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Erst Spion, dann Unperson

Rudolf Herrnstadt, im Westen eher unbekannt, war Journalist und Kommunist. Im Zweiten Weltkrieg spionierte er für die Sowjetunion, später in der DDR wurde er Chefredakteur der Zeitung "Neues Deutschland". Auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere wurde er "parteipolitischer Fraktionsbildung" bezichtigt und aus der SED ausgeschlossen. Seine Tochter Irina Liebmann hat ein Porträt geschrieben, Karl Wilhelm Fricke hat das Buch gelesen.

    Wer war Rudolf Herrnstadt? Ein großartiger Journalist. Ein gläubiger Kommunist. Ein unbeirrbarer Freund der Sowjetunion Stalins. Ein Geheimagent der sowjetischen Militäraufklärung. Moskau-Emigrant und ein führender Kader im Nationalkomitee Freies Deutschland. Chefredakteur im Berlin - das alles ist Rudolf Herrnstadt gewesen. Und zudem ein leidenschaftlicher Redner wie hier im Juli 1952 auf der Zweiten Parteikonferenz der SED:

    "Indem unsere Partei die Losung ausgibt: ’Übergang zum Aufbau des Sozialismus’, eröffnet sich auch für Berlin eine klare, leuchtende Perspektive. Und viele unserer Maßnahmen der jüngsten Vergangenheit, die scheinbar vereinzelt nebeneinander standen, rücken im Lichte dieser Perspektive an ihren historischen Platz. Ich gehe aus vom Aufbau an der Stalinallee, diesem Hebel, der mit besonderer Kraft und Schnelligkeit die beiden Teile Berlins aufeinander zu bewegt."

    Für Herrnstadt ist der von ihm nachdrücklich propagierte Aufbau der Stalinallee im Osten der damals geteilten Vier-Mächte-Metropole Berlin mehr als eine Frage städtischer Architektur. Dem Aufbau der heutigen Karl-Marx-Allee misst er eine politisch prinzipielle Bedeutung zu.

    "Aber, Genossinnen und Genossen, der Aufbau an der Stalinallee hat nicht nur eine städtebauliche Seite. Wenn die Berliner heute durch die Stalinallee gehen, dann weht ihnen ein ungewohnter Wind entgegen, und sie spüren, hier wachsen nicht nur die Mauern - die Mauern sind sogar das Geringere -, hier wächst eine neue Generation von Berlinern heran und mit ihnen ein neues Leben in Berlin."

    Ironie der Geschichte: Am 16. Juni 1953, ein knappes Jahr nach dieser Rede, nehmen die Streiks und Demonstrationen, die tags darauf zu einen dramatischen Aufstand in Ost-Berlin und wichtigen Industriezentren der DDR eskalieren, ihren Ausgang ausgerechnet in der Stalinallee.

    Und ausgerechnet Rudolf Herrnstadt wird im Kontext dieser Regimekrise als "Parteifeind" verfemt - zusammen mit Wilhelm Zaisser, dem ersten DDR-Staatssicherheitschef. Walter Ulbricht, damals Generalsekretär der SED, bezichtigt beide "parteifeindlicher Fraktionsbildung". Der Vorwurf, ebenso unsinnig wie haltlos, trifft zwei um die Partei äußerst verdiente Genossen und ist nur vor dem Hintergrund eines Machtkampfes in der Spitze der SED zu erklären.

    Irina Liebmann, 1943 in Moskau geboren, in der DDR aufgewachsen, Redakteurin, danach Schriftstellerin, legt ihr Buch gleichsam als literarische Rehabilitierungsschrift für Rudolf Herrnstadt an, als liebevolle, subtile, einfühlsame Rechtfertigung ihres Vaters, ohne ihn deshalb etwa gänzlich unkritisch zu sehen. Kenntnisreich eingeordnet in zeithistorische Zusammenhänge, erzählt sie gut recherchiert sein Leben in einer lebhaften, stilistisch eigenwilligen, fesselnden Sprache.

    Rudolf Herrnstadt kommt 1903 in Gleiwitz/Oberschlesien als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts zur Welt. Vier Jahrzehnte später werden beide Eltern in einem NS-Vernichtungslager ermordet. Seine journalistische Karriere beginnt Rudolf Herrnstadt 1928 beim bürgerlich-liberalen "Berliner Tageblatt". Er reüssiert bald - wird Auslandskorrespondent in Prag, in Moskau, in Warschau. Als er 1929, unter dem Eindruck der sozialen Kämpfe im Berlin der Weimarer Republik, Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands werden will, nötigen die Genossen ihn zum Verbleib bei der bürgerlichen Zeitung.

