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Erotische Literatur
Sex, Macht, Emanzipation

Quickie auf der Clubtoilette und Blowjob im Zahnarztstuhl: In ihren autofiktionalen Romanen schreiben Anna Gien und Marlene Stark sowie Corinna T. Sievers über Sex. Dabei finden sie nicht immer die angemessenen Worte, um von einem lustvollen, selbstbestimmten und emanzipatorischen Akt zu erzählen.

Von Miriam Zeh |
Buchcover links: Anna Gien/Marlene Stark: „M“, Buchcover rechts: Corinna T. Sievers: „Vor der Flut“
Corinna T. Sievers, Anna Gien, Marlene Stark und die erotische Literatur (Buchcover links: Mattes & Seitz Verlag, Buchcover rechts: Frankfurter Verlagsanstalt, Hintergrund: Gerda Bergs)
Mit einer gewissen Regelmäßigkeit wird im deutschen Feuilleton behauptet, Autorinnen hätten nun endlich eine weiblich-erotische Stimme gefunden. Endlich könnten sie gleichberechtigt mit ihren männlichen Kollegen über Sex und über Lust schreiben. Das stimmt nicht so ganz. Autorinnen haben immer schon geschrieben, und zwar auch erotisch, frivol oder pornographisch. Von der lesbischen Barockautorin Sybilla Schwarz bis zur erwachenden Lust bei Madame de Lafayette und George Sands, von den sexuellen Aventuren Franziska von Reventlows bis zu Anaïs Nin, Elfriede Jelinek und Charlotte Roche findet sich in der westlichen Literaturgeschichte eine lange Tradition erotischen und weiblichen Schreibens.
Nur waren und sind Frauen eben auch in der Literatur weniger sichtbar als Männer, werden etwa seltener kanonisiert. Und es verknüpft sich mit der sexuellen Freizügigkeit von Frauen seit jeher ein Unbehagen, deren Macht man abzuschwächen versucht, indem man weibliche Lust als bloße Provokation abtut. Die Behauptung, dass eine Autorin mit ihren Sexszenen in erster Linie provoziert, setzt ihr Schreiben in einen unlösbaren kausalen Bezug zum Mann.
Schließlich kann erst an der männlichen Reaktion auf das Verhalten und auf das Schreiben einer Autorin abgelesen werden, wie provokativ sie nun sein soll. Jahrhundertelang rechtfertigte diese Argumentation Gewalt gegen Frauen und wertete weiblich-erotische Literatur ab. Selbst heute muss eine Autorin, die in aller Deutlichkeit über Sex schreibt, mit Gegenwind rechnen und mit dem Vorwurf, nur provozieren zu wollen.
Zwischen Satire und Provokationspose
Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass Anna Gien und Marlene Stark, beide um die 30 Jahre alt, ihren pornographisch-autofiktionale Roman "M." so schulterzuckend zur Provokationspose verkommen lassen. Vordergründig schreibt das Autorinnen-Duo eine Satire auf die Berliner Kunstszene – mit Beobachtungen allerdings, die sich auf Allgemeinschauplätzen ausruhen, und mit Sätzen, die man so oder so ähnlich schon allzu oft gehört hat. "Zeitgenössische Kunst macht keine Vorschläge. Das ist gut, denn es gibt nichts, dem widersprochen werden will. Wir sind alle da und alle dafür."
Weit ausführlicher als diesem plumpen Gemotze über Gegenwartskunst und ihren Betrieb, von dem die Autorinnen freilich ein Teil sind, wird sich dem Sexleben der Protagonistin M. gewidmet. Nach dem Kunststudium in Berlin und einem kurzen Hype um die attraktive Newcomerin, lief M.s künstlerische Karriere bald ins Leere. Nun verdient sie ihren Lebensunterhalt als DJane in heruntergekommenen Clubs und penetriert in verbittertem Zynismus den Kunstbetrieb. Der tagebuchartig geradeaus erzählte Roman "M." dokumentiert detailreich, wie seine Hauptfigur mit umgeschnallter Penisprothese die After von mächtigen Männern aus der Kunstszene durchpflügt. Psychologische Finesse interessiert dabei kaum. Hier geht es um Drastik und um den objektivierenden Blick auf sich selbst und auf die sexuellen Gespielen.
