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Ernst Dronke: "Berlin"
Die Lage der arbeitenden Klasse im 19. Jahrhundert und heute

Ernst Dronkes historische Reportage "Berlin" ist weit mehr als ein urbanes Sittenbild der Hauptstadt im 19. Jahrhundert. Sein Text ist eine scharfe Anklage gegen den preußischen Staat und dessen Unterdrückungssystem. Wegen Der Veröffentlichung wurde Dronke zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Von Enno Stahl |
Buchcover: Ernst Dronke: „Berlin“ und historische Aufnahme Berlin Kurfürstendamm
Buchcover: Ernst Dronke: „Berlin“ und historische Aufnahme Berlin Kurfürstendamm (Hintergrund: imago/Arkivi, Buchcover: Verlag Die Andere Bibliothek)
Ernst Dronke (1822-1891) war einer der schärfsten Autoren des Vormärz. 1846, als er seinen umfangreichen Reportageband "Berlin" veröffentlichte, war er gerade 24 Jahre alt. Schon ein Jahr zuvor war er wegen seiner radikalsozialistischen Tendenz aus der preußischen Hauptstadt ausgewiesen worden. Die Buchpublikation "Berlin" brachte ihm die Verurteilung zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe ein.
In den Wirren der 1848er-Revolution gelang ihm indes die Flucht aus der Festung Wesel. Er ging nach Brüssel, wo er Karl Marx und Friedrich Engels traf. Im Juni 1848 kam er nach Köln, wo er als Redaktionsmitglied an Marx‘ legendärer "Neue Rheinische Zeitung" mitwirkte. Wie Marx und Engels siedelte auch Dronke in Folge der gescheiterten Revolution nach England über. Schon 1852 kehrte er aber der Politik den Rücken, was zu einer deutlichen Entfremdung mit den Häuptern der Kommunistischen Bewegung führte.
Kein städtisches Sittenbild
Der Titel von Dronkes Buch "Berlin" ist missverständlich. Die Sammlung ist kein städtisches Sittenbild, auch kein Bericht über das Alltagsleben der aufstrebenden Metropole. Nur in den ersten drei Kapiteln befasst sich der Autor mit dem Straßenleben, der Öffentlichkeit und durchaus auch mit der Berliner Mentalität – ihr attestiert er ein ernsthaftes Streben nach politischer Auseinandersetzung, selbst im Philister liege demnach:
"...wie bei den übrigen Ständen, der Hauptzug des Berlinertums, der kritische Geist. Er beschäftigt sich mit allem, ist wissbegierig und prüft; nichts imponiert ihm; sein Urteil ist kalt und ruhig, freilich bei falschen Voraussetzungen auch ebenso sicher wie bei wahren."
Das zeigt bereits, warum das Buch auch für heutige Leserinnen und Leser interessant ist: Vieles erscheint einem vertraut. Man wundert sich, dass es damals offensichtlich schon ähnlich war wie heute.
Bei einem Buch, das sich schon im Titel einer Großstadt widmet, denkt man automatisch an eine bestimmte Tradition, an die literarische Flanerie, wie man sie von Autoren wie Franz Hessel oder auch Walter Benjamin kennt. Tatsächlich bietet Dronke Anklänge an eine solche Richtung, die damals – etwa bei Heine und Börne – gerade erst im Entstehen begriffen war:
Handwerker erwecken die Stadt
"Das Leben der Hauptstadt, so geräuschvoll und bewegt es ist, gönnt sich nur wenige Stunden der Ruhe. Das Rasseln der Wagen verhallt erst gegen Morgen; einzelne Tritte später Nachtvögel schlendern wohl auch dann noch über die Trottoirs, aber im Allgemeinen ist es ruhig, ungefähr zwei bis drei Stunden lang. Um fünf öffnen sich die Läden und einzelne Arbeiter ziehen nach den Fabriken oder Arbeitsplätzen.
Um diese Stunde liegt noch eine wohltuende Frische über der Stadt und es ist angenehm, so in der Frühe das unschuldsvolle Erwachen dieser Stadt zu beobachten, die erst kurz vorher in dem Taumel der Genüsse zusammenbrach. Es währt geraume Zeit, bis der eigentliche Verkehr beginnt.
Die ersten, welche das Leben auf der Straße erwecken, sind nächst den Handwerkern die jungen Arbeiterinnen, welche in den Handlungen und Werkstätten ihren Tageserwerb verdienen. Mit dem leichten, behenden Schritt, der ihnen eigen ist, das Hütchen vornüber in die Augen gedrückt, ein Tuch um die Schultern geschlungen, eilen sie über die Gassen."
Die sozialen Verwerfungen in Preußen an
Fast idyllisch mutet diese Skizze des erwachenden Berlins an. So erscheint es beinahe, als habe Dronke den zeitgenössischen Leser (und womöglich auch die Zensoren) mit seinen Anfangskapiteln einlullen wollen. Worum es ihm eigentlich geht, erfährt man wenig später unmissverständlich. In überdeutlichen Worten klagt er die sozialen Verwerfungen im Staat Preußen an. Und man versteht nun, dass das Buch weniger die wachsende Metropole als Stätte der Modernität und des Wandels meint. Vielmehr zielt Dronke auf die Hauptstadt Berlin als politischen Sitz der preußischen Regierung. Diese war berüchtigt für die rigidesten Zensurbestimmungen und die drückendsten Bedingungen für ihre Untertanen, insbesondere die Besitzlosen.
