"Der Schablone nach müßte Ernst Jünger zur Prominenz des Dritten Reiches gehört haben und ihr Komplice geworden sein. Er war ein "völkisch" profilierter Sprecher der "Frontgeneration". 1925 hatte Jünger erklärt, der Tag, an dem die nationale Diktatur ausgerufen werden werde, "wird unser Festtag sein!" Aber das Jahr 1933 ist nicht Jüngers Festtag geworden, sondern vielmehr der Tag der Besinnung, der Ernüchterung, der Sammlung. Der Scheideweg lag damals nicht zwischen rechts und links, war keine Frage von radikal oder konservativ, sondern lediglich eine Frage des Charakters und der menschlichen Haltung.""
Mit diesem Zeugnis adelte der jüdische Historiker Joseph Wulf den ehemals rechtskonservativen Revolutionär Ernst Jünger als noblen Charakter. Für Wulf verkörperte Jünger das Modell und die Möglichkeit einer "inneren Emigration" im Dritten Reich. Denn Jünger sagte 1933 Nein zu Hitler. Während der avantgardistische Lyriker Gottfried Benn die Leitung der gleichgeschalteten Berliner Dichterakademie übernahm, weigerte sich Jünger, ihr beizutreten. Während der Philosoph Martin Heidegger noch das Rektorat an der Freiburger Universität im radikalen Sinn von Hitlers Führerprinzip ausübte, verwahrte sich Jünger davor, im "Völkischen Beobachter" abgedruckt zu werden. Und 1942 bekundete Jünger im Tagebuch seine Scham, als er in Paris das erste Mal ein Mädchen mit einem gelben Stern auf der Straße gehen sah. Dort, im Tagebuch, bezeugte Jünger auch Deportationen und "Vergasungen" von Juden. Wulf nennt das Jüngers Humanismus.
"Der Scheideweg lag damals nicht zwischen rechts und links, war keine Frage von radikal oder konservativ, sondern lediglich eine Frage des Charakters und der menschlichen Haltung."
Ernst Jünger als Humanist
Wulf sprach mit diesen Worten Jünger als fast einzigen der im Reich gebliebenen deutschen Schriftsteller von jeder Mitschuld an den NS-Verbrechen frei. Und zwar in seinem Dokumentarband über die Beteiligung von Literaten am NS- Regime, der 1963 unter dem Titel "Literatur und Dichtung im Dritten Reich" erschienen ist. Dieses Buch schickte Wulf nach Wilflingen, wo Jünger in seinem Oberforsthaus lesen konnte, dass er sich als heroischer Humanist erwies. Wulf lobte Jüngers "leidenschaftliches Menschentum", und Jünger las es gern. Und er bedankte sich beim Autor. Nachzulesen im Briefwechsel, der jetzt im Verlag Klostermann erschienen ist. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft mit beschränkter Haftung, die bis zum Suizid von Joseph Wulf im Jahr 1974 andauerte.
Wulf unternahm bereits 1963 eine "Pilgerfahrt", wie er es nannte, zu Jünger gen Wilflingen im Saulgau in Oberschwaben. Und Jünger besuchte Wulf sogar dreimal in dessen Wohnung in der Berliner Giesebrechtstraße. Die Ehefrauen wurden mit einbezogen. Fotos von den Begegnungen in Berlin sind im Briefwechsel abgedruckt. Eins zeigt Beide im Dreiteiler mit Schlips und im weißen Hemd. Jünger lächelt freundlich, Wulf schaut durch seine dicke Brille ernsthafter drein, hält aber die linke Hand lässig in der Hosentasche. Man steht vor einer Bücherwand und gibt sich nachdenkend. Beide schauen sich direkt in die Augen.
Und doch wurde es kein Dialog auf Augenhöhe. Auch wenn Wulf Jüngers Anerkennung erheischte und am Briefende "von Haus zu Haus" grüßte. Auch wenn Jünger um die Gesundheit von Wulf besorgt war und ihn ermahnte, doch nicht zu viel zu rauchen. Da war eine Unwucht. Wulf wollte etwas von Jünger. Er hatte ein Anliegen. Er hatte nie Geschichte studiert und suchte Anerkennung, denn er wurde von der akademischen Historikerzunft im Abseits gehalten und vom Feuilleton geschnitten.
