Der 1890 in Brünn geborene mährisch-österreichische Jude Ernst Lothar war ein erfolgreicher Autor, vor allem aber auch ein "Wiener Wunderwuzzi, eine Größe des Kulturbetriebs". Von Stefan Zweig ermutigt, in "Akten zu dichten", ruft er – von seiner Stelle im Handelsministerium aus – die ‚Salzburger Festspiele‘ ins Leben. Mit erst 34 zum Hofrat ernannt, wird er bald Burgtheaterkritiker der ‚Neuen Freien Presse‘ und schließlich, auf Wunsch des großen Max Reinhardt, Direktor des Theaters in der Wiener Josefstadt. "Hitler kommt nie", kann man noch kurz vor dem sogenannten "Anschluss" in Gesprächen hören, Gesprächen, die sich zwar "leidenschaftlich erhitzen", aber kaum die Politik streifen, denn für Politik interessieren sich die Österreicher weder besonders, noch sind sie besonders dafür begabt – wie sich Lothar erinnert. Es sollte sich rächen.
"Hitler kommt nie"
Wenige Tage, bevor er dann doch kommt, und Österreich zur "Ostmark" des Deutschen Reiches wird, nimmt ein wohlwollend strahlender Staats-Funktionär Ernst Lothar auf einem Ball beiseite und lobt dessen Schauspielkritiken im Radio in den höchsten Tönen – doch Charme zu zeigen und Tücke zu haben, ist eine österreichische Un-Tugend: noch tags zuvor hat derselbe Mann Weisung erteilt, Lothar den Pass "im gegebenen Augenblick" unverzüglich abzunehmen. Und vergisst auch nicht, sich später bei der Sekretärin im Theater zu erkundigen, ob der Jude nun endlich "im Lager" sei. Doch dem Schriftsteller ist, zusammen mit seiner Tochter aus erster Ehe, Hansi, unter dramatischen Umständen die Flucht gelungen. Lothars Ehefrau wiederum, die Schauspielerin Adrienne Gessner, gibt ihre heimische Karriere auf und folgt den beiden auf Umwegen nach.
Im Exil zunächst bettelarm, denken Lothar und seine Frau in ihrer Verzweiflung ernsthaft an Selbstmord. Doch dann wird ihm das Glück des Erfolgs zuteil. 1943 sitzt er mit Franz Werfel, dem Schriftstellerkollegen, wie Lothar 1890 geboren, wie er Emigrant und österreichischer Jude aus der späteren Tschechoslowakei, genauer: aus Prag, in einem New Yorker Restaurant zusammen – da stürmt Werfel hinaus, um sich die ‚New York Times‘ zu besorgen, die an diesem Tag ihre Bestseller-Liste veröffentlicht. Wieder zurückgekehrt, blättert er nervös die Zeitung auf.
"Jäh zeigte sich das Lächeln wieder, das ihm vergangen war. `Bist du darauf?´, fragte ich. `Du auch´, antwortete er und schob mir triumphierend die zwei Blätter hin. Dort stand, als vierter von oben, mein Name, daneben der Titel: Beneath another sun. Und darunter, als siebenter von oben, Werfels Name, daneben: The song of Bernadette. Wie ein Kind freute er sich, nein, wie ein Bruder, er ließ Champagner kommen, stieß glücklich mit mir an …"
Werfels ‚Das Lied von Bernadette‘ ist allerdings ein noch immer berühmtes Buch, anders als ‚Unter anderer Sonne‘, Lothars Südtirol-Roman. Dennoch bricht seine Glückssträhne in den Vereinigten Staaten nicht mehr ab. Vor allem sein Roman ‚Der Engel mit der Posaune‘ von 1944 findet großen Widerhall, erst in den USA, später aber auch in der Heimat, wo das beeindruckende Buch 1948 von Karl Hartl mit Paula Wessely, Attila Hörbiger und der jungen Maria Schell verfilmt wird. Lothar gehörte zu den wenigen "europäischen Autoren, dessen Erzählstil bei englischsprechenden Lesern Anklang fand", wie Eva Menasse in ihrem Nachwort zur Neuauflage von ‚Der Engel mit der Posaune‘ berichtet.
Lothars Autobiographie erlaubt nun aber noch einen ganz anderen Zugang zu seinem interessanten literarischen Werk. Zwar streifen die Romane gelegentlich ans Kolportagehafte. Aber damit kommt der Emigrant, der allein in sieben Exiljahren fünf Romane – von insgesamt sechzehn – verfasste, seinem ästhetischen Credo nach. Explizit will er der "Forderung des Tages", nicht der "Forderung der Dauer", genügen, und ein "österreichischer Propagandist im Roman" sein.