Offensichtlich geschult an Friedrich Engels‘ "Die Lage der arbeitenden Klasse in England", das ein Jahr früher (1845) erschien, liefert Dronke eine an der unmittelbaren Anschauung orientierte Fundamentalkritik der preußischen Hegemonie.
Nach und nach behandelt er die desolate Lage der unteren, fast völlig entrechteten Klassen, prangert Korruption und Herrschaftswillkür von König und Regierung ebenso an wie die Doppelgesichtigkeit der liberalen Geldaristokratie. Auch die verschiedenen Gesellschaftsklassen, die politischen Strömungen – echte Parteien gab es damals noch nicht – das Polizei- und Strafsystem wie auch Universität und Kultur werden Teil seiner Anklageschrift. Getreu seiner sozialistischen Haltung führt er die meisten Deformationen auf die soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit zurück.
"Das Verbrechen geht aus Verhältnissen hervor, die Strafe trifft die Personen. (...) Der Mensch, der einmal geboren, hat ein Recht auf seine Existenz; dies ist jedenfalls der erste und hauptsächlichste Grundsatz, den man in allen Formen der menschlichen Gesellschaft festhalten muß. Es folgt aber hieraus von selbst, daß die Gesellschaft nicht das Recht hat, Gesetze und Strafen aufzuführen, welche die Existenz einzelner in ihrer Mitte unmöglich machen. Sanktioniert nun die Gesellschaft Verhältnisse, in denen oft eine ganze Klasse, welche die Kraft und den Willen zur Arbeit hat, doch außerstande ist, ihre Existenz festzuhalten, dann – in solchen Verhältnissen – hat die Gesellschaft kein Recht zur Strafe."
Das Verbrechen der Besitzlosigkeit
Zum Beleg seiner Positionen greift Dronke auf statistisches Material und auf investigative Recherchen zurück. Im Mindesten ist sein Buch heute noch von großem historischem Interesse, weil es eine detaillierte Analyse der damaligen Verhältnisse präsentiert. Aber, wie schon angemerkt, lassen sich manche seiner Kritikpunkte durchaus auf die gegenwärtige Gesellschaft beziehen. Dronke spricht etwa vom "Verbrechen der Besitzlosigkeit", das die Armen in den Augen der preußischen Polizei begingen.
Auch heute in der liberalen Meritokratie sind die sogenannten Abgehängten der Gesellschaft mit einem Stigma behaftet – dem Stigma, dass sie es nicht aus eigener Kraft geschafft haben, für eine Besserung ihrer Verhältnisse zu sorgen. Weil sie zu ungebildet, zu unflexibel oder insgesamt zu faul seien. Angesichts einer strukturellen Arbeitslosigkeit, zahlreichen Unternehmenspleiten und ständigen Massenentlassungen bei Großunternehmen kann das so pauschal kaum stimmen. Auch seine Kritik am Liberalismus kann man nahezu unverändert auf neoliberale Ideologen beziehen:
"Im ganzen flößt der Anblick dieses heuchlerischen Prinzips des Liberalismus, welcher sich auf die Rechte des Volkes beruft und selbst die Plünderung der Menschenrechte ist, nur den vollständigsten Widerwillen ein. (...) Die Männer dieser Partei tragen sämtlich das Gepräge der Hohlheit ihres Prinzips. Ihre Waffe ist die Phrase, da der Liberalismus von dem wahren Rechtsbegriff, dem Recht aller, keinen Verstand hat."
Angebliches Interesse der Mehrheit
Heute gelten so viele Entschlüsse als "alternativlos", sie sind es angeblich im Interesse der Mehrheit, obwohl die Konsequenz bittere Einschnitte für die Meisten bedeutet; vor allem für jene, die nicht über die Entscheidungsgewalt verfügten. Die Phrasen, mit denen solche Beschlüsse flankiert werden, hat die Bevölkerung längst als faulen Zauber durchschaut – das nennt man aktuell die Krise der Repräsentation. Man sieht, Parallelen existieren – wie so oft.
Geschichte ist schließlich dazu da, dass man aus ihr lernt. Ernst Dronkes Buch gibt dazu einen guten Anstoß. Der Anderen Bibliothek ist dafür zu danken, dass sie dieses wichtige Dokument aus der Vergessenheit zu befreien versucht. Der Band ist überaus aufwändig gedruckt und gestaltet und daher seinen hohen Preis wert. Zahlreiche zeitgenössische Illustrationen veranschaulichen und kontextualisieren zudem Dronkes Argumentation in sinnfälliger Weise. Dieses Buch ist eine empfehlenswerte Anschaffung.
Enno Stahl über Ernst Dronke: "Berlin"
Die Andere Bibliothek, Berlin. 415 Seiten, 58 Euro.