Freizügiges Schreiben über Sex
Als der eigens vollzogene Beischlaf M. nicht mehr ausreichend befriedigt, erklärt sie einen Gruppenchat unter Freunden zur diktatorisch von ihr selbst regierten Sextauschbörse. M. allein bestimmt darüber, welche ihrer Freunde miteinander schlafen müssen. Doch auch dieses perverse Spiel läuft sich – voraussehbarer Weise – bald müde. Damit wird erneut deutlich, woran dieser Roman krankt: Die Autorinnen Gien und Stark finden keinen eigenen Ausdruck für die Gedanken und Handlungen ihrer Hauptfigur. M.s Sexualakte bleiben sprachlich innerhalb jener Pornokategorien gefangen, wie man sie auf einschlägigen Websites aufgelistet findet.
Auch die schablonenhaften Skripte, nach denen die schnellen Nummern auf der Clubtoilette, im Darkroom oder auf schmutzigen Matratzen ablaufen, scheinen eher von Männerfantasien zusammengereimt worden zu sein. Dass im Text selbst diese sexuelle Fremdbestimmung erkannt wird, motiviert dabei keinesfalls zur Emanzipation. Es bleibt lediglich bei einer letztlich indifferenten Kenntnisnahme des sexistischen Problems.
"Wenn man darüber nachdenkt, ist es irgendwie traurig, dass man keine eigene Sprache für seine eigene Perversion finden muss. Müssten wir das tun, eigene Worte suchen für unsere Lust, sie beschreiben oder sie überhaupt erst erkunden und empfinden, sähe unser Sex vielleicht anders aus. Aber weil alles schon da ist, müssen wir uns nicht mehr anstrengen und eignen uns wohl oder übel die Sprache an, die es schon gibt, während wir uns durch die Kategorien der gemütlichen Sexbubble klicken, die der Markt für uns vorbereitet hat."
Wenig überraschend ist daher, dass sich M.s sexuelle Dauerverfügbarkeit und Dauerpotenz schließlich karrieretechnisch auszahlt. Unverhofft erhält sie eine Einzelausstellung in einer renommierten Berliner Galerie. An ihrer künstlerischen Leistung liegt das wohl kaum. Ein paar diffuse Ideen spinnt M. eher antriebslos zu einer Performance zusammen, die am Ende gründlich misslingen wird. Auch ansonsten spaziert die junge Frau aus der saturierten süddeutschen Mittelschicht, in demonstrativ gelangweilter Pose durch ihre gentrifizierte Wahlheimat Neukölln.
M. wirkt dabei, als habe sie noch nicht einmal im Leben die gesellschaftlich privilegierte Stellung hinterfragt, in der sie sich eingerichtet hat. "Ich arbeite nicht mehr, als ich unbedingt muss, kaufe brandenburgisches Wurzelgemüse beim Aldi und fülle den dm-Nagellack in das Chanel-Fläschchen meiner Schwester. Allen, die mit ihren Steuern die Gehwege und das Prinzenbad bezahlen, bin ich total dankbar."
Zwar kann der Romantitel, gleichzeitig Name der Hauptfigur M. als Verweis auf Catherine Millets pornographischen Skandalroman "Das sexuelle Leben der Catherine M." gelesen werden. Ein Anschluss an die weibliche und erotische Literaturtradition wurde also versucht. Trotzdem hätte eine fundiertere Kenntnis dieses Kanons den Autorinnen einiges einfacher gemacht. Und ihr Sexbericht aus dem Kunstmilieu wäre vielleicht nicht zur fremdbestimmten und oberflächlichen Pose verpufft.
Geschlechtsakt wie ein Versuchsaufbau
Etwas geschickter ist da Corinna T. Sievers vorgegangen. Die 1965 geborene Autorin und Fachärztin für Kiefernorthopädie erzählt in ihrem neuen Roman "Vor der Flut" nicht weniger explizit. Ihre Hauptfigur Judith – 51-jährige Zahnärztin und Nymphomanin – schläft sich kreuz und quer durch die begrenzte Männerauswahl, die sie auf ihrer heimatlichen Nordseeinsel zu fassen bekommt. Doch in diesem Roman interessiert nicht nur der Akt an sich. Wie bei Gien und Stark nimmt auch Corinna T. Sievers Machtverhältnisse in den Blick, jedoch um einiges radikaler als ihre jüngeren Kolleginnen.
So erläutert die Autorin selbst: "In meiner Geschichte geht es eher um die Zerstörkraft von Sexualität in der Ehe, aber auch in Affären. Da beleuchte ich vor allem den Aspekt der Vorteilnahme. In meinem Buch benutzt eher Judith die Männer als umgekehrt, um sie anschließend hinterrücks zu erdolchen – im metaphorischen Sinne, so wie die biblische Judith es auch getan hat, die zuerst Holofernes verführt hat, um ihn dann im post-orgiastischen Schlag zu köpfen."