Ein Jude im Widerstand
Joseph Wulf wurde 1912 in Chemnitz geboren. Bereits 1917 zog die wohlhabende Familie zurück nach Krakau. Der Sohn konnte sich freien Studien hingeben. Er interessierte sich für die ostjüdische Tradition des Chassidismus und verstand sich zeitlebens als osteuropäischer "Schicksalsjude". 1941 ging er in den jüdischen Untergrund, 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und kam nach Auschwitz. Auf einem Todesmarsch gelang ihm die Flucht. Seine Frau und sein Sohn konnten sich bei einem polnischen Bauern verstecken.
Seinem Brieffreund Jünger verkündete Joseph Wulf 1965 sein Credo:
"Mein Gott ist der Mensch. Das lernte ich auf meinen Universitäten: Ghettos, ein Monat im Gestapo-Gefängnis und in zwei Jahren Auschwitz. Einen Menschen tatsächlich zu retten oder ihm zu helfen, ist viel wichtiger, als jede Meditation über die Rettung einer anonymen Menschheit."
1950 ging Wulf nach Berlin, wo er bis zu seinem Selbstmord 1974 zahlreiche Dokumentationen über die NS- Verbrecher und ihre Helfer veröffentlichte. Aber er fand dafür nur wenig Anerkennung in der deutschen Öffentlichkeit, die damals die NS-Verbrechen weitgehend verdrängte.
Jünger wurde hingegen nach 1945 viel Aufmerksamkeit zuteil, indessen auch angefeindet. Thomas Mann nannte ihn einen "geistigen Wegbereiter und Genüßling des Barbarismus". Der Kritiker Fritz J. Raddatz empfand Jüngers Werke als Kitsch in der "Emmy-Göring-Loge". Und man sah Jünger, wie er in Paris als Sieger der Wehrmacht die Abende in den Salons genoss und sein Burgunderglas schwenkte. Aber Jünger erhielt gerade über den Umweg von Frankreich, wo er bis heute viel gelesen und gerühmt wird, später in Deutschland zahlreiche Ehrungen. Das ist die Unwucht: Jünger stellte nach 1945 weiterhin seine souveräne Haltung eines preußischen Offiziers aus, seine "salamandrische Ruhe", während Wulf um Hilfe bat und hilflos blieb.
Das zeigt auch der Briefwechsel. Jünger antwortete meistens knapp, während Wulf seine Anfragen höflich und umständlich formulierte. Wenn Wulf Jünger etwa um eine Stellungnahme zu dessen Brieffreunden Gottfried Benn, Martin Heidegger und dem "unerträglichen" NS- Kronjuristen Carl Schmitt aufforderte, wich Jünger einfach aus.
Doch Wulf hakte immer wieder nach:
"Lieber Herr Jünger,
Ich lese Ihre Schriften wie die Poesie eines Rimbaud oder Valéry, finde darin aber nichts von der beklemmenden und abgründigen Realität der Hitler-Ära, in der sich Philosophen und Dichter wie kleine, naive und unwissende Kinder benahmen. Auf Ihre Antwort bin ich höchst gespannt."
Ich lese Ihre Schriften wie die Poesie eines Rimbaud oder Valéry, finde darin aber nichts von der beklemmenden und abgründigen Realität der Hitler-Ära, in der sich Philosophen und Dichter wie kleine, naive und unwissende Kinder benahmen. Auf Ihre Antwort bin ich höchst gespannt."
"Nach 1945 brachte ein Volk von der Größe und Stärke Deutschlands lediglich eine Wirtschaftskapazität hervor, wo aber ist sein intellektuelles und mannhaft offenes Credo? Als sei nichts geschehen, wird über alles geschwiegen."
