Der Markt für glutenfreie Back-und Teigwaren boomt unverändert. Doch so viele Deutsche kann es gar nicht geben, die das Weizenprotein nicht vertragenund an einer sogenannten Gluten-Sensitivität leiden. Genaue Zahlen für Deutschland fehlen zwar bisher. Doch nach aktuellen Schätzungen reagieren allenfalls ein bis vier Prozent der Bevölkerung empfindlich auf Gluten.
Stephan Bischoff, Professor für Ernährungsmedizin an der Universität Hohenheim: "Man muss sich gar nicht so sehr streiten, ob es jetzt ein oder vier Prozent sind. Ich bin eher der Überzeugung: ein Prozent. Die Wahrnehmung der Bevölkerung ist ja eine ganz andere Dimension! Das sind 20, 30, 40 Prozent."
Einstufung als Reizdarm-Patienten befriedigt nicht
Doch warum glauben immer mehr Verbraucher, dass sie Brot, Pizza und Pasta aus Weizenmehl nicht vertragen? Und dass Gluten der Grund für ihre Magen- und Darmprobleme ist?
"Zunächst mal sind ja viele dieser Patienten eingestuft vom Arzt als Reizdarm-Patienten. Diese Diagnose befriedigt viele Leute nicht. Denn Reizdarm hat einen negativen Touch. Das geht so in Richtung: 'Das ist ja alles Psycho! Stell Dich nicht so an! Entspann Dich 'mal!' Die wollen 'was anderes hören. Und wenn sie das nicht vom Arzt hören, dann gehen die weiter auf die Suche. Manche auf Eigensuche. Manche gehen zum Heilpraktiker. Und dann stoßen sie auf solche Diagnosen."
Nicht nur Stephan Bischoff sieht das kritisch. Mehrere medizinische Fachgesellschaften haben jetzt ein Positionspapier zur angeblich so häufigen Gluten-Unverträglichkeit verfasst. Es soll in Kürze veröffentlicht werden. Das kündigte Bischoff jüngst auf dem Wissenschaftlichen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Hohenheim an:
"Es wird nicht gesagt: 'Das gibt's nicht!' Oder 'Das ist alles Quatsch!'. Sondern die Botschaft ist: 'Seid vorsichtig mit dieser Diagnose!' Es ist schwer zu sagen: 'Der hat's wirklich, und der hat's höchstwahrscheinlich nicht.'"
Selbstdiagnostik ist sehr kritisch zu sehen
Verbraucher gingen sogar ein gesundheitliches Risiko ein, wenn sie Magenprobleme salopp Gluten zuschrieben. Davor warnte Katharina Scherf vom Münchener Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie auf dem Ernährungskongress.
"Die Selbstdiagnostik einer Weizen-Unverträglichkeit ist sehr kritisch zu sehen. Es kann sein, dass man dadurch eine Zöliakie beispielsweise übersieht."
Zöliakie - das ist eine chronische Entzündung der Darmschleimhaut. Bei ihr spielt Gluten tatsächlich eine zentrale Rolle und löst Fehlsteuerungen des Immunsystems aus. Wer an Zöliakie erkrankt, ohne es zu wissen, und sich bereits glutenfrei ernährt, hat ein Problem:
"Sobald Sie Gluten aus der Ernährung entfernen, gehen die typischen diagnostischen Marker, die man im Blut findet, zurück, und man kann diese nicht mehr nachweisen. Die Krankheit ist trotzdem da, wird aber nicht erkannt. Das kann sehr ernstzunehmende Komplikationen bewirken. Zum einen ist bei der Zöliakie eine verringerte Aufnahme von Nährstoffen der Fall. Insbesondere Vitamine und Spurenelemente werden schlechter aufgenommen. // Und eine Zöliakie, die sehr lange nicht erkannt wird, kann auch das Risiko für Darmkrebs erhöhen."
Glutenfreie Lebensmittel oft mit Fett oder Zucker versetzt
Viele meinen, es sei grundsätzlich gesünder, auf Weizen in der Ernährung zu verzichten, und greifen lieber zu glutenfreien Nahrungsmitteln. Das sei aber nur ein Mythos, so die Lebensmittelchemikerin: "Bei den glutenfreien Produkten ist es häufig so, dass sie stärkebasiert sind und sehr wenig Mineralstoffe, Ballaststoffe und auch wenig Vitamine enthalten. Und darum kann man auf jeden Fall nicht sagen, dass sie gesünder sind."
Oft werde glutenfreien Lebensmitteln auch zusätzlich Fett oder Zucker zugesetzt, damit sie besser schmeckten.
"Ich finde es wichtig, dass man versucht, die Leute aufzuklären: Das ist das, was wirklich wissenschaftlich bekannt ist. Und da einfach 'mal Klarstellung betreibt."
Wer glaubt, empfindlich auf Weizen oder Gluten zu reagieren, könnte auch an einer Nahrungsmittelallergie leiden. Oder in Wahrheit andere Stoffe in Lebensmitteln nicht vertragen wie etwa Laktose. Betroffenen rät Katharina Scherf deshalb, einen ausgewiesenen Facharzt aufzusuchen. Denn nur er könne das feststellen.