    "Ich bitte Sie, nicht auf der sofortigen Aufnahme zu bestehen. Sie können für uns nützlicher sein, wenn Sie keiner Zelle zugeteilt werden. Darüber gebe ich Ihnen Bescheid, sobald ich mit unserer politischen Instanz gesprochen habe."

    So zitiert Irina Liebmann, was ihr Vater über ein Gespräch im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, der Zentrale der KPD, in seinem Tagebuch notiert hat. Und so arbeitet Rudolf Herrnstadt seit 1930 - konspirativ abgedeckt als bürgerlicher Journalist - für die sowjetische Militäraufklärung, die Fünfte Abteilung beim Generalstab der Roten Armee. Auch Ilse Stöbe, seine damalige Lebensgefährtin, zuletzt im Auswärtigen Amt tätig, wird Spionin aus Überzeugung. Unter dem Decknamen "Alta" übermittelt sie hochkarätige Informationen nach Moskau. Sie stirbt, von der NS-Justiz zum Tode verurteilt, 1942 unter dem Fallbeil in Berlin-Plötzensee.

    Dass Rudolf Herrnstadt 1945 nach Berlin zurückkehrt, verdankt er einem sowjetischen Offizier, der ihn, den erfahrenen Journalisten, für eine Zeitung für die deutsche Bevölkerung vorsieht. Nach mehrjähriger Tätigkeit für die "Berliner Zeitung" wird er 1949 Chefredakteur des SED-Zentralorgans "Neues Deutschland".

    Als er 1950 Mitglied des Zentralkomitees und Kandidat des Politbüros wird, scheint seine Zukunft in der SED gesichert. Erst als Herrnstadt nach Stalins Tod behutsam Reformideen entwickelt, um die Partei aus der bürokratischen Sklerose zu befreien, tritt der jähe Karrierebruch ein. Ulbricht, in stalinistischen Intrigen erfahren, lässt ihn, abgesichert durch Schützenhilfe aus Moskau, aller Funktionen entbinden und setzt schließlich 1954 seine Entfernung aus der Partei durch.

    Der Parteifeind wird ins Staatsarchiv Merseburg abgeschoben. Mit seiner Frau, der russischen Germanistin Valentina, und den beiden Töchtern Irina und Nadja fristet Rudolf Herrnstadt hier ein frustrierendes Dasein. Auf eine offizielle Rehabilitierung Im Zuge der Moskauer Entstalinisierungspolitik wartet er vergebens. 1961 bietet ihm die Partei die Wiederaufnahme in ihre Reihen unter der Bedingung an, dass er Stillschweigen darüber bewahrt. Irina Liebmann:

    "Herrnstadt lehnte ab. Er war öffentlich verleumdet worden, und er wollte öffentlich rehabilitiert werden."

    So bleibt Herrnstadt in der DDR Unperson. Desillusioniert beginnt er kritisch über das kommunistische System nachzudenken.

    "Der Patriot Herrnstadt sieht keine Chance mehr für einen Sozialismus in Deutschland. Der Kommunist Herrnstadt ist überwältigt von den Verbrechen des Kommunismus. Dass es so viele sind und immer noch neue genannt werden. Das stimmt inzwischen gar nicht mehr hoffnungsvoll. Denn wie passt es zu der Idee, an die er immer noch glaubt? Und wo bleibt der Fortschritt?"

    Am 28. August 1966 stirbt Rudolf Herrnstadt.

    "Die Trauerfeier, bewacht von Staatssicherheitsleuten, viele unbekannte Gesichter, schweigend. Auch am Grab kein Genosse der SED, keine Zeitung, kein Schüler, kein Freund von früher und niemand aus der Sowjetunion."

    Durch Beschluss der Zentralen Parteikontrollkommission vom 29. November 1989 wird Rudolf Herrnstadt parteioffiziell rehabilitiert. 23 Jahre nach seinem Tode. Wer Irina Liebmanns unbedingt empfehlenswertes Buch über ihren Vater liest, legt es mit nachdenklicher Betroffenheit aus der Hand.


    Irina Liebmann: Wäre es schön? Es wäre schön!
    Mein Vater Rudolf Herrnstadt.

    Berlin Verlag, 2008

    288 Seiten, 19,90 Euro