"Österreichischer Propagandist im Roman"
Was aber treibt den jüdischen Emigranten dazu, sich als Propagandisten Österreichs zu verstehen? Warum will er in seinem als "farbiger Bilderbogen" angelegten Roman ‚Der Engel mit der Posaune‘ anhand eines Wiener Hauses und der über mehrere Generationen reichenden Geschichte seiner Bewohner den Amerikanern das "Haus Österreich" erklären?
Diese Absicht geht auf eine Verlusterfahrung zurück, die wiederum nicht nur von zeithistorischem, sondern von ganz aktuellem Interesse ist. Die Autobiographie beginnt recht eigentlich mit ihr, nicht mit der überaus kursorisch abgehandelten Kindheit oder dem Dienst im Dragonerregiment No. 6 während des Ersten Weltkriegs, über den sie überhaupt kein Wort verliert. Etwas mehr erfährt der Leser über Lothars Arbeit als Staatsanwaltsgehilfe im "Hinterland", nachdem er für "kriegsunfähig" erklärt worden ist. Doch der Autor eilt geradezu auf den Verlust zu, der sein weiteres Leben bestimmen wird. Er ist mittlerweile 24, die Autobiographie gerade erst auf Seite 29 angekommen, da heißt es:
"Der Tag, an dem Österreich-Ungarn unterging, traf mich wie Unzählige ins Herz. Wir wussten mit schneidender Klarheit: Etwas Unersetzliches war gestorben, dessengleichen nicht wiederkam.
Denn was da unterging, war eine Macht und Herrlichkeit ohne Beispiel gewesen … Auf ein Achtel war ein Reich reduziert worden, worin ein kleines Universum Platz gefunden hatte: das Meer und die Steppe, die Gletscher und die Kornfelder, der Süden, der Westen und der Osten, das Deutsche, das Romanische, das mannigfach Slawische, das Magyarische, ja das Türkische – die Vereinigten Staaten von Europa, hier existierten sie seit Menschenaltern, obschon sie heute noch nirgendwo anders zum Zusammenleben gebracht werden konnten. Und die Hundertfalt dieses einen Reiches, seiner Sprachen, Kulturen, Temperamente, die aus diametralen Gegensätzen leuchtend gemischte Farbe, gab es nur hier."
Denn was da unterging, war eine Macht und Herrlichkeit ohne Beispiel gewesen … Auf ein Achtel war ein Reich reduziert worden, worin ein kleines Universum Platz gefunden hatte: das Meer und die Steppe, die Gletscher und die Kornfelder, der Süden, der Westen und der Osten, das Deutsche, das Romanische, das mannigfach Slawische, das Magyarische, ja das Türkische – die Vereinigten Staaten von Europa, hier existierten sie seit Menschenaltern, obschon sie heute noch nirgendwo anders zum Zusammenleben gebracht werden konnten. Und die Hundertfalt dieses einen Reiches, seiner Sprachen, Kulturen, Temperamente, die aus diametralen Gegensätzen leuchtend gemischte Farbe, gab es nur hier."
Mit dieser Verlustanzeige des Vielvölkerreichs, "aus dem im besten, leider weit verfehlten Fall die `Vereinigten Staaten von Europa´ hätten werden können", wie Eva Menasse meint, muss sich der Leser automatisch an beileibe nicht unbegründete Ängste vor dem Zerfall der Europäischen Union erinnert fühlen. Der Eindruck, in der Vergangenheit die Zukunft zu erblicken, dürfte aber schon Pate für das Revival der Autobiographie Stefan Zweigs, ‚Die Welt von gestern‘, gestanden haben. Zweigs "Erinnerungen eines Europäers" sind geradezu wieder in Mode gekommen, nicht nur, weil sie ohne Nostalgie von der schon legendären "Welt der Sicherheit" vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs berichten. Sondern vor allem, weil sie, wie in einem fernen Spiegel, ihr Scheitern erzählen.
Beide Autoren stimmen darin überein, dass niemand im K.u.K-Reich einen Krieg erwartete. "Meiner Generation war der Begriff Krieg abhandengekommen", schreibt Lothar. Der Krieg sei auch deshalb ausgebrochen, sekundiert Zweig, weil "nach fast einem halben Jahrhundert des Friedens, die großen Massen vom Kriege" kaum noch etwas gewusst hätten. Wie heute – mag der Leser denken.
