Archiv


Erkenne dich selbst - Die Verantwortung des Individuums

"Erkenne dich selbst" hatte einst über dem Orakel zu Delphi gestanden. Eine Mahnung an den Menschen, nicht in Selbstüberhebung zu verfallen. "Erkenne dich selbst" war ebenso die Grundmaxime der antiken Philosophie gewesen. Abaelard macht sie zum Titel einer neuen Schrift, die einige Jahre nach seiner ersten Theologie entsteht.

Von Astrid Nettling | 26.06.2012
    Es ist seine praktische Philosophie, seine Ethik, die er mit "Scito te ipsum" überschreibt. "Erkenne dich selbst", als die Aufforderung an den Menschen, sich nicht in Worte und bloße Äußerlichkeiten zu verlieren, sondern die eigene Grundhaltung, die seine Lebensführung, das heißt, sein Tun und Lassen, im Innersten bestimmt, sorgfältig in den Blick zu nehmen. Dr. Matthias Perkams, Theologe und Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Jena:

    "Im Hintergrund steckt diese Idee der Verinnerlichung des Menschseins. Schon Paulus spricht in seinen Briefen vom inneren Menschen, und entscheidend ist immer, was der innere Mensch macht. Nur der innere Mensch kann letztlich eine Beziehung zu Gott haben oder diese Beziehung verlieren, und deswegen war es attraktiv zu betonen, dass das Wollen oder die Intention besonders wichtig sind. Man kann sagen, Gott kann es wissen, aber vor allen Dingen kann eigentlich nur der Mensch selber sich selbst beurteilen, indem er wirklich seine Motive kennt, insofern ist also dieser Aufruf eine Aufforderung an den Einzelnen, sich selbst beständig zu prüfen."

    "Erkenne dich selbst" – denn nicht die Konformität nach außen mit irgendwelchen Normen zählt, mit einem Regelwerk etwa religiöser oder kirchlicher Vorschriften, deren Verstöße beispielsweise an Hand der im Frühmittelalter noch üblichen Bußbücher geahndet werden, sondern allein die innere Grundhaltung, die das eigene Handeln leitet. Nicht die sichtbare Tat hat Gewicht, sondern das den Blicken entzogene Wollen und die Intention, die einen dazu bewegen, recht zu handeln und Gutes zu tun, oder einen dazu bringen, seine Zustimmung zu bösem Handeln und zu sündigem Tun zu geben. Und nur das gilt – vor der Welt, aber vor allem vor Gott, auf den der Mensch in seiner Lebensführung letztlich ausgerichtet ist.

    Nicht den Endeffekt irgendwelcher Taten, sondern allein den Sinn wägt Gott bei der Belohnung des Guten oder Bösen, und er fragt nicht, was aus Schuld oder gutem Willen entsteht, sondern er urteilt nach der Absicht selbst, also nicht nach dem Ausgang einer rein äußerlichen Handlung. Denn die Werke an sich sind vollkommen indifferent und dürfen nur im Zusammenhang mit der Absicht der handelnden Person gut oder böse genannt werden.

    Das aber bedeutet ebenso, dass der Mensch als Irrender und prinzipieller Sünder sein potenzielles Heil in der Welt selbst verantwortet und weder vom Willen noch von der externen Gnade Gottes abhängig ist, wie es noch Augustinus gefasst hatte:

    Gott wirkt im Herzen der Menschen, um ihren Willen dahin geneigt zu machen, wohin immer er will: entweder zum Guten gemäß seiner Gnade oder zum Bösen nach ihren bösen Verdiensten.


    Abaelard hingegen spricht von einem Gott, "der euch dahin gehen lässt nach eurem eigenen Urteil". Denn es gibt vieles, so Abaelard, wodurch wir am Handeln gehindert werden, aber "den Willen und die Zustimmung haben wir immer in unserer Entscheidungsfähigkeit." Deshalb stellt für ihn die Sünde einen "consensus mali" dar, die bewusste Zustimmung des Handelnden zu einem Tun, dass er zuvor als böse erkannt und beurteilt hat. Anders gesagt – die Sünde ist eine bewusste Missachtung des Guten und damit zugleich eine Missachtung Gottes.

    Sündigen ist den Schöpfer missachten, das heißt, keineswegs das um seinetwillen tun, was wir seinetwegen glauben, tun zu müssen; oder das um seinetwillen nicht unterlassen, von dem wir meinen, es sei zu unterlassen.

    "Abaelard geht davon aus, dass jeder Mensch in der Vernunft die Fähigkeit hat zu erkennen, was gut ist, und auch die Verpflichtung empfindet, dieses Gute zu tun. Aber was ihm keiner abnehmen kann, ist die Frage, für sich zu klären, was ist denn jetzt das Gute. Wenn das der Mensch nicht selber tut, dann ist er ja auch nicht im vollen Maße verantwortlich für das Gute und das Schlechte, was er tut. Und das Sich-selbst-in-die-richtige-Richtung-bringen ist eine Aufgabe, die jeder eigenständig und alleine verfolgen muss. Und genau hierin besteht die alleinige Verantwortung, die auch Gott und auch die Kirche dem Menschen nicht abnehmen können."

    Wenn wir uns selber richten würden, würden wir von Gott gar nicht mehr gerichtet. Denn Gott überlässt uns unserem Gericht, damit wir das, was in uns zu korrigieren ist, frei richten, da er will, dass wir durch das eigene Gericht sein Gericht vermeiden, zu dem er gleichsam gezwungen hinzutritt. Ein jeder soll mit seiner eigenen Vernunft bei sich erwägen, ob er das, was er tut, vernunftgemäß tut. Und so wird er nur in sich selbst, das heißt; im Richten seiner selbst 'Ruhm haben'. Und dieser Ruhm ist das Zeugnis seines Gewissens.

