Friedbert Meurer: Es ist oft so: Man tut einem etwas Gutes und dann will es der andere natürlich auch haben. 1700 Unternehmen zum Beispiel sind in Deutschland in diesem Jahr von der Umlage befreit, mit der der Ausbau des Ökostroms gefördert wird, und da wollten das natürlich auch andere haben und nächstes Jahr werden 2800 Unternehmen von der Ökoumlage befreit sein. Auch das hat die EU-Kommission gestern veranlasst, Deutschland wegen unerlaubter Beihilfe für seine Industrie zu verklagen. Die Ökostrombefreiungen seien ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht. Die Kanzlerin ist sauer und widerspricht:
O-Ton Angela Merkel: "Solange es europäische Länder gibt, in denen der Industriestrom billiger ist als in Deutschland, kann ich nicht einsehen, warum wir zur Wettbewerbsverzerrung beitragen."
Meurer: Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern im Deutschen Bundestag. Günther Oettinger ist Mitglied der EU-Kommission, Energiekommissar, CDU-Politiker, bei uns jetzt in Brüssel am Telefon. Guten Morgen, Herr Oettinger!
Günther Oettinger: Guten Morgen.
Meurer: Wir haben gerade – ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben – den kurzen Redeausschnitt der Kanzlerin gespielt, in der sie sagt, sie kann es einfach nicht einsehen, was ist Wettbewerbsverzerrung in Deutschland, wenn andernorts der Industriestrom billiger ist als in Deutschland. Leuchtet Ihnen diese Logik ein?
Oettinger: Wir haben ja mit Deutschland einen engen Kontakt. Es geht um folgendes: Es gibt eine Reihe von Beschwerden, also Klagen gegen das EEG, die mein Kollege Almunia und wir zu bearbeiten haben. Diese Klagen liegen seit längerer Zeit vor und sie sagen sinngemäß: Die Zahl der Betriebe, die vollen Strompreis bezahlt, im Vergleich zu denen, die Ermäßigungen haben, ist zu überprüfen. Sind die Kriterien richtig, ist die Abgrenzung richtig, wer bezahlt den vollen Preis, wer bekommt die Ermäßigung, ist da eine Wettbewerbsverzerrung vorhanden im Inland oder mit Nachbarländern? Da gibt es Klagen aus Holland zum Beispiel. Genau dies werden wir jetzt prüfen, ohne Vorurteil, und natürlich wollen auch wir, dass die Industrie, die in Deutschland wertvoll ist, die Stahlindustrie, Kupfer-, Aluminium-, Karbon-, Keramik-, Glas-, Zement-, die chemische Industrie, dass die erhalten bleibt.
Meurer: Spielt das Preisniveau – Entschuldigung, Herr Oettinger – in den anderen EU-Ländern beim Industriestrom gar keine Rolle?
Oettinger: Doch, auch. Aber in Deutschland sind die staatlichen Abgaben und Steuern auf Strom besonders hoch. Wir hatten immer einen hohen Erfindungsreichtum. Wann immer ein Loch in der Kasse war, haben wir in Deutschland neue Steuern erfunden. Wir haben die Brennelementesteuer, wir haben die Stromsteuer, wir haben Beiträge für die Rente aus der Strompreisgewinnung, wir haben KWK, wir haben EEG. Das heißt, wir haben in Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten besonders viel neue und höhere Steuern auf Strom erfunden und jetzt ein Problem, dass diese Gesamtabgaben, die vollen Kosten also, für die Industrie schwer zu tragen sind.
Meurer: Also die Kanzlerin, salopp gesagt, ist schief gewickelt, wenn sie auf das Preisniveau in anderen Ländern vergleicht und nicht auf die Ursachen in Deutschland?
Oettinger: Beides ist richtig. Wir müssen in Deutschland durch eine Revision des Energierechts und durch eine Prüfung der Steuern reagieren und wir müssen europäisch vergleichen, welchen Strompreis kann die Industrie tragen, damit sie auch im weltweiten Wettbewerb, mit den USA zum Beispiel, nicht abwandern muss. Wir wollen Industrie halten.
Meurer: Sie haben ja die Reaktionen in Deutschland gestern verfolgt: die Bundeskanzlerin, der neue Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der Bundesverband der Deutschen Industrie. Machen Sie, Herr Oettinger, und die EU-Kommission der deutschen Industrie nicht das Leben schwer?
Oettinger: Wir wollen ohne jedes Vorurteil prüfen, wie die Industrie Ermäßigungen braucht, damit sie im weltweiten Wettbewerb sich halten kann. Aber wir können auch Beschwerden gegen das EEG nicht negieren, und es war ja ein offenes Geheimnis, dass das geltende Fördersystem für die Erneuerbaren, so wie es besteht, und dass die geltenden Ausnahmen auf Dauer nicht mehr haltbar sind. Die Beschwerden sind seit Längerem bekannt. Deswegen ist überhaupt kein Grund für irgendeine Überraschung. Die Kommission hat lange zugewartet und wird jetzt prüfen, ohne Vorurteile. Wir haben Fragen, die nach Berlin gehen, und die kann Herr Gabriel mit Sicherheit kompetent beantworten. Dann werden wir eine faire Regelung finden.
Meurer: 1700 Unternehmen sind dieses Jahr befreit vom Ökostrom, 2800 nächstes Jahr. Haben Sie ungefähr eine Vorstellung, was am Ende herauskommen soll?
Oettinger: Es gab vor zwei Jahren im Zuge der Energiewende eine Erweiterung der Befreiungs- und Ermäßigungsmöglichkeiten. Die nutzt die Industrie jetzt. Das ist nachvollziehbar. Wobei die Menge an Strom, die daraus ermäßigt wird, gar nicht so arg zunimmt. Die Zahl der Betriebe, die einen Antrag stellt, steigt, die Menge an Strom, die man ermäßigt bekommt, steigt nur minimal. Deswegen glaube ich, das Ganze ist keine unendliche Geschichte, die ist lösbar. Da brauchen wir jetzt ein halbes Jahr Zeit, dann werden die Fachleute von Brüssel und Berlin gemeinsam prüfen und dann finden wir eine Lösung, die am besten mit der angekündigten Reform des deutschen Energierechts zeitgleich gemacht wird.
Meurer: Verstehe ich Sie richtig, dass das Problem je nachdem schon in einem halben Jahr in einer gütlichen Einigung vom Tisch ist, Deutschland reduziert die Zahl der Ausnahmen und der Unternehmen und dann ist das Problem schon gelöst?
Oettinger: Das Problem ist lösbar. Wir haben guten Willen in Brüssel und auch in Berlin und deswegen werden unsere Fragen jetzt in Berlin zu beantworten sein und dann kann man durch eine EU-gerechte Reform des deutschen Energierechts das Problem in den nächsten sechs bis zehn Monaten lösen. Das ist unser Ziel.
Meurer: EU-Energiekommissar Günther Oettinger heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk zur Klage der EU-Kommission gegen Deutschland wegen Wettbewerbsverzerrungen beim Ökostrom. Herr Oettinger, danke nach Brüssel und auf Wiederhören.
Oettinger: Einen guten Tag an Sie auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.