Besuch beim Doktor Freud
Doch in der Folge beschreiten sie gänzlich unterschiedliche Wege. Lothars Trauma, das Ende der Doppelmonarchie, das sich zu einem Patriotismus von "pathologischen" Ausmaßen entwickelt, führt zum Besuch des von ihm verehrten Sigmund Freud. Verspricht er sich Heilung von seiner übersteigerten Heimatliebe? Dieser Besuch ist die frühe "Schlüsselszene" der Autobiographie, wie Daniel Kehlmann im Nachwort erkennt, an der sich, nicht zuletzt, Lothars schriftstellerische Begabung zeigt. Freud empfängt den jungen Mann in einer typisch österreichischen Ärztewohnung und sieht wie ein "typisch österreichischer Arzt aus – doch dann geschieht etwas gänzlich Untypisches mit Freuds Augen:
"Sie erhielten Licht von innen. Da saß dieser Mann am Schreibtisch und machte eine Röntgenaufnahme der Seele mit nichts als seinen Augen. … Ich fragte: `Wie kann man ohne das Land leben, für das man gelebt hat?´ Er hatte, offenbar anderes erwartend, etwas aufgeschrieben, das strich er durch. `Dass Ihre Frau Mutter gestorben ist, hat mich bewegt´, sagte er. `Wie lang ist das jetzt her?´ Es waren fünf Monate. `Und Sie leben weiter. Die Mutter ist die Heimat, die man hat. Dass man ohne sie weiterlebt, ist eine biologische Tatsache, weil die Mutter vor den Kindern stirbt.´ Er verfehlte den beabsichtigten Eindruck. Da Österreich ihn ungebührlich behandelt, dachte ich zu spät, bedeutet Österreich ihm nichts. Eine falschere Adresse kann es für mich nicht geben! Da sagte er: `Zu einem bestimmten Zeitpunkt verwaist jeder Erwachsene. Das Land gibt es nicht mehr, sagen Sie. Vielleicht hat es das Land, das Sie meinen, nie gegeben, und wir haben uns darüber hinweggetäuscht. Das Sich-hinwegtäuschen-Müssen ist auch eine biologische Tatsache.´ …`In Österreich habe ich mich nicht getäuscht! Es ist das einzige Land, wo ich leben kann!", beharrte ich. `In wie vielen Ländern haben Sie schon gelebt?", fragte er, `seien Sie nicht ungehalten, ich will Ihnen helfen. … Erst vor wenigen Tagen, am 11. November, als es, wie Sie sagten, das Land nicht mehr gab, habe ich mir Folgendes notiert´. Er nahm Papiere aus der Schreibtischschublade, las: `Österreich-Ungarn ist nicht mehr. Anderswo möchte ich nicht leben. Emigration kommt für mich nicht in Frage. Ich werde mit dem Torso weiterleben und mir einbilden, dass es das Ganze ist. … Es ist ein Land, über das man sich zu Tode ärgert und wo man trotzdem sterben will´"
Eine großartige Passage. Da ist zum einen die tragisch falsche Prophezeiung Freuds, der in der Emigration und nicht in Österreich sterben wird. Doch darauf weist auch Lothar hin. Was ihm zu unterlaufen scheint, ist hingegen die Gleichgültigkeit, mit der er sich über den von Freud erwähnten Tod seiner Mutter hinwegsetzt. Gerade mal vor fünf Monaten ist sie gestorben. Aber Lothar leidet nur am Untergang der K.u.K.-Welt, an die er "unverbrüchlich" geglaubt hat.
Heimatland an Mutterstelle
Nun mag dem Patienten Lothar im Sprechzimmer des Doktor Freud seine Indifferenz gegenüber dem Tod der Mutter entgangen sein – dem Autor entgeht sie mit Sicherheit nicht. Früh äußert er Zweifel am autobiographischen Schreiben, dem er sich gerade unterzieht, denn man sei "mit sich ja ebenso schlecht bekannt wie nachsichtig." Das heißt, er ist zu text-klug, um nicht zu wissen, was er da tut: Die Heimat nimmt bei Lothar Mutterstelle ein. Oder auch: Die Mutter ist Symbol für die Kindheit in Mähren und die nationalen Zentrifugalkräfte, an denen das Habsburger Reich zerbrechen muss – nicht zufällig erzählt der allererste Absatz des Buches von einer Demonstration der Tschechen für ihre Rechte. Oder stärker noch: Die Mutter symbolisiert die jüdische Herkunft, die hinter der österreichischen zurückstehen soll. Doch gerade diese jüdische Herkunft wird für Lothars Ausschluss aus der heimatlichen "Volksgemeinschaft" sorgen. Und wenn sein Bruder Robert später in Riga von den Nazis ermordet wird, gelingt auch ihm selbst die Flucht aus dem plötzlich tiefbraunen Österreich nur um ein Haar.