    Einem solchen Gott, der dergestalt den Menschen in seinem eigenen Urteils- und Vernunftvermögen freigibt, der ihn also nicht richtet und straft wie noch der Gott des Alten Testaments, einem solchen Gott gebührt, dass der Mensch ihm aus freien Stücken folgt. Dass er – mit anderen Worten – seiner vernunftgemäß vollzogenen Einsicht in das Gute freiwillig nachkommt. Eine solche Freiwilligkeit guten Handelns aber geschieht nicht aus logischen Gründen, sondern einzig und allein aus Liebe zu diesem Guten, da es "uns mit einer bestimmten, ihm eigenen Kraft zu sich hinzieht" – und geschieht damit aus Liebe zu Gott als dem allerhöchsten Guten. "Es hassen die Guten die Sünde aus Liebe zur Tugend", lautet eine Zeile des römischen Dichters Horaz. In seiner "Theologia christiana" kommentiert Abaelard sie mit den Worten:

    Er sagt "aus Liebe zur Tugend" und nicht "aus Liebe zu Gott". Doch es ist leicht auch das bei den Philosophen zu finden, die das höchste Gut, was Gott ist, sowohl als Anfang als auch als Ziel von allem ansehen, sodass alles Gute aus Liebe zu ihm geschieht, aus dessen Gabe es auch hervorgeht.

    "Abaelard geht von einer Grundregel aus: Gott will das Gute. Abaelard sagt nicht, etwas ist deswegen gut, weil Gott es will, das hat man dann im späteren Mittelalter häufig gesagt, sondern Abaelard sagt, Gott will etwas nur deswegen, weil es gut ist. In diesem Sinne ist Gottes Wille, der das Gute will, das Modell für den menschlichen Willen. Auch der menschliche Wille beruht darauf, dass der Mensch zunächst einmal das Gute will. Das ist für Abaelard mit der Vernunft schon gegeben, aber der Mensch weiß nicht immer, was das Gute ist, und deswegen ist dieser Prozess der Annäherung des Menschen an Gott auch immer ein Prozess des immer weiter gehenden Verstehens."

    Liebe zu Gott aus ganzem Herzen ist in uns der bestmögliche Wille zu Gott hin, durch den wir ihm um so mehr zu gefallen trachten, je mehr wir erkennen, dass ihm zu gefallen ist. Das tun wir aus ganzem Herzen beziehungsweise aus ganzer Seele, wenn wir die Intention unserer Liebe so vollständig auf ihn ausrichten, dass wir nicht so sehr was uns nützlich, als was ihm gefällig ist, betrachten.

    "Abaelard versucht individuelle Verantwortung und ein gewisses Maß an Selbstständigkeit in der eigenen Lebensführung zu vereinen mit dieser Erkenntnis Gottes als des höchsten Gutes und der größten Liebe, die es uns eigentlich erst ermöglicht, dieses Leben zu führen. Liebe ist also für Abaelard nichts, was in Konflikt zur Vernunft tritt, sondern zum einen etwas, was die Vernunft zum verschärften Denken und zum verschärften Bemühen anregt, und zum anderen ist Liebe etwas, was durch die Vernunft konkretisiert und ausgeführt werden muss."

    All das jedoch geht in den Augen seiner Gegner immer noch zu weit. Dieser "Erzverdreher", wie Abaelard sie verächtlich nennt –

    (...) deren Weisheit im Verderben besteht, sie rühmen meinen Scharfsinn, aber sie wollen die Reinheit meines Christenglaubens nicht anerkennen.

    1141 kommt es zum Konzil von Sens, auf dem der inzwischen 62 Jahre alte Abaelard sich gegen die Häresievorwürfe Bernhards von Clairvaux verteidigen soll. Die Disputation entpuppt sich als Ketzergericht. Abaelard verlässt die Versammlung, um in Rom Berufung einzulegen. Doch Bernhard kommt ihm zuvor und bewirkt seine Verurteilung, woraufhin in Rom seine Schriften feierlich verbrannt werden. Er selbst wird zu Klosterhaft und ewigem Schweigen verurteilt. Es ist das letzte Glied seiner Leidenskette. Schwer erkrankt, lebt er bis zu seinem Tod als einfacher Mönch in Cluny unter der freundschaftlichen Fürsorge des Abtes Petrus Venerabilis, der schließlich die formelle Versöhnung mit Bernhard von Clairvaux und die Aufhebung der Klosterhaft bewirkt. Am 21. April 1142 stirbt Abaelard – unbeirrt in seiner Überzeugung, dass Vernunft und Liebe, Wissenschaft und Glauben keineswegs unvereinbar miteinander sein müssen.

    Gott ist die Wahrheit, und die Wissenschaft Suche nach Wahrheit. Beide können sich nicht widerstreiten. Alles Wissen ist gut: denn wenn das Wissen böse wäre, wie könnte dann Gott von Bosheit frei sein.

    (Petrus Abaelard ist einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen des Mittelalters. Bereits im 12. Jahrhundert trat er für den Vorrang der Vernunft nicht nur in der Philosophie, sondern auch in Glaubensfragen ein. Mit diesem Ansatz gehört er zu den Begründern der mittelalterlichen Scholastik.)

    Teil 1: Leidenschaft für die Vernunft