Vor einiger Zeit entdeckte die US-amerikanische Historikerin Deborah Hertz in einem evangelischen Kirchenarchiv in Berlin 60 schwarze Ordner mit Karteikarten. Darauf waren Name, Geburtsdatum und die örtliche Pfarrei jedes in eine protestantische Familie hinein geborenen und getauften Säuglings verzeichnet, und zwar zurückgehend bis ins Jahr 1645. Die Karteikarten lieferten dem NS-Regime die Grundlage für die sogenannte "Judenkartei" – die Voraussetzung dafür, die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der deutschen Juden planen und durchführen zu können. Denn nach der Machtübernahme der Nazis wusste niemand, wie viele Deutsche jüdischer Herkunft es gab. Akribisch vermerkte die "Fremdstämmigenkartei", so die offizielle Bezeichnung der Nationalsozialisten, wer als Jude zum protestantischen Glauben übergetreten war. Neben den rund 500.000 Mitgliedern der jüdischen Gemeinden lebten im Deutschen Reich, wie sich herausstellte, fast ebenso viele Christen jüdischer Herkunft.
Dieses Material führte Deborah Hertz zu der Ausgangsfrage ihrer Studie: Warum hatten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert viele Juden in Deutschland ihren Glauben aufgegeben und waren, wie die Autorin ihr Buch überschrieben hat, Deutsche geworden?
"Wurden Sie Deutsche? Ja! Sie wurden es auf vielfältige Weise. Andernfalls wäre eine Judenkartei gar nicht notwendig gewesen. Mit anderen Worten: Die Nachkommen derjenigen, die konvertierten und die später weiterhin Mischehen eingingen, waren ein Beleg dafür, dass die Assimilation außerordentlich erfolgreich war."
Hertz konzentriert sich in ihrer Darstellung auf die Berliner Juden, und hier wiederum steht Rahel Varnhagen im Mittelpunkt, die Tochter eines wohlhabenden Bankiers und Schmuckhändlers, die 1771 als Rahel Levin zur Welt kam. Als Zeichen wachsender Distanz gegenüber dem Judentum wertet die Historikerin die Häufigkeit, mit der viele Freundinnen Rahel Varnhagens bereits in jungen Jahren ihre jiddischen Vornamen änderten. Aus Brendel wurde Dorothea, aus Pessel Philippine, aus Mirjam Marianne. Viele wurden später Lutheranerinnen, manche ließen sich von ihren jüdischen Ehemännern scheiden, heirateten erneut und nahmen den Nachnamen des neuen Ehemannes an. Dem Namen nach deutete nichts mehr auf eine jüdische Herkunft hin.
"Die Konversion in Berlin, eine für Juden sehr wichtige Stadt, steigt ab 1770 an, von 10 Konversionen pro Jahr auf 60 bis 100. Sie bleibt dann auf einem sehr hohen Niveau und fällt nach 1813 rapide ab."
Angesichts von rund 3.000 Juden, die um 1800 in Berlin lebten, ist die Gruppe der Konvertiten allerdings eine relativ kleine Minderheit.
Die preußischen Gesetze sahen eine Zivilehe zwischen Christen und Juden nicht vor: Wer als Jüdin einen Christen heiraten wollte, musste dessen Glauben annehmen. Vier Tage nach ihrer Taufe, bei der Rahel Levin als Geste der Ehrerbietung gegenüber Friedrich dem Großen die neuen Vornamen Antonie Friederike annahm, heiratete sie den Schriftsteller Karl Varnhagen von Ense.
Deborah Hertz wertet Rahel Varnhagens Abkehr vom Judentum als einen Akt der Emanzipation: Die Hinwendung zum Christentum entsprang nicht religiösen Motiven, sondern war ein notwendiger Schritt der Annäherung an die deutsche Kultur.
"”Ihr Übertritt füllte die Lücke zwischen der Konversion aus religiöser Überzeugung, wie sie unter armen Juden im 17. und frühen 18. Jahrhundert verbreitet war, und den offensichtlich pragmatischen Konvertiten, die eine Professur oder eine Heirat mit Christen anstrebten.""
