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Erinnerungskultur in Russland
Mit Superhelden den Krieg erklären

Die Rote Armee kämpfte heldenhaft und selbstlos gegen das NS-Regime – diese offizielle Erzählung wird bis heute in russischen Schulen unterrichtet. Kritische Punkte werden oft ausgeblendet. Manche Lehrer gehen bei diesem Thema dennoch neue Wege.

Von Andrea Rehmsmeier |
Sowjetische Soldaten auf dem Marsch in die deutsche Kriegsgefangenschaft
Sowjetische Soldaten auf dem Marsch in die deutsche Kriegsgefangenschaf (picture-alliance / RIA Nowosti)
Eine weiße Tafel, eine Beamerleinwand, eng gestellte Tischreihen: Geschichtsunterricht in einer Berufsschule für Informationstechnologie in Perm.
"Willkommen an alle! Heute geht es um die Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs. Ich freue mich, dass wir dazu einen Vertreter Deutschlands begrüßen können. Er leitet die Kulturprogramme der russischen Goethe-Institute: Wassilij Nikolaewitsch Kusnezow."
Lehrerin Olga Marasanowa blickt zufrieden auf die gut gefüllten Stuhlreihen. Der Zweite Weltkrieg scheint zu interessieren.
"Im stressigen Alltag denkt man natürlich eher wenig über so etwas nach. Es ist ja auch schon lange her. Aber ich bin überzeugt: Den Stolz auf unsere Väter und Großväter, die großen Helden des Krieges, den fühlt bei uns jeder", erzählt ein Schüler.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Spätes Gedenken - Sowjetische Kriegsgefangene in Russland und Deutschland.
Die "Helden des Krieges" - das ist das Stichwort. Olga Marasanowa hat einen ungewöhnlichen Zugang für das Thema gewählt. Auf der Beamerleinwand erscheint ein Kinoplakat des Hollywood-Blockbusters "Avengers: Infinity War" aus dem Jahr 2018. Der "Unendlichkeits-Krieg" der Heldengemeinschaft "Avengers" gehe auf eine US-amerikanische Comic-Serie aus dem Hause Marvel zurück und habe eine lange Vorgeschichte, berichtet die Lehrerin.
Superhelden gegen Superschurken
Dann zeigt sie Comicszenen aus verschiedenen Jahrzehnten: Superhelden gegen Superschurken. In ihrer Frühzeit sind die Abenteuer der Marvelgeschöpfe die Antwort der USA auf Nationalsozialismus und Holocaust. 1941 verpasst "Captain America" Adolf Hitler einen saftigen Kinnhaken. 2018 führen die Avengerhelden einen verlustreichen Kampf gegen einen intergalaktischen Bösewicht, der mit einem Fingerschnippen die Hälfte aller Lebewesen im Universum auslöscht.
Auf einer Leinwand ist das Filmplakat des Hollywood-Blockbusters „Avengers: Infinity War"
Olga Marasanowa zieht im Unterricht Parallelen zum Hollywood-Blockbuster „Avengers: Infinity War" (Deutschlandradio / Andrea Rehmsmeier)
"Praktisch nichts bleibt zurück. Die Hälfte der Bevölkerung verschwindet und es ist nicht klar, ob sie je wieder auftauchen wird. So ähnlich war es im Dritten Reich ja auch. Welche Menschen sind denn damals verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen?"
Zu dieser Frage fällt der Klasse vieles ein: "Juden", "Kommunisten", "Homosexuelle", "Zigeuner" – diese Begriffe fallen schnell. Die Lehrerin aber scheint noch nicht zufrieden. "Ich verstehe Ihre Frage nicht", unterbricht ein Schüler das ratlose Schweigen. Und dann: "Sie meinen doch nicht etwa die Kriegsgefangenen?" Olga Marasanowa beamt eine Zahlentabelle an die Leinwand.
"Wir sprechen über mindestens vier Millionen sowjetische Menschen, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten sind. Über die Hälfte davon bereits 1941/42. Wie lassen sich diese enormen Zahlen erklären?"
Ein Schüler meldet sich: "Der Roten Armee fehlten die Offiziere, weil diese in den Jahren der Großen Säuberung hingerichtet worden waren", sagt er. Die Lehrerin referiert über Hitlers Blitzkriegstrategie und über die nationalsozialistische Rassentheorie, die die slawischen Gefangenen als "Untermenschen" einstufte. Den Schülerhinweis übergeht sie schnell. Und das, obwohl die "Große Säuberung", der unter Stalin viele führende Militärs zum Opfer fielen, auch in internationalen Historikerkreisen als wichtiger Grund für die hohen Verluste der Roten Armee gilt.
Dann erteilt die Lehrerin dem Vertreter des Goethe-Instituts das Wort: Wie gehen die Deutschen heute mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit um, will sie von Wassilij Kusnezow wissen.
"Das Thema Holocaust stand in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland dauerhaft im öffentlichen Fokus. Auch vonseiten Israels gibt es ja ein großes Interesse an dem Thema. Die Opferkategorie der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter – und die ist ja auch nicht klein – hat dagegen lange keine große Rolle in der deutschen Gedenkkultur gespielt. Erst seit Kurzem werden Stimmen laut, die sagen: ‚Liebe Freunde, es gibt Menschen, die bei uns in Industrie und Landwirtschaft unter Zwang ihren Beitrag zu unserem Wirtschaftswachstum geleistet haben.‘"
Der Name Stalin fällt nicht ein einziges Mal
Es wird eine facettenreiche Unterrichtsstunde, die sowohl den deutschen als auch den US-amerikanischen Blick auf den Zweiten Weltkrieg zeigt. Ein frischer Ansatz, modern und jugendgerecht präsentiert. Die "Helden" und "Schurken" allerdings, die die sowjetische Propaganda kreiert hat, hinterfragen die Schüler in dieser Stunde nicht. Die Gulags für die Heimkehrer aus den deutschen Kriegsgefangenenlagern bleiben unerwähnt. Der Name Josef Stalin fällt in 90 Unterrichtsminuten nicht ein einziges Mal.
Dann geht die Stunde zu Ende. Für ihr Schlusswort beamt Olga Marasanowa noch einmal eine Filmszene aus dem Avengersfilm auf die Leinwand.
"Kann ein Krieg zu Ende sein, solange die Kriegsgefangenen nicht heimgekehrt sind – die deutschen nicht und die sowjetischen nicht? Solange wir noch nicht einmal ihre Namen kennen? Ich denke, nicht. Genau das ist die Botschaft des Marvel-Films: 'Infinity War'."