sagt, er muss meine Frau erst einmal ansehen. Er sah sie an und er war genauso erschrocken wie ich: Sie sah fürchterlich aus, sie erbrach unentwegt, war blass, schweißig, die Kinder weinten laut."
    Axel Böhme erzählt von der abenteuerlichen Flucht seiner Familie in den Westen. Der Arzt aus der DDR hatte 1978 auf einer Urlaubsreise in Bulgarien seiner Frau Medikamente verabreicht, um die Symptome einer akuten Blinddarmentzündung vorzutäuschen. Denn es hieß, dass Bulgarien DDR-Bürger bei schweren Erkrankungen auch über Jugoslawien zurückreisen ließe.
    "Dann hat der Offizier mich mit in sein Büro genommen, ich musste unsere ganze Barschaft zeigen, was wir noch an bulgarischem Geld hatten, zwei Drittel hat er behalten gegen Quittung. Dann hat er den Schlagbaum geöffnet und wir waren in Jugoslawien."
    Die weiteren Stationen der Flucht erzählt Axel Böhme in einem Videointerview, das auf der Online-Plattform www.Gedaechtnis-der-Nation.de für jeden zugänglich ist. Dort hat der Verein Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation Hunderte von Zeitzeugeninterviews in ausgewählten Passagen veröffentlicht. Ziel ist es, persönliche Erinnerungen zu ganz verschiedenen historischen Themen und Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts festzuhalten.
    Das seit 2011 laufende Projekt stößt auf großen Zuspruch in allen Generationen, erklärt die Historikerin Katharina Wimmer:
    "Auch Enkel rufen an und sagen, meine Oma oder mein Opa haben das und das erlebt und können toll erzählen. Dann nehmen wir die Kontaktdaten auf, und wenn wir in der Nähe sind von den einzelnen Zeitzeugen, rufen wir sie an. Jeder Redakteur macht ein kleines Vorgespräch am Telefon mit dem Zeitzeugen von ungefähr einer halben bis dreiviertel Stunde und klopft so die historischen Begebenheiten, die Erlebnisse ab, dass jeder auch gut vorbereitet ist, der Interviewpartner und Interviewer.
    Dann wird ein fester Termin gemacht für den jeweiligen Tourort und dann geht es zum Gespräch, und das Gespräch ist unterschiedlich lang von einer halben Stunde bis zu zwei Stunden."
    Der Vorhang, der Europa teilte
    Am heutigen Donnerstag ist der sogenannte Jahrhundertbus, das mobile Aufnahmestudio des Vereins, zu Gast in Mainz auf dem Campusgelände der Universität. Es gibt zwar keine Interviews, aber der Jahrhundertbus hat die Türen zur Besichtigung geöffnet, präsentiert seine Arbeit anlässlich der Tagung "25 Jahre Erinnerung an das geteilte Europa".
    Denn der Eiserne Vorhang hat nicht nur Deutsche getrennt, er hat ganz Europa zerschnitten. Die Tagung beleuchtet diese europäische Dimension, fragt, wie diese historische Realität sich in biografischen Erinnerungen widerspiegelt, und – weitergehend – wie diese Zeugnisse in neuen medialen Formen, vor allem im Internet präsentiert werden.
    Professoren und Studierende des Masterstudiengangs Kulturanthropologie/ Volkskunde der Universität Mainz haben sich an einem von der EU geförderten Forschungsprojekt beteiligt, wo sogenannte "Iron curtain stories" – also biografische Geschichten und Erinnerungen zum Eisernen Vorhang untersucht werden. Die Kulturanthropologin Sarah Scholl-Schneider von der Universität Mainz leitet das Projekt, das Ausgangspunkt der dreitägigen Tagung ist:
    "Wir haben dort den Auftrag gehabt, sozusagen Interviews aufzunehmen für eine Handy-App, die entwickelt werden sollte und die es auch inzwischen gibt, wo entlang des sogenannten Eisernen Vorhangs diese biografischen Beschreibungen mit Orten verknüpft werden, und wenn man jetzt dort entlang wandert oder jetzt diesen "iron curtain trail", diesen Radweg, benutzt, sich eben auch an bestimmten Orten die passenden spannenden Geschichten von Menschen anhören kann, die auf irgendeine Art und Weise mit dem Eisernen Vorhang in Berührung gekommen sind, ob als Fluchthelfer, als Emigranten oder als Bewohner dieser Grenzgebiete, die auch stark durch die militärische Präsenz dieser Orte beeinflusst waren."
    Der Wert der biografischen Erinnerung
    Sarah Scholl-Schneider betont den Wert von biografischen Erinnerungen, weil sie den Blick für Geschichte wieder öffnen, weil sie eine feststehende Deutung der Historie aufbrechen und zeigen , dass es nicht nur eine einzige Sicht gibt.
    "Was uns Zeitzeugenberichte eröffnen, ist eine Multiperspektivität auf Geschichte. Und die Möglichkeit überhaupt einen Perspektivwechsel einzubinden."