"Als ich zum Wagen zurückwollte, schrillte das Telefon … `Bitte, noch einen Moment´, ersuchte mich der Gendarm, nachdem er den Hörer abgenommen und geantwortet hatte. …`Ein Überfallkommando der SA kommt von Landeck herauf´, sagte er geringschätzig. `Nehmen S’so lang Platz.´ Das Ganze hatte kaum zwei Minuten beansprucht. `Was will die SA von mir?´ fragte ich – eine der völlig sinnlosen Fragen, wie man in hoffnungslosen Fällen den Arzt fragt: `Besteht eine Hoffnung?´ … Ein Überfallkommando der SA gegen zwei Männer und eine Zwanzigjährige – man konnte sich die Antwort selber geben. … `Jetzt san s’da!´ sagte der Gendarm. Und er schaute mit einem Blick vom Buche auf, als täte ich ihm leid. Sie waren da, es stimmte alles, sie hatten die rohen Gesichter, die rüden Manieren, den Totschläger-Slang, die ich erwartete. Ihr Anführer fragte, ohne von mir Notiz zu nehmen, den Gendarmen: `Ist der Wagen untersucht worden?´ Da es der Fall nicht war. beorderte er vier seiner Leute: `Hinunter! Leibesvisitation! Jeden Koffer aufmachen! … Wenn die nur an Pfennig Valuta mithab’n, g’hört der Wagen uns.´ Mit einem Mal war mir klar, worum es hier ging – keineswegs um mich, sondern um den neuen Wagen! … Von dort, wo ich stand, sah ich die Straße, vier Männer umringten Hansi und den Fahrer, zwei von ihnen waren im Begriff, Hansi die Kleider vom Leib zu reißen. Sie hatte ihr Gesicht zum Fenster erhoben, hinter dem ich stand; kein Blutstropfen war in Hansis Gesicht. Mit der einen Hand klammerte sie ihre Bluse fest, mit der anderen wehrte sie sich verzweifelt gegen die Männer. `Sie können den Wagen haben´, sagte ich zu dem Anführer, `lassen Sie meine Tochter los!´ `Loslassen!´ brüllte der Mann aus dem Fenster. Die Leute unten gaben Hansi frei. Minuten später waren wir handelseins …"
Zwar behauptet der Flüchtling:
"Den Vorrang, den jene Räuber für ihresgleichen in Anspruch nahmen, das Zur-Heimat-Gehören, hatte ich bis zur Hörigkeit besessen … Ein Zuschauer bei einer Operation, sah ich mir zu, als ich mir Stück um Stück die Liebe meines Lebens aus dem Leibe riss."
Doch in Wahrheit kann er sich, obwohl kein blinder Liebhaber, von dieser "Liebe seines Lebens" zu keinem Zeitpunkt trennen. Selbst, als er die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Von Anfang an plagt ihn der Zweifel, ob er seiner neuen Heimat gegenüber loyal sein kann. Es ist ein Widerspruch, der Lothar zerreißt. So wie es auch die Sehnsucht nach der alten Heimat tut. Der er, bei Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, gleich zur Hilfe eilt. Zusammen mit anderen österreichischen Persönlichkeiten im Exil erklärt er öffentlich, Österreich befinde sich mit den Alliierten gar nicht im Krieg, weil es 1938 überfallen, mundtot gemacht und seiner Handlungsfreiheit beraubt worden sei. Schon mit diesem Manifest tritt die bequeme Legende, Österreich sei stets nur ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen, ihren Siegeszug an.
