Die Musiker sind nicht zu sehen. Die Schlagzeugrhythmen kommen von beiden Seiten der Zuschauertribüne, ebenso aus dem Rücken des Publikums. Die Aufführung beginnt gleich mit einem Raumklangerlebnis, während das Ensemble in einer Reihe vor einem Kontrollpunkt steht. Alle warten brav, bis der Beamte in seinem Häuschen mit einem gnädigen Winken den Zutritt in die Bochumer Jahrhunderthalle gestattet. "Vergangenheit: Die Entstehung der Gewässer und Gebirge" lautet der Titel des ersten Satzes der "Universe Symphony" von Charles Ives. In Christoph Marthalers Inszenierung ist das Universum schon da. Rätselhaft sind die Bilder, offen für verschiedene Interpretationen. Die Texte spielen eine untergeordnete Rolle und stammen zu einem großen Teil vom Lyriker Gerhard Falkner: "Auf meinem Nacken wächst wie auf einem Misthaufen ein ungeheurer Pilz, mit doldentragenden Blumenstielen. In einem unförmigen Möbelstück sitzend habe ich meine Gliedmaßen seit vier Jahrhunderten nicht bewegt."
Schräge Poesie eines experimentierfreudigen Einzelgängers
Es geht um Transformationen, um den Umgang mit Gewalt und Terroranschlägen, die durch bekannte Daten wie den 11. September symbolisiert werden oder auch um ein Gummiding, von dem ein Schauspieler nicht weiß, ob es getackert oder geklebt werden muss. Der skurrile, feinsinnige Humor Marthalers hat finstere Abgründe. Bei aller Leichtigkeit des Spiels geht es um das Ende der Welt. Charles Ives hat in seinem Sinfonieprojekt, an dem er 17 Jahre arbeitete und mit dem er nicht fertig wurde, versucht, die gesamte Geschichte des Universums zu erzählen. Vom Anfang bis zum Ende. Die nahe Apokalypse schwebt über der gesamten Aufführung, das Leben hat sich in Miniaturen aufgelöst. Ein Mann rennt mit seiner Tuba von einem Ende der Halle zur anderen, ein anderer steht versunken auf einem Stahlträger und dirigiert langsam eine Musik, die wahrscheinlich nur er selbst hört, ein Dinosaurier schwebt durch den Raum. Immer wieder führt Marthaler die in sich ruhenden Einzelfiguren zu Tableaus zusammen, Augenblicke der Gemeinschaft, die tröstend wirken und doch flüchtig bleiben.
Vom Sein überfordert
Die gesamte Jahrhunderthalle wird bespielt, nicht wie sonst nur Teile von ihr. Die Bochumer Symphoniker spielen die meiste Zeit in einer für das Publikum nicht einsehbaren Ecke, das Kammerorchester "Rhetoric Project" bewegt sich wie eine marching band im Raum. Dazu kommen zwei Pianisten und mehrere Schlagzeugensembles. Dirigent Titus Engel hat die Leerstellen der "Universe Symphony" mit anderen Werken von Charles Ives ergänzt, die mal ruppig aufeinander stoßen, mal sanft ineinander übergehen. Ein faszinierend vielfältiges Kompendium, voller Anspielungen an europäische wie amerikanische Musiktradition, das in Ives bekanntestes Stück "The unanswered question" als Finale mündet. Ausstatterin Anna Viebrock hat in den riesigen Raum viele Spielflächen gebaut, eine Brücke, Schienen, Kirchenbänke, Kinosessel. "Universe, incomplete" ist ein verzaubernder Abgesang auf die Menschheit.
Alle sind mit dem Sein überfordert, aber sie schaffen immer wieder Augenblicke betörender Schönheit. Charles Ives war ein musikalischer Einzelgänger und Querdenker, er arbeitete zeit seines Lebens als Versicherungsagent, damit seine Musik nicht durch die Gesetze des Marktes korrumpiert wird. Christoph Marthaler scheint einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Seine Kunstwelt lässt sich auch als ein Akt des Widerstands begreifen. Den Zumutungen und dem Wahnsinn der Realität setzt Marthaler Musikalität, Feinnervigkeit und schräge Poesie entgegen, jenseits aller Hoffnung, losgelöst von der Zeit und zugleich ein Meisterwerk des Timings. Eine einzigartige Aufführung, für solche Kreationen wurde die Ruhrtriennale erfunden.