Mit mehreren Veranstaltungen wird am Freitag in Berlin an den Mauerbau vor 60 Jahren erinnert. Am 13. August 1961 hatte der Bau der Berliner Mauer begonnen, der die deutsch-deutsche Teilung besiegelte. Das 155 Kilometer lange Bauwerk umschloss 28 Jahre lang den Westteil Berlins. Mit dem Mauerfall 1989 ging die Teilung zu Ende.
Für Linken-Politiker Gregor Gysi hat der Mauerbau am 13. August 1961 den Staatsozialismus deutlich beschädigt. "Deswegen käme eine Diktaturform für mich nie wieder in Frage. Deshalb habe ich von Anfang an einen demokratischen Sozialismus angestrebt, weil der Kapitalismus eben auch äußerst unangenehme Seiten hat", sagte Gysi im Deutschlandfunk.
Für Linken-Politiker Gregor Gysi hat der Mauerbau am 13. August 1961 den Staatsozialismus deutlich beschädigt. "Deswegen käme eine Diktaturform für mich nie wieder in Frage. Deshalb habe ich von Anfang an einen demokratischen Sozialismus angestrebt, weil der Kapitalismus eben auch äußerst unangenehme Seiten hat", sagte Gysi im Deutschlandfunk.
"Damals dachte ich: Die Mauer gibt es nur zwei Jahre, dann ist sie wieder weg. Später dachte ich: Sie wird nie wieder abgebaut. In beiden Fällen habe ich mich geirrt", sagte der Linken-Politiker mit Blick auf den Berliner Mauerbau vor 60 Jahren.
Die Diktatur der DDR habe sich nach Errichtung der Mauer nie mehr kritisch damit auseinandergesetzt. Allein in Berlin starben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen mindestens 140 Menschen durch das DDR-Grenzregime. Insgesamt waren an der innerdeutschen Grenze mindestens 260 Todesopfer zu beklagen. Die Mauer fiel 1989, womit die Teilung Deutschlands endete.
Die Mauer sei für ihn sowohl ein deutsches als auch ein sowjetisches Bauwerk gewesen, so Gysi. "Das war mir schon klar, ohne Genehmigung aus Moskau war das gar nicht drin, schon gar nicht in Berlin. So weit reichte mein Verstand schon mit 13. Aber mir war auch klar, dass die SED-Führung es genauso wollte wie die Führung in Moskau."
Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Herr Gysi, Sie sind Jahrgang 1948. Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an den 13. August _61 denken?
Gregor Gysi: Ich war damals 13 Jahre alt. Ich war in einer kleinen Stadt, die hieß Seehausen in der Altmark, und hörte davon und war natürlich sehr erstaunt.
Dann erinnere ich mich an zwei Dinge. Das eine war, dass es am nächsten Tag kein Brot gab. Fragen Sie mich nicht, warum. Am übernächsten gab es das wieder. Das zweite war, dass die Züge nicht mehr fuhren, so dass ich, muss ich zugeben, die Hoffnung hatte, den Schulbeginn zu versäumen, meine Ferien zu verlängern, aber das klappte nicht. Kurz bevor der Schulbeginn war fuhren die Züge wieder und dann musste ich zurück.
Das dritte, woran ich mich entsinne, als ich dann zurückkam: Das sah alles sehr militärisch aus in Ostberlin, Panzer überall etc. Das sind meine Erinnerungen. Dann habe ich damals gedacht, die Mauer gibt es nur höchstens zwei Jahre, dann ist sie wieder weg. Und später habe ich gedacht, die wird nie wieder abgebaut. In beiden Fällen habe ich mich geirrt.
Heinemann: War die Mauer damals für Sie ein deutsches oder ein sowjetisches Bauwerk?
Gysi: Sowohl als auch. Das war mir schon klar. Ohne Genehmigung aus Moskau war das gar nicht drin, und schon gar nicht in Berlin. Soweit reichte mein Verstand schon mit 13. Aber mir war natürlich auch klar, dass die SED-Führung es genauso wollte wie die Führung in Moskau.
Heinemann: Haben Sie sich in der DDR eingesperrt gefühlt?
Gysi: Na ja, in gewisser Hinsicht schon. Sehen Sie, ich war 40 Jahre - damals 13 -, bevor ich das erste Mal Richtung Westen fahren durfte. Es war schon beantragt, dass ich bei dem Kulturzentrum der DDR in Paris spreche für das Jahr 1987 - ist aber noch abgelehnt worden – und dann wieder für das Jahr 1988 und da ist es dann genehmigt worden.