Wer soziale Anerkennung finden und beruflich aufsteigen wollte, um beispielsweise Professor an einer Universität oder Beamter im Staatsdienst zu werden, musste seinem jüdischen Glauben entsagen. Der Schriftsteller Ludwig Börne etwa, als Juda Löb Baruch geboren, änderte seinen Namen und ließ sich taufen, weil er glaubte, Christen würden sonst seine Theaterzeitschrift nicht lesen.
Auch das Emanzipationsgesetz von 1812, das Juden zu preußischen Staatsbürgern erklärte und den Sonderabgaben ein Ende machte, brachte ihnen nicht die volle bürgerliche und religiöse Gleichberechtigung. Romantische Liebe und Karriere, so Deborah Hertz, blieben auch nach dem Edikt von 1812 mächtige Anreize – trotz der weitreichenden Konsequenzen, die oft mit dem Übertritt verbunden waren: Konvertiten mussten damit rechnen, in ihrem Herkunftsmilieu sozial geächtet und von ihren Familien enterbt zu werden.
"Der Akt der Konversion wurde ihnen regelrecht aufgezwungen von einem Staat, der dies als Voraussetzung für jede Emanzipation verlangte. Tausende von Juden wollten diesen Schritt aber auch gehen, weil sie nicht auf eine wirkliche Emanzipation warten wollten."
Deborah Hertz’ Studie über den Abschied vom Judentum ist ein vorzüglich geschriebenes Buch, das ohne die sonst häufig anzutreffende übertriebene Gelehrsamkeit auskommt. Es gelingt ihr, anhand einzelner Schicksale die Geschichte jüdischer Konvertiten in Deutschland anschaulich darzustellen. Sie überlässt es dem Leser, sich ein Urteil zu bilden, ob die Assimilation ein "Fehlstart in die moderne Zeit" war, wie der Religionsphilosoph Gershom Scholem meinte, oder die einzig vernünftige Perspektive, da die Betroffenen nicht warten konnten oder wollten, bis ihnen die Geschichte die verdiente Emanzipation brachte. Die Entscheidung, dem Judentum den Rücken zu kehren, um überzeugte Preußen oder Deutsche zu werden, bewahrte aber ihre Nachkommen im 20. Jahrhundert ebenso wenig vor Ausgrenzung und Verfolgung wie gläubige Juden. Die Nationalsozialisten erklärten die assimilierten Juden zu "falschen Ariern", für die im rassisch gesäuberten Deutschland kein Platz war.
Deborah Hertz, Wie Juden Deutsche wurden. Die Welt jüdischer Konvertiten vom 17. bis 19. Jahrhundert
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010
336 S., 34,90 Euro.
Dieses Material führte Deborah Hertz zu der Ausgangsfrage ihrer Studie: Warum hatten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert viele Juden in Deutschland ihren Glauben aufgegeben und waren, wie die Autorin ihr Buch überschrieben hat, Deutsche geworden?
"Wurden Sie Deutsche? Ja! Sie wurden es auf vielfältige Weise. Andernfalls wäre eine Judenkartei gar nicht notwendig gewesen. Mit anderen Worten: Die Nachkommen derjenigen, die konvertierten und die später weiterhin Mischehen eingingen, waren ein Beleg dafür, dass die Assimilation außerordentlich erfolgreich war."
Hertz konzentriert sich in ihrer Darstellung auf die Berliner Juden, und hier wiederum steht Rahel Varnhagen im Mittelpunkt, die Tochter eines wohlhabenden Bankiers und Schmuckhändlers, die 1771 als Rahel Levin zur Welt kam. Als Zeichen wachsender Distanz gegenüber dem Judentum wertet die Historikerin die Häufigkeit, mit der viele Freundinnen Rahel Varnhagens bereits in jungen Jahren ihre jiddischen Vornamen änderten. Aus Brendel wurde Dorothea, aus Pessel Philippine, aus Mirjam Marianne. Viele wurden später Lutheranerinnen, manche ließen sich von ihren jüdischen Ehemännern scheiden, heirateten erneut und nahmen den Nachnamen des neuen Ehemannes an. Dem Namen nach deutete nichts mehr auf eine jüdische Herkunft hin.