Doch Sex ist für Judith kein völlig selbstbestimmter und emanzipierender Akt. Permanent wird die Nymphomanin von ihrem Ehemann pathologisiert. Der ist pensionierter Psychoanalytiker, an Sex mit seiner Frau jedoch seit Jahrzehnten nicht mehr interessiert. Immer deutlicher zeigt sich im Laufe des Romans, dass Judiths Sexsucht nicht in ihr selbst begründet liegt, sondern auf ihren Ehemann zurückgeht. Dass damit am Ende doch wieder ein Mann, und letztlich der Gottvater der Psychoanalyse Siegmund Freud höchstpersönlich, das weibliche Verlangen motiviert, ist schade – aus emanzipatorischer Sicht.
Denn Judith verleiht ihrer sexuellen Gier in Sievers Roman eine ganz eigene Sprache. Den Geschlechtsakt beschreibt sie wie einen Versuchsaufbau, mit biologischer Präzision, zu der vielleicht nur eine ausgebildete Ärztin fähig ist. Nicht immer geht es ihr dabei um Erotik. Oft fasziniert ihre Hauptfigur eher der Ekel, der körperliche Mangel, diagnostiziert am eigenen Körper oder im Fleisch des gegenüber. Sievers findet dabei eine Erzählstimme, die wachsam wie frotzelnd immer wieder hinterfragt, welche Haltung und welche Wortwahl dem Thema angemessen sind.
"Ich bin, ausgesprochen gegen meine Gewohnheit, seit einer Woche ungefickt. Der Mangel ist existenziell, er lässt mich zusammenschrumpfen gleich einem Ballon, aus dem die Luft entweicht. Anstatt zu schweben, taumelt er zu Boden, die Haut tausend Runzeln, das defekte Ventil ist leicht auszumachen: meine Vagina. Einzig ein Stopfen verspricht Heilung. Ein Bild, das zu Recht lächerlich erscheint, in jeder Erzählung gibt es Fallstricke, unfreiwillige Komik beispielsweise, ohne Zweifel gehört der Stopfen dazu, dennoch: Es mangelt genau daran."
Nicht jeden selbst ausgelegten Fallstrick vermag Sievers in ihrem Roman zu umgehen. Einige Stilblüten werden hier eingesammelt. Und obschon sprachlich reflektiert, fallen Schreibweise und Konstruktion hinter die Radikalität ihres Erzählgegenstandes zurück. So steuert das alternde Ehepaar in morbid-apokalyptischem Setting wenig subtil auf die finale Katastrophe zu.
Fiktion, Realität, Illusion
Kaum überraschend, wenngleich vielfach deprimierender ist die Tatsache, dass einige Leser anscheinend nicht zwischen der Autorin und ihrer autofiktionalen Hauptfigur unterscheiden können. Einerseits Schriftstellerin unter dem Pseudonym Corinna T. Sievers, leitet dieselbe Person andererseits und unter anderem Namen eine Zahnarztpraxis am Zürichsee. Mitunter durchmischen sich diese beiden Berufssphären auf unangenehme Weise, wie die Autorin erzählt:
"Ich habe die verschiedenen Namen, wobei es da natürlich dann doch immer mal wieder Überschneidungen gibt und auch unaufgefordert Mails ins Praxispost landen, die auch zum Teil obszön sind, was meine Sekretärin dann aber taktvoll an mich weiterleitet. Wenn ich mal ein Buch neu herausgebe und das enthält etwas Anstößiges, dann habe ich schon festgestellt, dass bei den Neuanmeldungen, die ich statistisch erfasse, ein kleiner Knick ist. Und dieser kleine Knick hält meistens drei Monate an und dann haben die Leute schon vergessen. So gesehen würde ich behaupten, mein Geschäft leidet kaum."
Wer als Autorin über Sex schreibt, schreibt zwangsläufig auch über Macht. Dessen sind sich sowohl Anna Gien und Marlene Stark in "M" als auch Corinna T. Sievers in "Vor der Flut" bewusst. Jeder freizügige Text fragt aber auch nach den Anknüpfungen und Abgrenzungen von pornographischem Schund oder erotischer Avantgarde. Jeder erotische Text fragt nach einer angemessenen Sprache innerhalb seiner literarischen Gegenwart. Hier geht Corinna T. Sievers – womöglich altersweise erhaben – einen schonungslosen Schritt weiter, während die jüngeren Kolleginnen vor der Frage verharren.
Anna Gien/Marlene Stark: "M"
Matthes & Seitz, Berlin. 248 Seiten, 20 Euro.
Corinna T. Sievers: "Vor der Flut"
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main. 224 Seiten, 20 Euro.