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"Ermunterung zum Selbstdenken"

Die Schrecken der Finanzkrise oder ethische Fragen der modernen Medizin - beides seien Bereiche, in denen die Philosophie weiterhelfen könne, sagt Rüdiger Safranski. Der Schriftsteller fordert, dass die Philosophie in der Schule zu einem Pflichtfach wird.

Rüdiger Safranski im Gespräch mit Kathrin Hondl |
    Kathrin Hondl: "Wir schenken Ihnen Zeit" – das ist das Motto bei "Kultur heute" zum Jahresanfang, und es bedeutet: Wir schenken unseren Gesprächspartnern ein bisschen mehr Redezeit als sonst – Zeit für ein paar Gedanken mehr. Heute geht das Zeitgeschenk an den Philosophen und Schriftsteller Rüdiger Safranski. Herr Safranski, als Philosoph sind Sie in diesen Tagen ja ein ziemlich gefragter Mann. Das Interesse an Philosophie jedenfalls scheint selten so groß gewesen zu sein – populär-philosophische Bücher sind Bestseller, am Zeitungskiosk gibt es seit Kurzem gleich zwei neue Philosophiemagazine zu kaufen und, na ja, Sie denken mit Ihrem "Philosophischen Quartett" ja auch im Massenmedium Fernsehen über die Probleme der Zeit nach. Liegt es an den krisenhaften Zeiten – oder woher meinen Sie, Herr Safranski, rührt dieses offensichtlich gesteigerte Interesse an philosophischen Fragen?

    Rüdiger Safranski: Ja, das Interesse ist offenbar gesteigert, und die Vermutung, dass das auch etwas mit unseren Verunsicherungen zu tun hat, ist, denke ich, auch gegeben. Wir haben ja eine Situation, wo wir nun ordentlich durcheinandergeschüttelt werden, und wir wissen auch nicht mehr so ganz genau, was wir wissen, und das ist zum Beispiel immer der Ansatzpunkt der Philosophie gewesen.

    Hondl: Ist damit vielleicht auch die Hoffnung verbunden, Herr Safranski, das Philosophieren uns – ich habe es schon erwähnt – in diesen Krisenzeiten irgendwie weiterhelfen kann, in der Finanzkrise zum Beispiel?

    Safranski: Ja, ich denke schon. Wir werden ja jetzt wirklich ordentlich durchgeschüttelt. Und Sie sagen, die Finanzkrise. Jetzt denken Sie mal daran: der große Kant hatte ja sein Philosophieren auch unter die Frage gestellt, was kann ich eigentlich wissen. Wir sind jetzt zum Beispiel konfrontiert damit, dass offenbar auch die Ökonomie als Wissenschaft im Nebel stochert. Wir wissen, dass die Leute, die da agieren, die Kalkulierbarkeit und die Wissbarkeit dieser ganzen Transaktionen hoffnungslos überschätzt haben. Und jetzt entsteht ja auch das Bewusstsein, ja Moment mal, wie sicher sind denn unsere Voraussetzungen, unsere Voraussagen, wie sicher sind eigentlich unsere Kalküle? Es besteht also ein auch jetzt massenhaft feststellbarer Bedarf an Überprüfung dessen, was wir glauben zu wissen und vielleicht doch nur glauben, statt zu wissen. Ich glaube, mit dieser Verunsicherung hängt das zusammen. Und ich denke, es hängt auch noch mit einer zweiten Verunsicherung zusammen: Wir können jetzt technisch immer mehr tun – denken Sie an die moderne Medizin – und wir machen diese Erfahrung, dass unsere ethischen Handlungsanweisungen, aus denen wir leben, ja nicht mehr in allen Fragen so richtig passgerecht sind. Sie passen nicht genau auf das, was wir machen können. Was dürfen wir tun und was dürfen wir nicht tun – beispielsweise bei der Klonierung von Menschen, diese Debatte hatten wir. Da entsteht auch eine Verunsicherung und es entsteht auch ein Bedarf, über die ethischen Grundlagen unseres Handelns nachzudenken.

    Hondl: Wenn Sie von Ethik sprechen, dann denkt man ja eigentlich auch ziemlich schnell an Religion. Inwiefern fungiert denn die Philosophie in diesen Zeiten, in diesen ja säkularen Zeiten möglicherweise auch als so eine Art Religionsersatz, als geistiges Trostpflaster vielleicht?