"Besten Dank für Ihre Zeichen vom 10. Januar 1965. Die Beantwortung Ihrer Fragen müßte Bücher füllen; es mag Ihnen genügen, daß ich in der Beurteilung der Schandtaten mit Ihnen einig bin. Ich habe daraus auch nie einen Hehl gemacht, besonders dann nicht, als es hochgefährlich war.
Bitte grüßen Sie auch die Gattin."
Bitte grüßen Sie auch die Gattin."
Jünger weicht aus
Jünger vermeidet das Credo. Er scheut die Analyse. Er wimmelt ab. Seine Haltung soll für ihn sprechen. Er kann auf seine Nähe zum Widerstand von führenden Militärs gegen Hitler verweisen. Als er von 1941 bis 44 im Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich war, wusste er von den Plänen eines Attentats auf Hitler, wollte aber nicht mit hinein gezogen werden. Er hätte seine Schrift "Der Frieden" erwähnen können, die er damals verfasste und die das Todesurteil bedeutet hätte, wenn die Gestapo sie in seinem Pariser Safe entdeckt hätte. In dieser Schrift gab Jünger Berichte über die Vernichtungslager weiter. Er schaute hin, nicht weg. Und er urteilte in dieser "Friedensschrift":
"Diese Mordhöhlen werden auf fernste Zeiten im Gedächtnis der Menschheit haften… hier bleiben nur Trauer und Demut. Und keiner kann sich der Mitschuld entziehen."
Wulf kannte diese Schrift und verteidigte deshalb Jünger öffentlich, als der in der Presse kritisiert wurde. Jünger bedankte sich brav aber nicht öffentlich.
Wulf legte jedoch auch den Finger auf die Wunde Jüngers, auf seine Schriften aus der Weimarer Republik. Als Jünger der Wortführer der Sturmtrupps des Ersten Weltkriegs war und in seinen Schriften "In Stahlgewittern" und "Wäldchen 125" zum Schleifen der Weimarer Republik beitrug. Aber Jünger wollte nicht an seine militaristischen Kampf- und Hetzschriften der Weimarer Zeit erinnert werden. Er vermied die Konfrontation mit der eigenen nationalistischen, konservativ-revolutionären Vergangenheit. Er sonnte sich viel lieber in der "Wertschätzung" seines Wandels zum "heroischen Humanisten" seit 1933, die ihm durch den Juden Joseph Wulf zuteilwurde.
Ein Denkmal für Joseph Wulf
Dieser Briefwechsel zeigt zwei unterschiedliche Einzelkämpfer. Der eine, Wulf, im Widerstand gegen die NS- Herrschaft und als missachteter Historiker des Nazismus. Der andere, Jünger, als privilegierter Zeitzeuge im Innern des Leviathans, der Wehrmacht. "Beide, nach Art und Herkunft so verschieden", begegneten sich durch ihre Briefe, "im Humanen". Wie Jünger schrieb.
Der gut kommentierte Briefwechsel wirft Licht und Schatten auf Ernst Jünger, aber vor allem Licht auf Joseph Wulf. Der Überlebende von Auschwitz war der erste Chronist des Holocaust. Er dokumentierte als Erster die Mitschuld der Dichter und Denker, der Musiker und Künstler sowie der Generäle an den NS- Verbrechen. Von diesen Büchern konnte er nicht leben. Sondern von seinem – schwindenden - Erbe und vom Rundfunk. Als 1970 seine Frau starb, seine wichtigste Stütze, und die Aufträge vom Rundfunk zurückgingen, fühlte er sich zunehmend isoliert und verzweifelt. Am 10. Oktober 1974 stürzte er sich aus dem Fenster seiner Berliner Mietwohnung im vierten Stock der Giesebrechtstraße Nr. 12.
Joseph Wulf erhält durch diese Publikation ein spätes Denkmal.
"Ernst Jünger – Joseph Wulf: Der Briefwechsel 1962-1974"
Herausgegeben von Anja Keith und Detlev Schöttker
Klostermann Verlag, Frankfurt am Main. 168 Seiten, 29.80 Euro.
Herausgegeben von Anja Keith und Detlev Schöttker
Klostermann Verlag, Frankfurt am Main. 168 Seiten, 29.80 Euro.