    Perspektivwechsel
    Dieser Perspektivenwechsel bietet eine interkulturelle Chance zu friedlicher Verständigung, wenn sich etwa auf Reisen in die alte Heimat Sudetendeutsche oder Schlesier mit Tschechen bzw. mit Polen getroffen haben, wenn sie die Geschichten der anderen Seite anhören und ihre jeweiligen Erfahrungen austauschen.
    "Das Wichtigste in dem Bereich war für mich nämlich eine spannende Erkenntnis, dass die Erfahrungen der Sudetendeutschen, die in ihre alte Heimat reisen, eine ist, die sich widerspiegelt in den Erfahrungen der neuen Bewohner dieser Gebiete, ob das nun am Beispiel Sudetenland ist oder auch Schlesien etwa, der neuen Bewohner, die ja auch in ihre alte Heimaten reisen und diesen Heimaten genauso nachtrauern.
    Polen, die in Schlesien ansässig wurden, waren oft selber Opfer von Vertreibung, als Stalin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre alte Heimat, weite Teile Ostpolens, annektierte und die Menschen in der sogenannten Westverschiebung Polens zwang, in die ehemals deutschen Ostgebiete umzusiedeln."
    Die Erfahrungen von Heimatverlust, von menschenfeindlichen Grenzen, die Deutsche von Deutschen, aber auch die Europäer untereinander, die Familien, Freunde und Liebespaare trennten, solche persönlichen Zeugnisse spielen in der Bildungsarbeit eine wichtige Rolle, meint der Pädagoge Matthias Huhmann vom Verein "Unsere Geschichte, das Gedächtnis der Nation".
    "Wenn man Zeitzeugenarbeit in die Schulen trägt, das ist schon einmal ein sehr guter Türöffner. Leute, die Zeitzeugenprojekte machen in Schulen, erzählen mir immer wieder, dass man so erst mal die Schüler interessiert für Themen, das ist gut."
    "Wir können die Geschichtsschreibung nicht ersetzen"
    Oral History, also Zeitzeugen frei sprechen zu lassen, ist eine anerkannte Methode der Geschichtswissenschaft, die das Fach bereichert hat. Mit der Zeit sind aber auch die Grenzen solchen Zugangs deutlich geworden: Zeitzeugen bieten einen persönlichen, emotionaleren Zugang zu geschichtlichen Ereignissen, insbesondere wenn sie in Videointerviews gleichsam live zum Betrachter sprechen. Aber ihre Sicht der Ereignisse ist subjektiv, kann womöglich Dinge einseitig oder ideologisch verzerrt darstellen. Dieses Problem hat Jörg von Bilavsky, Geschäftsführer des Vereins und selber Historiker reflektiert:
    "Wir können die Geschichtsschreibung nicht ersetzen. Das wollen wir auch gar nicht, sondern wir wollen sie eigentlich ergänzen, das heißt das was die Zeitzeugen sagen, muss in den historischen Kontext eingeordnet werden. Das machen wir auch redaktionell. Wir waren jetzt beispielsweise in Leipzig, in Dresden, in Potsdam, haben da verstärkt zum Thema 25 Jahre Mauerfall bzw. Teilung gefragt, wir hatten DDR-Oppositionelle vor der Kamera.
    Und wenn die darüber erzählen, wie das auf den Leipziger Montagsdemonstrationen gewesen ist, dann gilt es natürlich, sich den historischen Kontext noch einmal anzuschauen, was Historiker schon über die Zeit herausgefunden haben und zu gucken, was ist sozusagen kompatibel oder was in der Erzählung entspricht nicht ganz den faktischen Gegebenheiten und das entsprechend auch zu kommentieren."
    Erinnerung im medialen Zeitalter
    Eine andere Gefahr sieht Sarah Scholl-Schneider bei der medialen Vermittlung von Zeitzeugengesprächen, die auf der Tagung diskutiert wird. Es ist die Sorge, dass in der Verkürzung der Interviews zu Zwei-Minuten-Clips, die historische Qualität auf der Strecke bleibt.
    "Ich als junge Forscherin sitze einem 90-jährigen Vertriebenen gegenüber, der wird mir ganz anderes erzählen, als einem Leidensgenossen von ihm, das kann aber auch eine Tageslaune sein, die verhindert, dass er mir gewisse Dinge erzählt, das alles halten wir natürlich in einem wissenschaftlichen Kontext in Form von Protokollen fest, das Ganze Interview ist viel mehr als hinterher nur die paar Clips, die dann geschnitten werden. Ich denke, gerade in Bezug auf Museen, die diese Oral-history-Quellen nutzen, aber auch die vielen Internetforen, wo das inzwischen ein ganz wichtiger Punkt geworden ist, dass eben auch O-Töne abrufbar sind, da sollte man darauf achten, dass dieser wissenschaftliche Kontext nicht ganz verloren geht."
    Linktipp:

    Mehr zum Thema erfahren Sie auch in unserer Sendung "Zeitzeugen im Gespräch".