US-Außenminister John Kerry und sein russischer Kollege Sergej Lawrow teilten nach stundenlangen Verhandlungen in Genf mit, es bestehe nun Klarheit über den Weg zu einer Waffenruhe in Syrien. Gleichzeitig räumten sie ein, dass Einzelheiten noch geklärt werden müssten. Der Islamwissenschaftler und frühere Leiter des Deutschen Orient-Institutes, Udo Steinbach, bezeichnete diese Worte als "Fortsetzung der schamvollen Rhetorik der internationalen Gemeinschaft auf dem Rücken der Syrer". Während die Russen "ihr Ding" durchzögen, stehe der Westen auf der Seitenlinie und schaue zu, sagte er im Deutschlandfunk. Das Treffen von Kerry und Lawrow werde in dem Bürgerkriegsland "nichts Neues" bringen.
Steinbach erwartet allerdings, dass es durch das militärische Eingreifen der Türkei in Syrien noch komplizierter wird. Er stellte die Frage, warum Ankara und die internationale Gemeinschaft nicht schon früher - 2012 oder 2013 - in Syrien interveniert hätten. "Wenn es der türkischen Armee so leicht gelingt, dort Fakten zu schaffen, dann wäre möglicherweise durch einen solchen klugen militärischen Einsatz damals den Menschen in Syrien das Schicksal erspart geblieben, an dem sie leiden."
Innenpolitisch werde das Eingreifen in Syrien der Türkei große Probleme bereiten, meint Steinbach. "Je mehr die türkische Armee versucht, die syrischen Kurden platt zu machen, umso stärker wird dieser Konflikt in die Türkei zurückübertragen." Kritik übte der Islamwissenschaftler aber auch an den syrischen Kurden. Sie hätten tapfer gegen die IS-Terrormiliz gekämpft. Mit dem Versuch, ihr Territorium auszuweiten, seien sie aber "über das Ziel hinausgeschossen". Schon in der Vergangenheit hätten sie sich durch solches Verhalten neue Feinde gemacht oder seien von alten Freunden verlassen worden.
Martin Zagatta: Es war ja fast zu befürchten: Die Türkei hat eine Bodenoffensive gestartet, ist mit Panzern auf syrisches Gebiet vorgerückt und bekämpft dort auch die syrischen Kurden, denen enge Beziehungen nachgesagt werden zur PKK, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei in der Türkei. Und gestern sind bei einem Autobombenanschlag im Südosten der Türkei jetzt mindestens elf Polizisten getötet worden. Zu diesem Anschlag hat sich die PKK umgehend auch bekannt.
Udo Steinbach ist Islamwissenschaftler und hat lange Jahre auch das Deutsche Orientinstitut geleitet. Guten Morgen, Herr Steinbach!
Udo Steinbach: Schönen guten Morgen!
Zagatta: Herr Steinbach, die Ermordung dieser Polizisten, aus Ihrer Sicht, war das Vergeltung, kann man von einer Racheaktion da ausgehen, oder wäre das Spekulation?
Steinbach: Natürlich kann man davon ausgehen. Man muss nicht davon ausgehen, es kann auch eine Fortsetzung des innertürkischen Konfliktes sein, also des Kurdenkonflikts in der Türkei. Aber wir müssen eben sehen, dass mit der Offensive der türkischen Armee in Syrien eine weitere Front aufgemacht worden ist, die in die Türkei zurückreicht. In Syrien haben wir drei Fronten jetzt, bislang hatten wir zwei.
Die erste Front in Damaskus, da geht es um die Frage, wer wird dem Diktator Baschar al-Assad folgen. Die zweite Front war die Front gegen den Islamischen Staat. Und jetzt haben wir eben tatsächlich eine dritte Front zwischen den Kurden in Syrien und der türkischen Armee, wobei diese dritte Front ganz wesentlich in die Türkei zurückreicht, weil es eben eine Verbindung gibt zwischen der PKK in der Türkei und den kurdischen Organisationen.
Die Frage ist, wie kommen die Kurden da raus, wie kommen die Türken da raus, und da wird man sagen müssen, beide Seiten werden nur herauskommen, wenn sie sich verständigen.
"Dieser Konflikt kann nur politisch gelöst werden"
Zagatta: Wie stark sind denn dieses syrischen Kurden? Sind die tatsächlich eine ernste Gefahr für die Türkei?
Steinbach: Sie sind nicht eine ernste Gefahr für die Türkei, aber sie sind natürlich sozusagen in der Lage, möglicherweise die Zukunft des Nahen Ostens, die Zukunft Syriens, die Zukunft der kurdischen Frage umzugestalten. Im Augenblick sind sie stark, wenn es um den Kampf gegen den Islamischen Staat geht. Sie haben keine Chance, wenn es um den Kampf gegen die türkische Armee geht. Aber sie sind natürlich jetzt dadurch stark, und ich deutete das an, dass sie ja nicht allein kämpfen, dass sie die kurdische Frage nicht allein vertreten nur für Syrien, sondern dass die PKK längst in eine Art von Schicksalskampf eingetreten ist um die kurdische Frage insgesamt in der gesamten Region, aber vor allen Dingen auch in der Türkei.
Und auch für die Türken stellt sich die Tatsache dar, dass die türkische Armee unter keinen Umständen diesen Konflikt gegen die PKK in der Türkei gewinnen kann. Also, die Schlussfolgerung muss sein: Dieser Konflikt, so, wie er sich jetzt darstellt, sowohl in der Türkei als auch in Syrien, kann nur politisch gelöst werden.
Zagatta: Sie sagen, eine politische Lösung ist jetzt notwendig. Werden da die syrischen Kurden von den USA und vielleicht auch von Europa nicht im Moment, nachdem man sie gut gebrauchen konnte im Kampf gegen den Islamischen Staat, werden die syrischen Kurden da im Moment nicht gewaltig im Stich gelassen?