Klägliches Scheitern
So ist es auch keine gute Idee der Besatzungsmacht, Ernst Lothar als für die Entnazifizierung im Kulturbereich zuständigen Offizier in sein so lang entbehrtes Wien zu schicken. Um Vergeltung zu üben, ist er viel zu anständig. Überhaupt möchte er nicht als "Rächer" erscheinen. Dieser gutwillige Mensch will lieber verzeihen und räumt im Zweifel dem professionellen Vermögen den Vorrang vor dem moralischen Versagen ein. Das Verhör des schwer belasteten Wilhelm Furtwängler ist zwei Sätze kurz:
"Er eröffnete es, nicht ich. "Sie wollten mich sprechen?" fragte er. "Danke, dass Sie gekommen sind", antwortete ich. Dabei hatte es sein Bewenden. Auf der Stelle waren wir Freunde geworden und blieben es …"
Ernst Lothar ist zu klug, um nicht einzugestehen, dass kaum eine Aufgabe mangelhafter gelöst worden sei als die Entnazifizierung, von allen Beteiligten, ihn selbst eingeschlossen. Ja, er attestiert sich klägliches Scheitern. Er hat sich auch seine Urteilskraft bewahrt. Über sein geliebtes Österreich heißt es:
"Der Antisemitismus herrscht nach wie vor. Alle wollen die sechs Millionen ermordeter Juden vergessen. Daran erinnert zu werden, gilt als taktlos."
Diese schmerzhafte Einsicht stammt übrigens nicht von 1960, als die Autobiographie erschien. Sie findet sich wortgleich im Roman ‚Die Rückkehr‘ von 1949 wieder. Überhaupt sind Roman und Lebensbericht passagenweise identisch. Vor allem der Konflikt des fiktiven Emigranten zwischen seiner Liebe zur (mörderischen) Heimat und der Loyalität zu dem Land, das ihn rettete, entspricht dem, was Lothar seelisch durchmachte. Mit dem Unterschied, dass Felix von Geldern, der Held in ‚Die Rückkehr‘, nicht "ungeteilt" jüdischer Abstammung und aus politischen Gründen ins Exil gegangen ist. Es scheint, als habe sich Lothar mit diesem Helden einen "Wunsch-Heimkehrer" erschaffen, dessen verzweifelte Heimatliebe glaubhafter wirkt als die eines Juden, dem man sie, im immer noch antisemitischen Österreich, gar nicht zutraut.
Natürlich stieß der stellenweise arg pathetische Roman, dessen "Erregungszustand" allerdings von hoher Authentizität zeugen dürfte, bei seinem Erscheinen vier Jahre nach Kriegsende in Österreich trotzdem auf wenig Begeisterung. Die Autobiographie hingegen verrät, wie Lothars übersteigerter Patriotismus, der aus einer traumatischen Erfahrung hervorging, nämlich dem Zerfall des Vielvölkerreichs, in die Falle des Nationalen führt. So spitzt der zerrissene österreichische Jude im schärfsten Widerspruch zu allen erlittenen Widersprüchen apodiktisch zu:
"Die Heimat legt man nicht ab wie ein Hemd, noch weniger seine Nationalität und am wenigsten seine Rasse."
Lothars Autobiographie malt nicht nur die Vergangenheit als Menetekel an die Wand der Zukunft. Sie liefert auch, gerade in ihren Brüchen, einen Beitrag zu der seit einiger Zeit verdächtigerweise verbreiteten Heimatdebatte. Dabei erinnert schon der Titel daran, dass es einem Wunder gleichkam, wenn er der Auslöschung durch seine Heimat entkam. Ein Wunder auch im Vergleich zum erschütternden Schicksal der Töchter, die beide in jungen Jahren sterben, die achtzehnjährige Agathe noch in Wien, Hansi im amerikanischen Exil.
Dieser zweite Tod veranlasst Lothar zu bemerken: "Es gibt Erlebnisse, die man anständigerweise nicht überleben dürfte. Es ist unmenschlich, zu essen und zu trinken, wenn einem das Nächste starb." Woraufhin der Dirigent Bruno Walter, auch er Emigrant, auch er Vater einer Tochter, die unter tragischen Umständen ums Leben kam, erwidert: "Menschlich ist es. Je mehr es uns kostet, desto menschlicher. Leben ist überleben."
Ernst Lothar: "Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen"
mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann
Paul Zsolnay Verlag, Wien. 464 Seiten, 25 Euro.
mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann
Paul Zsolnay Verlag, Wien. 464 Seiten, 25 Euro.
Ernst Lothar: "Die Rückkehr"
mit einem Nachwort von Doron Rabinovici
Paul Zsolnay Verlag, Wien. 432 Seiten, 26 Euro.
mit einem Nachwort von Doron Rabinovici
Paul Zsolnay Verlag, Wien. 432 Seiten, 26 Euro.
Ernst Lothar: "Der Engel mit der Posaune"
mit einem Nachwort von Eva Menasse
Paul Zsolnay Verlag, Wien. 545 Seiten, 26 Euro.
mit einem Nachwort von Eva Menasse
Paul Zsolnay Verlag, Wien. 545 Seiten, 26 Euro.