Dann kam ich wieder und habe zur SED-Bezirksleitung, zu dem Leiter der Abteilung gesagt, das geht nicht. Man kann den Menschen nicht sagen, sie müssen 60 die Frauen und 65 Jahre die Männer werden, bevor sie das erste Mal in ihrem Leben Paris sehen können. Das geht einfach nicht! Das konnte ich nur deshalb sagen, weil ich wiedergekommen war.
Das heißt, da habe ich gemerkt, ich bin ein Stück freier, wenn ich einmal im Westen war und wiederkomme, weil ich dann Dinge sagen kann. Hätte ich das vor meiner Reise gesagt, hätten sie die mir nicht genehmigt. Aber danach konnte ich so etwas immerhin sagen.
Heinemann: Die meisten konnten das nicht. Wie hat sich dieses Gefühl des eingesperrt seins auf Ihr Verhältnis zum Sozialismus ausgewirkt?
Gysi: Ich war natürlich der Überzeugung, dass der Grundansatz der richtige ist, dass viele Maßnahmen aber auch falsch sind. Das habe ich ja bei meinen Strafverteidigungen gemerkt. Und dann war ich immer in der Hoffnung, dass sich das löst, dass das, was in 1968 in Prag versucht worden ist, irgendwann in Moskau beginnt.
Es war ja mein Mandant Bahro, der gesagt hat, wenn es in Moskau beginnt, ist es nicht zu stoppen. Da habe ich ihm gesagt, damit geben Sie mir aber auch eine ziemliche Ausrede, weil ich warten muss, bevor es in Moskau beginnt, und dann begann es in Moskau und das war der eigentliche Umschwung auch in der DDR-Bevölkerung.
1953 ist sie auf die Straße gegangen - erfolglos -, weil die sowjetischen Panzer gegen sie auffuhren. Aber nachher, 1988 und vor allen Dingen 1989, gingen sie auf die Straße, weil sie glaubten, Gorbatschow nicht gegen sich zu haben, sondern an ihrer Seite, und nur mit der SED-Führung könnten sie es aufnehmen.
"Eingeständnis, dass der Staatssozialismus der DDR nicht ausreichend attraktiv war"
Heinemann: Wenn, wie Sie gesagt haben, Herr Gysi, der Grundansatz richtig gewesen wäre, wieso musste sich der sozialistische Staat, der ja der bessere der beiden sein wollte, dann einmauern?
Gysi: Das war klar. 1961 passierten folgende Dinge. Das erste war, die Sowjetunion war überhaupt noch nicht bereit, eine Einflusssphäre aufzugeben. Sie gingen ja damals davon aus, dass die ihnen in Jalta zugebilligte Einflusssphäre Jugoslawien schon halbwegs verloren war, weil Tito sich sehr unabhängig entwickelte. Aber jetzt noch die DDR, den Teil Deutschlands aufzugeben, kam für sie nicht in Frage.
Das zweite war, dass es ein Essen gab - darf man auch nicht vergessen -, auch 1961, zwischen John F. Kennedy und Nikita Chrustschow. Da fragte Chrustschow Kennedy, wie er zu Berlin steht. Das war natürlich vorbereitet. Und da hatte er zwei Antwortmöglichkeiten. Die eine Antwortmöglichkeit wäre gewesen zu sagen, ganz Berlin muss unter Vier-Mächte-Status bleiben. Da war der Plan B vorgesehen, nämlich eine Mauer rund um Berlin zu bauen.
Und die zweite Variante bestand darin zu sagen, Westberlin muss frei bleiben. Das war dann die Genehmigung, die Mauer durch Berlin zu bauen.
Herr Kennedy hat letzteres gesagt, weil er wollte für die drei Westmächte Westberlin ganz haben und nicht immer alles mit der Sowjetunion teilen, dafür aber auch Ostberlin. Dieses Essen war natürlich entscheidend.
Das zweite war, dass Millionen die DDR verließen, immer in Richtung Bundesrepublik Deutschland, und damit wurde die Niederlage eingestanden, von der Sie gerade gesprochen haben.
Herr Kennedy hat letzteres gesagt, weil er wollte für die drei Westmächte Westberlin ganz haben und nicht immer alles mit der Sowjetunion teilen, dafür aber auch Ostberlin. Dieses Essen war natürlich entscheidend.
Das zweite war, dass Millionen die DDR verließen, immer in Richtung Bundesrepublik Deutschland, und damit wurde die Niederlage eingestanden, von der Sie gerade gesprochen haben.