    Safranski: Ja, auch da würde ich den Zusammenhang so sehen. Die Religionen verlieren jetzt hier im Westen, in der Moderne an verbindender Kraft, sie verlieren auch ihre Aussagen, verlieren an Glaubwürdigkeit für viele Menschen. Man hat aber die Philosophie im Verdacht, im positiven Verdacht, dass sie ja auch, was sie immer schon getan hat, mit den sogenannten ersten und letzten Fragen sich beschäftigt. Und so ist Philosophie der Ort gewissermaßen des freien Nachdenkens über die existenziellen Grundfragen. Der Nachdruck liegt auf "frei", weil jetzt durch keine Offenbarung angeleitet, sondern durch den Gebrauch des eigenen Denkens, Empfindens, Erfahrens. Es war mal ein Ausdruck in der Philosophie, der stolz erhoben worden ist: Es kommt darauf an, zu einem Selbstdenker zu werden. Und ich glaube, dieses Versprechen steckt dann auch in dem Charme, den die Philosophie hat: Ermunterung zum Selbstdenken, auch und gerade in den ganz ernsthaften, ganz wichtigen, ganz existenziellen Fragen.

    Hondl: Mit der akademischen Philosophie, wie sie an den Universitäten betrieben wird, hat das aber doch eher wenig zu tun. Wenn man jetzt zum Beispiel an diese neuen Philosophiemagazine denkt, was da so thematisiert wird – da gibt es Titelgeschichten zum Thema "Du sollst nicht lügen" oder über die Frage, "Warum haben wir Kinder". Droht in dieser allgemeinen Philosophieeuphorie, die wir ja da gerade fast schon haben, droht da nicht auch so eine Verwässerung des Begriffs, was unter Philosophie überhaupt zu verstehen ist?

    Safranski: Also ich bin da nicht so skeptisch. Schon Kant hat wunderbar unterschieden zwischen einer Akademie, zwischen, wie er das nannte, dem Schulbegriff der Philosophie und dem Weltbegriff der Philosophie, und den Weltbegriff nannte er die Art des Philosophierens, die sich im Leben der Menschen einklinkt, die dort sich betätigt. Und ich würde auch nicht jetzt von sozusagen einem feindseligen Verhältnis zwischen diesen beiden Sparten ausgehen. Ich glaube, die akademische Philosophie ist auch wichtig, sie leistet wichtige philologische Arbeit, sie gewährleistet das Tradieren und so weiter, sie wendet viel Scharfsinn darauf, auch uns zu helfen, bestimmte Autoren zu lesen, alles das, sie schult auch den philosophischen Verstand. Aber es kommt natürlich darauf an, gerade bei der Philosophie, dass sie aus einer bloßen Fachkompetenz herauskommt und zur Befruchtung des Denkens der Menschen in ihrem Alltag führt.

    Hondl: Das ist der Unterschied zwischen akademischer und, ich nenne es jetzt mal, öffentlicher Philosophie?

    Safranski: Ja, öffentliche Philosophie wäre der schöne Begriff dafür.

    Hondl: Dass dieser Unterschied vielleicht gerade in Deutschland besonders ausgeprägt ist, könnte ja vielleicht auch daran liegen, dass Philosophie in den Schulen bei uns keine große Rolle spielt, im Gegensatz zum Beispiel zu Frankreich, wo die Abiturprüfungen ja jedes Jahr mit einem Philosophieaufsatz anfangen, und über diese Frage wird dann auch immer in den Medien berichtet und diskutiert. Wäre mehr Philosophie in der Schule als Pflichtfach zum Beispiel auch in Deutschland sinnvoll, wünschenswert?

    Safranski: Ja, das wünschte ich mir. Ich wünschte mir schon eine Debatte darüber, auch jetzt nicht nur verengt auf die Frage der Ethik. Da gibt es ja nun im Ethikunterricht, da kommt ja dann auch ein Stück Philosophie herein. Aber Philosophie ist auch ein wunderbares Medium, in dem Denken und Fantasie in Verbindung auch geschult, entwickelt werden kann. Also ich glaube, viele Leute begreifen gar nicht, was für ein Versprechen in der Philosophie liegt, wie viel Lust auch Philosophie machen kann, wie sie die Intelligenz vitalisiert. Also die kann wirklich sehr viel und da denken wir immer so in diesen Sparten. Ich wünsche mir für dieses Jahr, dass es aus dieser Frage, wo wir jetzt eine Philosophie-Renaissance haben, dass das auch nun mal mächtig in die Schulen durchschlägt.

    Hondl: Philosophische Neujahrswünsche von Rüdiger Safranski waren das in unsere Reihe "Wir schenken Ihnen Zeit" Philosophie in unseren krisenhaften Zeiten.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Weitere Teile der Serie: "Wir schenken Ihnen Zeit"

    Teil I - Der Soziologe Hartmut Rosa über Kunst und die Beschleunigungskultur
    Teil II - Der neue Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, Gedanken über die Fotografie und die Zeit
    Teil III - Gesine Schwan über Demokratie und Gemeinsinn
    Teil IV - Opernsängerin Edda Moser: Ein Loblied auf die deutsche Sprache
    Teil V - Kulturpolitikerin Monika Grütters über die Rolle der Kultur in multi-ethnischen Gesellschaften
    Teil VII - Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu im Gespräch über das Ruhrgebiet
    Teil VIII - Die Schriftstellerin Juli Zeh über Krisenhysterie und Schwangersein