Religionen normieren die Sexualität, die Partnerschaft und das Geschlechterverhältnis. Wie kam es dazu? War die Ordnung immer schon so streng, wie konservative Muslime behaupten? Der islamische Theologe Ali Ghandour hat sich die gesellschaftlichen Realitäten und die gelehrten Debatten vergangener Jahrhunderte angeschaut und sagt: Islamische Gesellschaften waren damals vielfältiger als heute.
Der Islam habe grundsätzlich ein positives Verhältnis zur Sexualität. Kritikern, die seinen Buchtitel "Liebe, Sex und Allah" als Gotteslästerung bezeichnen, hält Ghandour im Interview mit dem Deutschlandfunk entgegen: "Man könnte es als Gotteslästerung betrachten, wenn man ein negatives Bild von Gott hat. Als Monotheist kann man Gott eigentlich nicht wegdenken. Gott ist überall da, er manifestiert sich in allen Facetten dieses Lebens. Auch Sex ist eine Manifestation Gottes. Von daher sehe ich keinen Widerspruch zwischen dem Namen Gottes und dem Sex."
"Ein bisschen Provokation muss sein"
Wenn konservative Muslime das nicht gutheißen könnten, dann sei das ihr Problem. "Ein bisschen Provokation muss sein, Provokation ist ein Mittel zum Nachdenken.", so Ghandour.
Im Gespräch mit Levent Aktoprak zeigt der Theologe auf, dass es in der Vormoderne verschiedene Diskurse gab: Libertinage und Prüderie existierten nebeneinander, zumindest im urbanen Milieu.
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts habe sich daran durch verschiedene Entwicklungen etwas geändert. Ein Grund dafür seien die Kolonialherrschaft und der Import viktorianischen Denkens. Ein weiterer Grund sei die Entstehung von Nationalstaaten. Darüber hinaus habe die Ideologisierung von Religion zu einer Suche nach Eindeutigkeit geführt. All diese Ideen hätten ihren Ursprung im Europa des frühen 19. Jahrhunderts, sie hätten aber in islamisch geprägten Ländern nicht funktioniert. Für die Sexualität bedeutet dies: "Die Kontrolle des Sexuallebens wurde zum Machtinstrument."
Die Ehe als "Sexvertrag"
Aus der Ehe, ursprünglich ein "Sexvertrag" auf Einvernehmlichkeit, wurde ein Unterordnungsverhältnis zu Lasten der Frauen. Homosexualität, die ursprünglich toleriert war, wurde von da an verachtet. Ali Ghandour erklärt: "Den Begriff Homosexualität als Identität kannten die Menschen vor dem 19. Jahrhundert in islamischen Gesellschaften nicht. Liebe zwischen Männern war nicht Gegenstand einer Normierung. Der Koran behandelt den Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern gar nicht."
Homophobie sei ein Import der Kolonialzeit. "Im 19. Jahrhundert haben die Gesetze der Engländer und Franzosen, die Kategorisierung als Krankheit, dazu geführt, dass die betroffenen Menschen immer mehr verfolgt wurden. Zuvor gab es im islamischen Diskurs beide Positionen: Strafe und Nicht-Strafe. Zuvor war zumindest in der städtischen Gesellschaft gleichgeschlechtliche Liebe fast normalisiert."
Mit seinem Buch wolle er in zwei Richtungen aufklären: zum einen widerspreche er konservativen und radikal-islamischen Positionen, zum anderen Islamkritikerinnen und -kritikern. "Beide Lager vertreten ein ahistorisches Bild und ein nicht-wissenschaftliches Verständnis dieser Religion."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ali Ghandour: "Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime"
C.H. Beck, München 2019, 218 Seiten. 16,95 Euro.
C.H. Beck, München 2019, 218 Seiten. 16,95 Euro.