Ich wollte gerne noch auf zwei Dinge hinweisen. Ich hatte Egon Bahr als Gast im Deutschen Theater und der hat mir gesagt, es tobte natürlich wirklich ein furchtbarer Kalter Krieg, und es war immer die Frage, wie kann man verhindern, dass der zu einem heißen wird. Das war die eine Frage und das zweite war, dass er mir sagte, natürlich waren wir Gegner.
Die DDR bildete hervorragende Ärztinnen und Ärzte und Ingenieurinnen und Ingenieure aus. Wir bezahlten besser und dann kamen sie zu uns. Das heißt, wir hatten nicht die Ausbildungskosten, die hatte die DDR, aber das Ergebnis landete bei uns.
Außerdem gab es sehr viele Subventionen in der DDR. Wasser musste man in Ostberlin gar nicht bezahlen. Gestützt wurde die Elektroenergie, aber auch die Mieten, die Lebensmittelpreise und vieles andere. Das heißt, es gab ja viele, die in Ostberlin lebten, aber in Westberlin arbeiteten. Das heißt, sie leisteten ökonomisch in Ostberlin nichts, aber nahmen trotzdem alle Subventionen in Anspruch.
Das sagte auch Egon Bahr und er sagte, der Mauerbau hat dazu geführt, dass er begriffen hat, Wandel durch Annäherung, denn jetzt konnten die Leute ja nicht mehr kommen, oder sie riskierten ihr Leben, worauf Sie ja hingewiesen haben. Deshalb hat dann Willy Brandt die Außenpolitik geändert, was ja dann auch zu Veränderungen in der DDR führte.
Trotzdem, Sie haben recht. Lassen Sie mich das sagen. Es war das Eingeständnis, dass der Staatssozialismus der DDR nicht ausreichend, weiß Gott nicht ausreichend attraktiv war.
Trotzdem, Sie haben recht. Lassen Sie mich das sagen. Es war das Eingeständnis, dass der Staatssozialismus der DDR nicht ausreichend, weiß Gott nicht ausreichend attraktiv war.
Heinemann: Ist eigentlich jede und jeder in Ihrer Partei bereit, das anzuerkennen?
Gysi: Ich kenne natürlich nicht alle Mitglieder meiner Partei, aber ich glaube, eine große Mehrheit. Sie dürfen auch nicht vergessen: Die ehemaligen SED-Mitglieder meiner Partei sind ja inzwischen die Minderheit.
Wir haben so viele Mitglieder aus den alten Bundesländern, die haben eine ganz andere Geschichte. Die sind viel jünger. Für die ist das eher eine historische Frage. Bei den alten mag es ein paar Ausnahmen geben, aber nicht viele. In Wirklichkeit haben alle begriffen, dass der Staatssozialismus nicht attraktiv war.
Inzwischen ist es natürlich so im Osten, dass viele Menschen auch sich wieder erinnern und sagen, na immerhin, das hatten wir, das hatten wir, aber ich kann Ihnen erklären, woran das liegt. Die Menschen denken nie über das nach, was sie haben, sondern immer über das, was ihnen fehlt.
Heinemann: Verständlicherweise. Hat der 13. August, Herr Gysi, 1961 den Sozialismus für immer in Verruf gebracht?
Gysi: Auf jeden Fall deutlich beschädigt, den Staatssozialismus. Deshalb käme eine Diktaturform für mich auch nie wieder in Frage. Deshalb habe ich von Anfang an für einen demokratischen Sozialismus gestrebt, weil der Kapitalismus auch äußerst unangenehme Seiten hat, wie wir das jetzt gerade bei seiner neoliberalen Prägung erleben. Dazu haben wir heute nicht die Zeit, dass ich Ihnen meine Vorstellungen vom demokratischen Sozialismus nenne, aber die Diktatur hat sich für mich immer erledigt.
Nur Sie dürfen auch nicht vergessen: Wenn Menschen in einer Struktur aufwachsen, gewöhnen sie sich an die Struktur und versuchen, dort zurechtzukommen so gut es geht.
"Die Hitler-Diktatur darf man mit der DDR nicht gleichsetzen"
Heinemann: Was antworten Sie denjenigen, die vielleicht auch in Ihrer Partei heute noch sagen, in der Diktatur sei doch nicht alles schlecht gewesen?
Gysi: Es ist nie immer alles schlecht und es ist nie immer alles gut.
Heinemann: Gilt das für alle deutschen Diktaturen?