"Die syrischen Kurden überziehen ihre Karten"
Steinbach: Sie werden im Stich gelassen. Aber man muss eben einfach sehen, dass häufig, wie in der Geschichte der Kurden überhaupt, die Kurden über das Ziel hinausschießen und sich dann neue Feinde machen beziehungsweise von den alten Freunden verlassen werden. Und genau das ist es jetzt auch. Die syrischen Kurden überziehen ihre Karten. Sie haben tapfer gekämpft, sie haben den Islamischen Staat in die Schranken verwiesen, aber sie müssen davon ausgehen, dass sie dies nur tun können innerhalb ihres eigenen Territoriums.
Wenn sie versuchen, dieses eigene Territorium zu erweitern in die Gebiete hinein, in denen Kurden bisher überhaupt nicht oder nur marginal gesiedelt haben, dann überziehen sie und dann kriegen sie die regionale oder die internationale Gemeinschaft gegen sich. Und genau das passiert. Die syrischen Kurden versuchen ihr Siedlungsterritorium zu schließen mit Gewalt, und dem widersetzt sich aus guten oder weniger guten Gründen die Region und insbesondere widersetzt sich die Türkei.
Aber diesmal, und da haben Sie recht, mit Unterstützung der Vereinigten Staaten, die Amerikaner, die natürlich auch ein gutes und gedeihliches und fruchtbares Verhältnis zur Türkei haben wollen.
Zagatta: Ich höre da bei Ihnen schon etwas Verständnis auch für das Vorgehen von Präsident Erdogan mit durch. Wie groß ist denn die Gefahr jetzt? Wie sehen Sie das? Sie setzen auf Verhandlungen, sagen Sie, aber wie groß ist denn die Gefahr, dass das sich wieder zu einer Art Bürgerkrieg ausweiten könnte in der Türkei auch?
"Die Türkei befindet sich in einem Bürgerkrieg"
Steinbach: Das ist ja schon Bürgerkrieg. Ich lese jeden Tag die türkischen Zeitungen und jeden Tag haben Sie Meldungen von der Art, die Sie eingangs zitiert haben. Also, die Türkei befindet sich in einem Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg eskaliert. Je mehr die türkische Armee versucht, die syrischen Kurden platt zu machen, umso stärker wird dieser Konflikt in die Türkei zurückübertragen.
Also, von daher noch einmal, meine Forderung, Frieden zu schließen. In Syrien bedeutet das ein Abkommen, ein Verständnis zwischen den Kurden dort und der türkischen Armee oder dem türkischen Staat, und in der Türkei bedeutet das eine Fortsetzung des Versöhnungsprozesses, der ja in dem Land stattgefunden hat zwischen den Kurden und dem türkischen Staat bis 2015.
Zagatta: Und darüber hinaus lässt sich ein Frieden in Syrien wahrscheinlich nur schließen, wenn sich die USA und Russland darauf verständigen können, auch um die Umsetzung. Da heißt es heute Morgen, Herr Steinbach, aus Genf, die USA und Russland hätten sich jetzt im Prinzip auf eine Waffenruhe in Syrien geeinigt, über die Umsetzung allerdings noch nicht. Macht Ihnen das irgendwie Hoffnung zumindest, oder ist das eigentlich gar nichts Neues?
"Schamvolle Rhetorik auf dem Rücken der Eingeschlossenen"
Steinbach: Das ist nichts Neues, das ist eine Fortsetzung der schamvollen Rhetorik, derer sich die internationale Gemeinschaft seit Langem bedient, auf dem Rücken der Syrer, auf dem Rücken der Eingeschlossenen. Die Russen ziehen ihr Ding durch, der Westen steht auf der Seitenlinie und guckt zu. Und dann kommt es von Zeit zu Zeit zu so hilflosen Vereinbarungen, wie Sie sie gerade genannt haben.
Zagatta: Bringt da jetzt das Eingreifen der Türkei direkt auch mit Bodentruppen, mit Panzern in Syrien jetzt Bewegung zum Guten, dass sich da irgendetwas jetzt neu ordnet? Oder wird das Ganze jetzt damit noch komplizierter?
Steinbach: Es wird wahrscheinlich noch komplizierter werden. Aber eine Frage steht im Raum, nämlich: Was wäre passiert, was wäre passiert, wenn die internationale Gemeinschaft, wenn die türkische Armee, wenn man klug militärisch interveniert hätte in den Jahren 2012, 2013. Wenn es so leicht gelingt der türkischen Armee, dort Fakten zu schaffen, dann wäre möglicherweise durch einen solchen klugen Militäreinsatz damals den Menschen in Syrien das Schicksal erspart geblieben, an dem sie leiden.
Zagatta: Aus bundesdeutscher Sicht interessiert und das ja auch schon deshalb, weil Bundeswehrsoldaten da in der Türkei auch stationiert sind im Rahmen eines NATO-Einsatzes. Wie gefährlich sehen Sie da die Entwicklung? Ist das gefährlich jetzt im Moment, oder hat das eigentlich keinen großen Einfluss, diese neuerliche Entwicklung?
"Incirlik, das ist ein Seitenschauplatz"
Steinbach: Das hat keinen großen Einfluss. Das, was da zwischen der Bundesrepublik und den Türken sich abspielt in Sachen Incirlik, das ist ein Seitenschauplatz. Der trifft nicht das Zentrum des Geschehens, weder in der Türkei noch in Syrien.
Zagatta: Sagt der Islamwissenschaftler und Nahost-Experte Udo Steinbach. Herr Steinbach, ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch!
Steinbach: Bitte schön!
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