"Die Konversion in Berlin, eine für Juden sehr wichtige Stadt, steigt ab 1770 an, von 10 Konversionen pro Jahr auf 60 bis 100. Sie bleibt dann auf einem sehr hohen Niveau und fällt nach 1813 rapide ab."
Angesichts von rund 3.000 Juden, die um 1800 in Berlin lebten, ist die Gruppe der Konvertiten allerdings eine relativ kleine Minderheit.
Die preußischen Gesetze sahen eine Zivilehe zwischen Christen und Juden nicht vor: Wer als Jüdin einen Christen heiraten wollte, musste dessen Glauben annehmen. Vier Tage nach ihrer Taufe, bei der Rahel Levin als Geste der Ehrerbietung gegenüber Friedrich dem Großen die neuen Vornamen Antonie Friederike annahm, heiratete sie den Schriftsteller Karl Varnhagen von Ense.
Deborah Hertz wertet Rahel Varnhagens Abkehr vom Judentum als einen Akt der Emanzipation: Die Hinwendung zum Christentum entsprang nicht religiösen Motiven, sondern war ein notwendiger Schritt der Annäherung an die deutsche Kultur.
"”Ihr Übertritt füllte die Lücke zwischen der Konversion aus religiöser Überzeugung, wie sie unter armen Juden im 17. und frühen 18. Jahrhundert verbreitet war, und den offensichtlich pragmatischen Konvertiten, die eine Professur oder eine Heirat mit Christen anstrebten.""
Wer soziale Anerkennung finden und beruflich aufsteigen wollte, um beispielsweise Professor an einer Universität oder Beamter im Staatsdienst zu werden, musste seinem jüdischen Glauben entsagen. Der Schriftsteller Ludwig Börne etwa, als Juda Löb Baruch geboren, änderte seinen Namen und ließ sich taufen, weil er glaubte, Christen würden sonst seine Theaterzeitschrift nicht lesen.
Auch das Emanzipationsgesetz von 1812, das Juden zu preußischen Staatsbürgern erklärte und den Sonderabgaben ein Ende machte, brachte ihnen nicht die volle bürgerliche und religiöse Gleichberechtigung. Romantische Liebe und Karriere, so Deborah Hertz, blieben auch nach dem Edikt von 1812 mächtige Anreize – trotz der weitreichenden Konsequenzen, die oft mit dem Übertritt verbunden waren: Konvertiten mussten damit rechnen, in ihrem Herkunftsmilieu sozial geächtet und von ihren Familien enterbt zu werden.
"Der Akt der Konversion wurde ihnen regelrecht aufgezwungen von einem Staat, der dies als Voraussetzung für jede Emanzipation verlangte. Tausende von Juden wollten diesen Schritt aber auch gehen, weil sie nicht auf eine wirkliche Emanzipation warten wollten."
Deborah Hertz’ Studie über den Abschied vom Judentum ist ein vorzüglich geschriebenes Buch, das ohne die sonst häufig anzutreffende übertriebene Gelehrsamkeit auskommt. Es gelingt ihr, anhand einzelner Schicksale die Geschichte jüdischer Konvertiten in Deutschland anschaulich darzustellen. Sie überlässt es dem Leser, sich ein Urteil zu bilden, ob die Assimilation ein "Fehlstart in die moderne Zeit" war, wie der Religionsphilosoph Gershom Scholem meinte, oder die einzig vernünftige Perspektive, da die Betroffenen nicht warten konnten oder wollten, bis ihnen die Geschichte die verdiente Emanzipation brachte. Die Entscheidung, dem Judentum den Rücken zu kehren, um überzeugte Preußen oder Deutsche zu werden, bewahrte aber ihre Nachkommen im 20. Jahrhundert ebenso wenig vor Ausgrenzung und Verfolgung wie gläubige Juden. Die Nationalsozialisten erklärten die assimilierten Juden zu "falschen Ariern", für die im rassisch gesäuberten Deutschland kein Platz war.
Deborah Hertz, Wie Juden Deutsche wurden. Die Welt jüdischer Konvertiten vom 17. bis 19. Jahrhundert
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010
336 S., 34,90 Euro.