Gysi: Nein, das ist der große Unterschied. Deshalb bin ich ja im Unterschied zu anderen der Auffassung, dass der Generalstaatsanwalt Bauer von Niedersachsen zurecht das Nazi-Regime einen Unrechtsstaat genannt hat und dass der Begriff zur DDR nicht passt. Eine Diktatur ja, aber Diktaturen sind auch unterschiedlich. Die von Hitler war die schlimmste in der Weltgeschichte und da darf man die DDR nicht mit gleichsetzen.
Heinemann: Das werden die Opfer anders sehen.
Gysi: Ja! Aber wissen Sie, es macht schon einen Unterschied, ob man sechs Millionen Menschen vergast oder ob auf solche Ideen niemand kommt.
Natürlich: Für den einzelnen ist das immer nicht der große Unterschied. Ich bin auch gefragt worden, ob es denn ein Tag der Befreiung war, der 8. Mai 1945, für eine Frau, die vergewaltigt worden ist im Zusammenhang mit dieser Befreiung. Da habe ich gesagt, natürlich nicht für sie, aber trotzdem: letztlich muss sie irgendwann begriffen haben, dass eine Fortsetzung des Hitler-Regimes noch viel schlimmer gewesen wäre, dass das auf gar keinen Fall ging.
Natürlich hängt die Sicht immer vom Einzelschicksal ab. Dafür plädiere ich auch als Anwalt. Sonst kann man ja individuell gar nicht verteidigen. Aber ich sage auch wiederum, die Gleichsetzung ist falsch und Diktaturen sind immer schlimm. Auch die von Pinochet war schlimm, aber auch die von Pinochet ist nicht mit der von Hitler zu vergleichen. Auf diese Unterschiede muss man eingehen.
Natürlich: Manches war sozialer. Es gab etwas mehr soziale Chancengleichheit beim Zugang zur Bildung. Leider gab es eine politische Ausgrenzung, aber nie eine soziale. Heute haben wir eine massenhaft soziale Ausgrenzung. Darüber könnten wir stundenlang sprechen, aber ich will diesen Vergleich gar nicht. Ich will die Bundesrepublik Deutschland demokratisieren, sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger machen - das ist für mich der Ansatz der Politik - und dabei meine Erfahrungen aus der DDR selbstverständlich verwerten.
Heinemann: Wenn es die DDR noch gäbe, wie würde das Regime mutmaßlich mit diesem 60. Jahrestag umgehen?
Gysi: Wahrscheinlich, wenn sie sich nicht geändert hätten, gäbe es wieder eine Parade, weil das ja so ein wichtiger Akt war, angeblich zur Rettung des Friedens etc. Vielleicht hatte es auch sogar ein bisschen was damit zu tun, aber es wäre für mich nie ein Grund gewesen.
Da erinnere ich immer an Rosa Luxemburg, die gesagt hat, vielleicht muss es ja 1917 in der Sowjetunion Einschränkungen geben, aber man darf sie nicht feiern. Man darf nicht sagen, das ist das, was wir wollen, sondern man muss sagen, es ist höchst bedauerlich, dass es Einschränkungen gibt, aber die sind vorübergehend aus diesen oder jenen Gründen erforderlich. Das ist auch das, was mich stört. Die kritische Sicht auf die Mauer hat gefehlt.
Und nachdem sie sie gebaut haben - wissen Sie, sie hätten ja wenigstens am nächsten Tag darüber nachdenken müssen, wie sie sie wieder los werden. Haben sie aber nicht.
Heinemann: Wenn es die DDR noch gäbe, wo wären Sie, Gregor Gysi, heute?
Gysi: Keine Ahnung. Das hängt davon ab, wie sie sich entwickelt hätte. Ich glaube, dass Gorbatschow nicht zu stoppen war. Gorbatschow hat geniale politische Reformen gemacht. Allerdings ist ihm für die Wirtschaft nichts eingefallen. Daran ist er gescheitert.
Die DDR war wirtschaftlich etwas besser als die Sowjetunion, aber sie war politisch nicht zu Reformen bereit. Daran ist sie gescheitert. Deshalb hat es jetzt auch keinen Sinn, dass wir darüber nachdenken, dass sie noch 30 Jahre existiert hätte. So wie sie war hätte sie nicht weiterexistieren können.
Heinemann: Wären Sie da geblieben? Das wäre meine Frage.
Gysi: Ich bin keiner, der abhaut. Ich war ja alleinerziehend für meinen Sohn. Ich beherrschte das Recht der DDR. Ich war da auch nicht unwichtig. Ich kannte auch Pfarrer, die gesagt haben, es gefällt uns hier gar nicht, aber wir bleiben für die Gläubigen. Da gibt es sehr unterschiedliche Einstellungen. Aber ich glaube, die DDR hätte sich verändert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.